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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Erinnerung an eine Zukunft

Jonas Chri­sto­pher Höp­ken Erin­ne­rung an eine Zukunft

 

Hat irgend­je­mand eine posi­ti­ve poli­ti­sche Visi­on für den Novem­ber 2045? Glaubt jemand, dass die Welt in 25 Jah­ren bes­ser aus­se­hen könn­te als heu­te? Oder ist nicht fast jeder davon über­zeugt, dass dann alles noch schlim­mer sein wird? Das Kli­ma, die inter­na­tio­na­le Ord­nung, die sozia­le Stabilität?

Für die Ent­wick­lung von Demo­kra­tie ist eine sol­che Nega­tiv­sicht ver­hee­rend. Der poli­ti­sche Wett­be­werb im demo­kra­ti­schen Gemein­we­sen lebt von alter­na­ti­ven poli­ti­schen Visio­nen und Kon­zep­tio­nen, die eine Per­spek­ti­ve geben, eine mög­li­che posi­ti­ve Zukunft aufweisen.

Gehen wir doch mal umge­kehrt 25 Jah­re zurück – in den Novem­ber 1995. Gab es da eine posi­ti­ve poli­ti­sche Visi­on – viel­leicht bis in den Novem­ber 2020 hineinreichend?

Wir schrei­ben den 15. Novem­ber 1995. In Mann­heim reg­net es. Ein SPD-Par­tei­tag fin­det statt, an den kei­ne grö­ße­ren Erwar­tun­gen geknüpft wer­den. Rudolf Schar­ping will als Par­tei­vor­sit­zen­der wie­der­ge­wählt wer­den, um in drei Jah­ren ein zwei­tes Mal als Kanz­ler­kan­di­dat gegen Kohl anzu­tre­ten – und wahr­schein­lich wie­der zu ver­lie­ren. Das Inter­net gibt es schon; sehr prä­sent ist es im Par­tei­tags­saal aber noch nicht. Auch Han­dys sieht man kaum; nur Exo­ten haben schon eins. Aber es soll ein Leit­an­trag ver­ab­schie­det wer­den – ein poli­ti­sches Kon­zept für die Zukunft.

Der Vor­sit­zen­de der Antrags­kom­mis­si­on geht ans Red­ner­pult: Oskar Lafon­taine, als guter Red­ner bekannt. Gleich­wohl prägt zunächst noch Gemur­mel den Saal. Lang­sam wird es ruhi­ger. Nach einem Rede­de­sa­ster von Rudolf Schar­ping am Vor­tag hof­fen die Dele­gier­ten auf Besseres.

Der Red­ner kün­digt an, zur Wirt­schafts- und Beschäf­ti­gungs­po­li­tik, zur geplan­ten Euro­päi­schen Wäh­rungs­uni­on sowie zur Außen­po­li­tik zu reden. Er spricht sich für eine nach­fra­ge­ori­en­tier­te Poli­tik und für Arbeits­zeit­ver­kür­zung aus, was zunächst wenig über­ra­schend, aber ein kla­res Gegen­kon­zept zur domi­nie­ren­den ange­bots­ori­en­tier­ten Sicht­wei­se ist. Rasch wird deut­lich, dass über die klas­si­schen sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Grund­satz­for­de­run­gen hin­aus im Zen­trum der Rede alter­na­ti­ve Kon­zep­te stehen.

25 Jah­re spä­ter muss man sagen: Die zen­tra­len Vor­schlä­ge, die der Par­tei­tag beju­bel­te, wur­den spä­ter nicht umge­setzt, obwohl es Gele­gen­heit dazu gege­ben hät­te. Wie sähe die Welt heu­te aus, hät­te man das Kon­zept der Mann­hei­mer Rede rea­le Poli­tik wer­den las­sen? Schau­en wir uns die Aus­sa­gen im Ein­zel­nen an:

Lafon­taine beklagt die beträcht­li­che Umver­tei­lung, das dra­ma­ti­sche Absin­ken der Lohn­quo­te sowie den deut­li­chen Anstieg der Gewinn­quo­te in Deutsch­land, zu dem die inter­es­sen­ge­lei­te­te Stand­ort­de­bat­te geführt habe, und plä­diert für eine pro­duk­ti­vi­täts­ori­en­tier­te Lohn­po­li­tik. Das hier benann­te Pro­blem einer Spi­ra­le von Lohn­zu­rück­hal­tung und Han­dels­über­schuss, die zu einem unge­rech­ten Export von Arbeits­lo­sig­keit in ande­re EU-Staa­ten führt, ver­stärk­te sich in den fol­gen­den Jah­ren und Jahr­zehn­ten und führ­te zu den mas­si­ven Ungleich­ge­wich­ten inner­halb der Euro­päi­schen Uni­on, die ent­schei­dend mit zur Euro-Kri­se geführt haben. Eine sol­che Ent­wick­lung wäre ver­meid­bar gewe­sen, hät­te sich die wirt­schafts­po­li­ti­sche Argu­men­ta­ti­on aus Mann­heim durchgesetzt.

Die­ses The­ma bet­tet der saar­län­di­sche Mini­ster­prä­si­dent in den Gesamt­zu­sam­men­hang der euro­päi­schen Wirt­schafts­po­li­tik ein, die nur auf mikro­öko­no­mi­sche Fak­to­ren abzie­le und die makro­öko­no­mi­schen Fak­to­ren ver­nach­läs­si­ge: »Wirt­schaft fin­det heu­te bei bestimm­ten Wech­sel­kur­sen, bei bestimm­ten Zin­sen und bei bestimm­ter Lohn­hö­he statt. Nur wer das Zusam­men­wir­ken die­ser drei Fak­to­ren erkennt – ich rufe die Par­tei auf, sich die­sen Ansatz zu eigen zu machen und ihn noch stär­ker in die prak­ti­sche Poli­tik ein­zu­brin­gen! –, wird zu mehr Beschäf­ti­gung bei­tra­gen kön­nen.« Das kla­re Plä­doy­er ver­hallt in der EU lei­der unge­hört – und als der Bun­des­fi­nanz­mi­ni­ster es 1999 umset­zen will, schlägt ihm geball­ter Wider­stand ent­ge­gen, was sich spä­ter bit­ter rächen wird.

Lafon­taine warnt näm­lich schon 1995 in Mann­heim vor einer falsch kon­stru­ier­ten euro­päi­schen Wäh­rungs­uni­on. Er bekennt sich klar zur euro­päi­schen Eini­gung (»Jeder Zun­gen­schlag, wir wür­den uns von Euro­pa ver­ab­schie­den, ist falsch; wir blei­ben die Euro­pa­par­tei Deutsch­lands!«), bezeich­net es aber als »Feh­ler, die Wäh­rungs­uni­on nicht stär­ker als bis­her mit der poli­ti­schen Uni­on Euro­pas zu ver­bin­den«. Die Wäh­rungs­uni­on kön­ne nicht funk­tio­nie­ren, »wenn die Wirt­schafts­po­li­ti­ken der teil­neh­men­den Staa­ten nicht auf­ein­an­der abge­stimmt sind«, und Lafon­taine sagt vor­aus: »Dann dient die Wäh­rungs­uni­on nicht der euro­päi­schen Eini­gung, son­dern dann ist sie eher ein Rohr­kre­pie­rer für die euro­päi­sche Eini­gung, und das dür­fen wir nicht wol­len.« Er schlägt vor, die nicht an der Wäh­rungs­uni­on teil­neh­men­den Staa­ten wie­der am euro­päi­schen Wäh­rungs­sy­stem mit gerin­gen Band­brei­ten zu betei­li­gen, um einen Abwer­tungs­wett­be­werb zu ver­mei­den. Um das Pro­blem deut­lich zu machen, weist er auf die Auf­wer­tung der D-Mark gegen­über Pfund, Franc und Lira hin und erläu­tert: »Ich wage mir nicht aus­zu­ma­len, lie­be Genos­sin­nen und Genos­sen, was pas­siert wäre, wenn bei die­ser öko­no­mi­schen Ent­wick­lung die Lira bei­spiels­wei­se nicht die Mög­lich­keit gehabt hät­te, wäh­rungs­mä­ßig zu reagie­ren.« Heu­te, 2020, wis­sen wir es!

Hier sagt Lafon­taine gera­de­zu pro­phe­tisch die mas­si­ven Pro­ble­me des Euros vor­aus, die uns heu­te beschäf­ti­gen, und erklärt genau, wie sie zu ver­hin­dern gewe­sen wären. Hät­te man sei­ne Vor­schlä­ge umge­setzt, wäre es zur Euro-Kri­se mit den ver­hee­ren­den Fol­gen für die euro­päi­sche Sta­bi­li­tät so nicht gekom­men – neben­bei wohl auch nicht zur Grün­dung der AfD.

Lafon­taine spricht sich für eine stär­ke­re Kon­zen­tra­ti­on auf For­schungs­po­li­tik und die För­de­rung von Inno­va­tio­nen aus, bezeich­net es als »wich­tig, dass wir Sozi­al­de­mo­kra­ten in das Zen­trum unse­rer Wirt­schafts­po­li­tik nicht den Kosten­sen­kungs­wett­lauf, son­dern die Ent­wick­lung neu­er Pro­duk­te und neu­er Ver­fah­ren stel­len«, und for­mu­liert als Ziel­set­zung, »die Brücke in das Solar­zeit­al­ter zu bau­en. Die Pho­to­vol­ta­ik ist das Pro­dukt, das wir welt­weit zum füh­ren­den Export­ar­ti­kel unse­rer Indu­strie­na­ti­on machen wol­len!« Auch hier: Hät­te man nur auf ihn gehört! Von einer füh­ren­den Rol­le in der Ent­wick­lung der Pho­to­vol­ta­ik ist Deutsch­land heu­te weit ent­fernt. Aktu­ell ver­schläft die hie­si­ge Auto­in­du­strie den Über­gang ins Was­ser­stoff­zeit­al­ter. Lau­ter trau­ri­ge Kapi­tel der Indu­strie­po­li­tik in Deutsch­land, die nicht hät­ten auf­ge­schla­gen wer­den müs­sen, wenn man Lafon­tai­nes Vor­schlä­ge von 1995 umge­setzt hätte.

Der Vor­sit­zen­de der Antrags­kom­mis­si­on spricht sich im Fol­gen­den dage­gen aus, Arbeit­neh­me­rin­nen und Arbeit­neh­mer – er betont vor allem die dadurch ent­ste­hen­de Benach­tei­li­gung von Frau­en – aus der Sozi­al­ver­si­che­rungs­pflicht her­aus­zu­drän­gen, und warnt vor einer »Fehl­ent­wick­lung« hin zu einem Nied­rig­lohn­sek­tor. Genau den hat die rot-grü­ne Bun­des­re­gie­rung spä­ter im Rah­men der Hartz-Refor­men und der Agen­da 2010 geschaf­fen – mit nega­ti­ven Fol­gen für das sozia­le Kli­ma – ent­schei­dend für den dar­auf­fol­gen­den Bedeu­tungs­ver­lust der SPD und die damit ver­bun­de­ne heu­ti­ge Kri­se der Demokratie.

Als letz­ten gro­ßen Punkt the­ma­ti­siert der Red­ner die außen­po­li­ti­sche Debat­te, die damals geprägt war durch die Dis­kus­si­on um den Kampf­ein­satz von Tor­na­dos. Lafon­taine plä­diert dafür, sich statt­des­sen auf Wil­ly Brandt und Hel­mut Schmidt zu besin­nen: »Wo kom­men wir denn hin, wenn die Par­tei, die die Ent­span­nungs­po­li­tik und den KSZE-Pro­zess vor­an­ge­trie­ben hat, jetzt ihre außen­po­li­ti­sche Debat­te auf einen Flug­zeug­typ redu­ziert? Wo kom­men wir denn da hin?« Er wirbt für ein Fest­hal­ten an der Freund­schaft zu Frank­reich – die heu­te längst nicht mehr so selbst­ver­ständ­lich ist wie noch 1995. Mit glei­cher Vehe­menz plä­diert er für ein gutes Ver­hält­nis zu Russ­land und dafür, »jetzt eine neue Sicher­heits­ar­chi­tek­tur in Euro­pa unter Ein­schluss Russ­lands zu bewerk­stel­li­gen. Das ist die gro­ße Zukunfts­auf­ga­be, der wir uns wid­men müs­sen, lie­be Genos­sin­nen und Genossen!«

1995 wäre es in der Tat noch rea­li­stisch und mög­lich gewe­sen, eine sol­che gesamt­eu­ro­päi­sche Frie­dens­ord­nung auf den Weg zu brin­gen, statt gegen­über Russ­land den Pfad der Kon­fron­ta­ti­on und Pro­vo­ka­ti­on ein­zu­schla­gen. Es liegt nicht nur, aber zu einem erheb­li­chen Teil an der unsen­si­blen und rück­sichts­lo­sen Poli­tik der NATO-Ost­erwei­te­rung, die zur heu­ti­gen pre­kä­ren welt­po­li­ti­schen Situa­ti­on des neu­en kal­ten Krie­ges geführt hat.

Im wei­te­ren Ver­lauf kri­ti­siert Lafon­taine den auch durch die deut­sche Aner­ken­nungs­po­li­tik geför­der­ten Kurs des Natio­na­lis­mus im Bal­kan und ver­bin­det dies mit sei­ner außen­po­li­ti­schen Visi­on einer auf Frei­heit und Gleich­heit beru­hen­den Welt­ge­sell­schaft: »Es ist eine Fehl­ent­wick­lung, wenn, wie in Jugo­sla­wi­en, Teil­staa­ten auf völ­ki­scher Grund­la­ge kre­iert wer­den. Das ver­trägt sich nicht mit euro­päi­scher Eini­gung und der Welt­ge­sell­schaft der Frei­en und Glei­chen! Nein, das ver­trägt sich nicht! Unser sozi­al­de­mo­kra­ti­sches Kon­zept, das immer Gren­zen über­win­den woll­te und das immer von dem Modell der Auf­klä­rung, der Welt­ge­sell­schaft der Frei­en und Glei­chen aus­ging, muss auf eine grenz­über­schrei­ten­de Zusam­men­ar­beit hin­ar­bei­ten. Es muss die Gleich­heit – jawohl, die Gleich­heit der Men­schen, ihr glei­ches Glück! – anstre­ben und darf nie­mals nach Ras­sen, Reli­gio­nen und nach wel­chen Kri­te­ri­en auch immer tren­nen. Dies ist ein schwe­rer kon­zep­tio­nel­ler Feh­ler der Jugo­sla­wi­en­po­li­tik der Bun­des­re­gie­rung!« Vier Jah­re spä­ter kam es zum völ­ker­rechts­wid­ri­gen NATO-Krieg unter maß­geb­li­cher Betei­li­gung der Regie­rung Schröder.

Von einer inter­na­tio­na­li­sti­schen Ziel­vor­stel­lung aus­ge­hend, spricht Lafon­taine sich im Fol­gen­den nach­drück­lich für eine gewalt­freie Außen­po­li­tik, für die Befrei­ung der Welt von der ato­ma­ren Bedro­hung und die Ableh­nung von Nukle­ar­waf­fen aus. Lei­den­schaft­lich ist sein Plä­doy­er für eine Poli­tik der mili­tä­ri­schen Zurück­hal­tung Deutsch­lands: »Des­halb sind Paro­len wie: ›Wir müs­sen her­un­ter von den Zuschau­er­bän­ken!‹ eine Belei­di­gung vie­ler Frau­en und Män­ner, die in den letz­ten Jah­ren Poli­tik gemacht haben! Saß denn Wil­ly Brandt auf der Zuschau­er­bank, saß Hel­mut Schmidt auf der Zuschau­er­bank? Haben wir nicht Ver­ant­wor­tung für die Welt über­nom­men mit unse­ren Vor­schlä­gen zur Ent­span­nungs­po­li­tik und zum KSZE-Pro­zess? War das nur Zuschau­en […]?« Der Noch-Nicht-SPD-Vor­sit­zen­de appel­liert an das sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Selbst­be­wusst­sein, um davon aus­ge­hend zu der kla­ren Aus­sa­ge zu kom­men: »Wir wol­len Frie­dens­macht blei­ben! Wir sind bereit, beim Auf­bau und bei der Frie­dens­si­che­rung zu hel­fen. Aber wir sind zurück­hal­tend, wenn es um mili­tä­ri­sche Kampf­ein­sät­ze geht! Und so soll es bleiben!«

Man stel­le sich vor, Deutsch­land wäre die­sen Weg gegan­gen – was wäre uns alles an schlim­mem Elend erspart geblie­ben? Deutsch­land hät­te sich nicht am völ­ker­rechts­wid­ri­gen Jugo­sla­wi­en-Krieg betei­ligt, wäre nicht ver­strickt in den sinn­lo­sen Afgha­ni­stan-Ein­satz, son­dern hät­te Vor­bild­cha­rak­ter als Nati­on, die sich nicht mili­tä­risch, son­dern huma­ni­tär hervortut.

In was für einer Gesell­schaft wür­den wir heu­te leben, wenn Lafon­tai­nes Vor­schlä­ge aus sei­ner Mann­hei­mer Rede umge­setzt wor­den wären? Was für eine alter­na­ti­ve Ent­wick­lung hät­te die Sozi­al­de­mo­kra­tie neh­men kön­nen, wenn sie die Inhal­te der Rede nicht nur 1995 beju­belt, son­dern sich hin­ter­her in ihrem kon­kre­ten Han­deln zu eigen gemacht hät­te? Die Fra­gen sind hypo­the­tisch, denn die Kräf­te­ver­hält­nis­se auf natio­na­ler und inter­na­tio­na­ler Ebe­ne waren nun mal ande­re – das lag nicht nur an Ger­hard Schrö­der, des­sen Haupt­merk­mal es war, sich den jewei­li­gen Kräf­te­ver­hält­nis­sen anzupassen.

Aber trotz­dem: Was wäre, wenn die Wor­te der Mann­hei­mer Rede Fleisch gewor­den wären? Sechs exem­pla­ri­sche Punkte:

Erstens: Das heu­ti­ge Deutsch­land stän­de an vor­der­ster Stel­le für den sola­ren Umbau; dadurch wäre die Ener­gie­wen­de in Euro­pa ungleich stär­ker vorangekommen.

Zwei­tens: Dem Land und zum gro­ßen Teil auch dem Kon­ti­nent wäre viel an neo­li­be­ra­ler Poli­tik erspart geblie­ben. Es gin­ge öko­no­misch ver­nünf­ti­ger und sozi­al gerech­ter zu: Statt durch einen Nied­rig­lohn­sek­tor wäre das Gemein­we­sen heu­te durch nach­fra­ge­ori­en­tier­te Poli­tik und eine gerech­te Ver­tei­lung der Arbeit geprägt. Die Gesell­schaft wäre weni­ger gespalten.

Drit­tens: Euro­pa wäre sta­bi­ler, der Euro in einer bes­se­ren Ver­fas­sung, das Ver­trau­en inner­halb Euro­pas zu Deutsch­land grö­ßer, der Zusam­men­halt inner­halb der EU stär­ker. Wahr­schein­lich wäre es auf die­ser Basis mög­lich gewor­den, zu einer gemein­sa­men huma­ni­tä­ren Flücht­lings­po­li­tik zu kommen.

Vier­tens: Das Ver­hält­nis des Westens zu Russ­land wäre ein bes­se­res; es hät­te ent­schei­den­de Schrit­te hin zu einer gesamt­eu­ro­päi­schen Frie­dens­ord­nung unter Ein­schluss des Groß­staa­tes gegeben.

Fünf­tens: Dem Kon­ti­nent wären sinn­lo­se Mili­tär­ein­sät­ze mit deut­scher Betei­li­gung erspart geblie­ben. Deutsch­land wäre statt­des­sen Frie­dens­macht und ein star­ker Fak­tor gegen glo­ba­le Militarisierung.

Sech­stens: Das Par­tei­en­sy­stem wäre über­sicht­li­cher: geprägt durch eine star­ke Sozi­al­de­mo­kra­tie und einen sta­bi­len kon­ser­va­tiv-demo­kra­ti­schen Block; die AfD gäbe es ver­mut­lich nicht.

Die Gesell­schaft wäre nicht eine völ­lig ande­re. Aber die Ver­hält­nis­se wären weit­aus bes­se­re. Dar­aus wür­den sich wei­te­re, noch stär­ke­re Visio­nen ent­wickeln. Die Gesell­schaft wäre mehr gewapp­net für den Kli­ma­wan­del und ande­re Her­aus­for­de­run­gen der Gegenwart.

Aber auch 1995 war kurz vor dem Mann­hei­mer Par­tei­tag eine sol­che Visi­on nicht wirk­lich prä­sent. Die SPD mit ihrem Vor­sit­zen­den Rudolf Schar­ping war in schlech­ter Ver­fas­sung. Die Mann­hei­mer Rede, die vor­her nie­mand auf dem Plan hat­te, rüt­tel­te die Dele­gier­ten des SPD-Par­tei­ta­ges auf. »Es gibt noch Poli­tik­ent­wür­fe, für die wir uns begei­stern kön­nen.« Lafon­taine zeig­te der Par­tei und der Öffent­lich­keit, wie Sozi­al­de­mo­kra­tie auch aus­se­hen könn­te, ja wie sie eigent­lich aus­se­hen müss­te – und wur­de dann ihr Vorsitzender.

Lei­der waren spä­ter die Gegen­kräf­te stär­ker; die Kanz­ler­schaft Schrö­ders bedeu­te­te zunächst das Ende für die Opti­on einer ande­ren Poli­tik. Aber was in Mann­heim pas­sier­te, wäre auch heu­te mög­lich: argu­men­ta­tiv und authen­tisch glaub­haft zu machen, dass die Wen­de hin zu einer wirt­schafts­po­li­tisch unter­füt­ter­ten ande­ren Poli­tik im Bereich der Rea­li­tät liegt – und den Men­schen dadurch Hoff­nung zu geben. Solan­ge eine ande­re Poli­tik real mög­lich ist, stirbt die Hoff­nung nicht.

Jonas Chri­sto­pher Höp­ken ist Jahr­gang 1972, katho­li­scher Theo­lo­ge aus Olden­burg, außer­dem auch Rats­herr in der Stadt Oldenburg.