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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ende der Illusionen: Rassismus in den USA

In einem kürz­lich aus­ge­strahl­ten BBC-Inter­view schockier­te Albert Wood­fox, der ein Buch über sei­ne 43 Jah­re wäh­ren­de Ein­zel­haft (»Soli­ta­ry«) im Loui­sia­na Sta­te Peniten­tia­ry vor­ge­legt hat­te, den für schar­fe Kri­tik bekann­ten Mode­ra­tor: Auf die Fra­ge, ob sich in der US-ame­ri­ka­ni­schen Wirk­lich­keit seit den sieb­zi­ger Jah­ren etwas geän­dert habe, ant­wor­te­te Wood­fox: Nein, nichts habe sich geän­dert, er spü­re den glei­chen Ras­sis­mus wie frü­her. Irgend­wel­che Geset­ze, auch ein Prä­si­dent Oba­ma änder­ten dar­an nichts. Und der für die angeb­li­che, nie­mals schlüs­sig erwie­se­ne Ermor­dung eines Gefäng­nis­wär­ters ver­ur­teil­te und nach einem lan­gen Rechts­streit frei­ge­kom­me­ne Wood­fox schockier­te den gut­gläu­bi­gen BBC-Jour­na­li­sten noch mit einer wei­te­ren Aus­sa­ge: Er bedaue­re die ver­lo­re­ne Lebens­zeit nicht, denn nur im Gefäng­nis habe er die Chan­ce gehabt, Jura zu stu­die­ren, sich zu bil­den (»to edu­ca­te mys­elf«), Bücher zu lesen, ande­ren Gefäng­nis­in­sas­sen bei ihren Pro­zes­sen zu hel­fen. »Drau­ßen wäre das nicht mög­lich gewe­sen.« Sei­ne bril­lan­te Auto­bio­gra­phie ist das Doku­ment eines gera­de­zu heroi­schen men­ta­len Wider­stands und zudem eine ein­zig­ar­ti­ge Infor­ma­ti­ons­quel­le über die Lebens- und Haft­be­din­gun­gen im Süden der USA. Der Zeit­raum, den das Buch abdeckt, sind die fünf Jahr­zehn­te nach der Bür­ger­rechts­be­we­gung der sech­zi­ger Jah­re und deren Erfol­gen unter den Prä­si­den­ten John F. Ken­ne­dy und Lyn­don B. Johnson.

Auch für eine gro­ße Mehr­heit der wei­ßen Ame­ri­ka­ner ist schwer zu ver­ste­hen, dass es in nahe­zu zwei Gene­ra­tio­nen kei­ner­lei Fort­schritt gege­ben haben soll. Tat­säch­lich hat­ten auch sie gewis­se Erwar­tun­gen an den Civil Rights Act von 1964 geknüpft. Nach der Skla­ven­be­frei­ung mehr als hun­dert Jah­re zuvor war, wenn auch mit enor­mer Ver­spä­tung, der näch­ste Schritt getan. In der Fol­ge schie­nen die sozia­len Fort­schrit­te spür­bar, wenn auch nur an der Ober­flä­che: Schwar­ze tra­ten als Stars in Fern­seh­se­ri­en auf, in vie­len Sport­ar­ten domi­nier­ten sie ohne­hin, und wich­ti­ger: Vie­le Städ­te hat­ten schwar­ze Bür­ger­mei­ster, wie etwa Atlan­ta, Los Ange­les, Washing­ton, eini­ge wur­den Hoch­schul­prä­si­den­ten selbst an Orten, an denen sich frü­her aus­drück­lich nur die wei­ße Eli­te rekru­tier­te. Eine schwar­ze Mit­tel­klas­se schien sich zu bil­den. Vor allem die libe­ra­le Eli­te an den pri­va­ten und staat­li­chen Uni­ver­si­tä­ten gab sich opti­mi­stisch. Schwar­ze Stu­den­tin­nen und Stu­den­ten wur­den auf­ge­nom­men, wenn­gleich sich deren Zahl in Gren­zen hielt. Jah­re­lang enga­gier­te man sich in »affir­ma­ti­ve action«-Programmen, die auch die Gleich­be­rech­ti­gung von Frau­en aktiv vor­an­trei­ben soll­ten (und dies auch erreich­ten). Fast über­all wur­den Black-Stu­dies-Pro­gram­me ein­ge­rich­tet, die aller­dings, den Gren­zen der Iden­ti­täts­po­li­tik ent­spre­chend, kei­ne über­grei­fen­de Wir­kung zeig­ten. Doch für vie­le Libe­ra­le war damit eini­ges erreicht, der Fort­schritt schien unauf­halt­sam. Der Über­win­dung des Ras­sis­mus an den Hoch­schu­len wür­de lang­fri­stig auch des­sen Über­win­dung in der Gesamt­ge­sell­schaft fol­gen. Die­se libe­ra­le Illu­si­on hat­te auch der Bür­ger­rechts­kämp­fer Mar­tin Luther King geteilt, des­sen legen­dä­rer »Traum« in den Gol­de­nen Jah­ren des unge­brem­sten Booms der Sech­zi­ger kei­nes­wegs uto­pisch, son­dern durch­aus rea­li­sier­bar schien. Der wirt­schaft­li­che Kuchen war groß genug für alle, war­um soll­ten die Schwar­zen aus­ge­schlos­sen sein?

Doch gleich­zei­tig waren die Behar­rungs­kräf­te nicht zu über­se­hen. Auch in den Acht­zi­gern war die Segre­ga­ti­on offen­sicht­lich, bei Ban­ket­ten an berühm­ten Uni­ver­si­tä­ten des Südens (wie der Van­der­bilt Uni­ver­si­ty) fand sich unter den gela­de­nen Gästen meist kein Schwar­zer, die Bedie­nen­den waren alle schwarz. Und noch vor kur­zem fie­len man­che Libe­ra­le aus allen Wol­ken, wenn sie, wie mei­ne Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen in Los Ange­les, von pau­sen­lo­sen Über­grif­fen oder der wei­ten Ver­brei­tung ras­si­sti­schen Voka­bu­lars auf ihrem eige­nen Cam­pus hör­ten. In den Men­sen blie­ben die schwar­zen Stu­den­tin­nen und Stu­den­ten unter sich, ihre Iso­lie­rung war nicht zu über­se­hen. Für vie­le war der men­ta­le Druck gera­de­zu uner­träg­lich, Selbst­mor­de waren kei­ne Sel­ten­heit. Außer­halb der Uni­ver­si­tä­ten hat­te sich für die gro­ße Mehr­heit der schwar­zen Bevöl­ke­rung nicht viel geän­dert. Die mei­sten Geset­ze stan­den ledig­lich auf dem Papier – selbst der Zugang zu Wah­len muss­te und muss wei­ter­hin erkämpft wer­den. Libe­ra­le igno­rier­ten die har­sche Rea­li­tät der Ghet­tos und der ins Gigan­ti­sche wach­sen­den Gefäng­nis­se, in denen mehr schwar­ze Jugend­li­che lan­de­ten als an den Hoch­schu­len. Die Wohn­be­din­gun­gen und Schul­ver­hält­nis­se hat­ten sich kaum geän­dert, wes­halb es schwie­rig blieb, die Anzahl schwar­zer Stu­den­ten zu stei­gern. Durch Pro­gram­me wie Black Stu­dies ließ sich die gegen­sei­ti­ge Fremd­heit nicht über­win­den. Eine gemein­sa­me Basis für poli­tisch-ethi­sche Prin­zi­pi­en kam so nicht ein­mal im aka­de­mi­schen Bereich zustande.

Der Ras­sis­mus in den USA ist – wie anders­wo auch – tief ver­an­kert. Es ist kei­nes­wegs nur eine Art Vor­ur­teil, das man mit ein wenig Ein­sicht, durch Erzie­hung oder ein posi­ti­ves Umfeld über­win­den kann. Da in den öko­no­mi­schen und sozia­len Ver­hält­nis­sen ver­wur­zelt, ist er struk­tu­rell (nicht nur insti­tu­tio­nell). Die Abschaf­fung der Skla­ve­rei hat nicht dafür gesorgt, dass sich das Ver­hält­nis der ver­schie­de­nen Schich­ten der Gesell­schaf­ten, nament­lich das zwi­schen armen Wei­ßen und armen, in die Frei­heit ent­las­se­nen ehe­ma­li­gen schwar­zen Skla­ven ver­än­dert hät­te. Letz­te­re konn­ten sich auf­grund schlech­ter Vor­be­din­gun­gen allen­falls in den schlecht­be­zahl­ten Jobs hal­ten. Wei­ße hat­ten dage­gen bes­se­re Chan­cen und konn­ten ihr Zusam­men­ge­hö­rig­keits­ge­fühl und ihre sozia­le Domi­nanz stär­ken. So betrach­tet, ist der Ras­sis­mus eine Art Blitz­ab­lei­ter für das Pro­blem der Ungleich­heit, unter dem auch die wei­ßen Unter­schich­ten lit­ten und lei­den. Ent­schei­dend ist somit das Ver­hält­nis der gesell­schaft­li­chen Grup­pen zuein­an­der. Auf die­se Zusam­men­hän­ge haben Theo­re­ti­ker wie W. E. B. Du Bois, Max Weber und Sig­mund Freud schon vor gut hun­dert Jah­ren hin­ge­wie­sen. So spricht etwa Max Weber davon, dass die »sozia­le Ehre der Wei­ßen« an der Deklas­sie­rung der Schwar­zen hänge.

Wenn der Druck zu groß wird, kommt es zu regel­rech­ten Erd­be­ben. In den USA ent­zün­de­ten sich die sozia­len Gegen­sät­ze an der Gewalt­an­wen­dung der Poli­zei. Fast immer vor­wie­gend weiß und an den »Law-and-Order«-Maximen oppor­tu­ni­sti­scher Poli­ti­ker ori­en­tiert, setzt sie Gewalt gegen eine Bevöl­ke­rungs­schicht ein, die auf­grund ihres öko­no­mi­schen Sta­tus als labil und gleich­zei­tig, vor allem was die männ­li­che Bevöl­ke­rung betrifft, aggres­siv erscheint. Die Bewe­gung Black Lives Mat­ter hat hier vor etwa fünf Jah­ren ange­setzt und die unhalt­ba­ren Zustän­de ins Blick­feld gerückt. Mitt­ler­wei­le hat sie das gan­ze Land erfasst. Dabei ist höchst bemer­kens­wert, dass sich immer mehr Wei­ße, vor allem jun­ge Wei­ße, soli­da­ri­sie­ren, auch und gera­de an den Hoch­schu­len des Lan­des. Die­se Soli­da­ri­tät könn­te ein Anzei­chen für einen neu­en Basis­kon­sens sein, dem­zu­fol­ge wei­ße und schwar­ze Grup­pen auf gemein­sam einer Neu­aus­rich­tung einer Insti­tu­ti­on wie der Poli­zei bestehen. Auch die Coro­na-Kri­se sowie die dar­aus fol­gen­de öko­no­mi­sche Kri­se haben bewusst­seins­ver­än­dernd gewirkt, denn über­durch­schnitt­lich betrof­fen ist wie­der ein­mal die schwar­ze Bevöl­ke­rung, die unter mie­ser Gesund­heits­ver­sor­gung und schlech­ten Wohn­be­din­gun­gen lei­det und deren pre­kä­re Jobs – wie die­je­ni­gen vie­ler Jugend­li­cher – als erste ver­schwin­den. Über die Erfolgs­aus­sich­ten der neu­en Bewe­gung lässt sich nur spe­ku­lie­ren. Viel hängt davon ab, ob sich ande­re Orga­ni­sa­tio­nen anschlie­ßen und ob die zu erwar­ten­de Pola­ri­sie­rungs­tak­tik der Regie­rung unter­lau­fen wer­den kann. Wirk­li­che Erfol­ge wer­den sich ohne­hin nur lang­fri­stig ein­stel­len. Doch so schwie­rig eine nach­hal­ti­ge Über­win­dung des Ras­sis­mus ist: Erkennt man wenig­stens die gesell­schaft­li­chen Bedin­gun­gen für des­sen fort­wäh­ren­de Exi­stenz, ist ein erster Schritt zur Ver­än­de­rung getan.