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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die Zweieinhalb-Seiten-Rettung

Die Stra­ße mei­ner Kind­heit, Rott­stra­ße Kamen, gibt es schon lan­ge nicht mehr. Fach­werk­fas­sa­den, klei­ne Häus­chen, die mei­sten mehr als hun­dert Jah­re alt, alles abge­ris­sen, flä­chen­sa­niert. Es war die Stra­ße der Schuh­ma­cher, zu mei­ner Kind­heit gab es noch drei von ihnen, die ihre Arbeit in dunk­len Werk­stät­ten ver­rich­te­ten. Mein Opa, der viel zu früh ver­starb, sodass ich ihn nie ken­nen­ge­lernt habe, hat­te einen Fri­sier­sa­lon und zog neben­bei Zäh­ne. Klein­bür­ger­li­ches Milieu, aber geprägt von der Soli­da­ri­tät der klei­nen Leu­te. Man zog über­ein­an­der her, aber man hielt trotz­dem zusammen.

Gesprä­che über Bücher, über Kul­tur all­ge­mein, fan­den so gut wie nie statt. Einer mei­ner Onkel konn­te Goe­thes Erl­kö­nig aus­wen­dig und sag­te ihn bei jeder Geburts­tags­fei­er auf. Ich besaß immer­hin das Buch von Storms »Klei­nem Häwel­mann«, ein Erb­stück aus der Eltern­ge­nera­ti­on. Es ist ein wun­der­ba­res Buch, denn Leben, lern­te ich, ist mehr als plat­te Rea­li­tät. Was sich der klei­ne Häwel­mann pustend erobern konn­te, das wür­de auch ich schaffen.

Kam daher mei­ne Lust zu lesen, am Ende sogar die zu schrei­ben? Wohl kaum. Das wäre eine zu kur­ze Start­bahn für einen lan­gen Flug. Aber ein biss­chen, ein klei­nes Biss­chen haben Häwel­mann und der ver­füh­re­ri­sche Erl­kö­nig viel­leicht doch bewirkt. Es gibt, lern­te ich, eine ande­re, eine geheim­nis­vol­le Welt, die reiz­voll war.

Aber Kunst, so eine rich­ti­ge Aus­ein­an­der­set­zung mit Kunst, die fand in unse­rer Stra­ße nie statt.

»Wat will­ze denn mit all den Büchern, Heinz­ken? Wat soll dat bringen?«

Als Künst­ler in unse­rer Stra­ße galt ein­zig der dicke Becker, der in der Berg­manns­ka­pel­le die Pau­ke schlug. Unbarm­her­zig schlug er auf das Instru­ment ein, als hät­te er mit ihm eine per­sön­li­che Rech­nung zu beglei­chen. Wenn bei den Schüt­zen­fe­sten spät am Abend noch mal die Kapel­le spiel­te, hör­te man nur noch sei­ne Pau­ke aus dem Zelt. »So sind sie eben, die Musiker.«

Dann aber pas­sier­te etwas Merk­wür­di­ges. Nichts ist so, dass es ewig bleibt, es gibt Quan­ten­sprün­ge. Der alte Frit­sch, der Haus­mei­ster mei­ner Schu­le, die sich auf der ande­ren Stra­ßen­sei­te hoch vor unse­rem Haus auf­türm­te, hat­te plötz­lich eine neue Lei­den­schaft. Wenn er die Schu­le geputzt hat­te, lag er ger­ne hoch über uns im Fen­ster und rauch­te. Und eines Tages begann er, dabei fran­zö­si­sche Chan­sons zu hören. Unvor­stell­bar, woher die­se Lei­den­schaft kam. Die Nach­barn jeden­falls schüt­tel­ten den Kopf. »Wat hört der denn da? Ist dat auch Musik?« Das waren doch ganz ande­re Töne als die von Fred­dy und Peter Alexander.

Der alte Frit­sch ließ sich nicht beir­ren und such­te in mir einen Mitstreiter.

»Heinz­ken, hörst du den Char-les?«, rief er, wenn er mich sah, und mein­te damit Charles Azna­vour, des­sen Vor­na­men er nicht mal rich­tig aus­spre­chen konn­te und den er in zwei Sil­ben sprach: Char-les. Und damit ich ihn auch wirk­lich hören konn­te, stell­te er die Musik lauter.

»Was heißt la vie, was heißt l´amour?«, rief er, und ich ant­wor­te­te so gut ich konn­te. Im Grun­de waren das mei­ne ersten Gesprä­che über Kunst in unse­rer Stra­ße. So wur­den wir Ver­bün­de­te, der alte Haus­mei­ster und ich, Mit­strei­ter bei einem Flucht­ver­such, der beim alten Frit­sch zu ein paar Stol­per­schrit­ten vor­wärts reich­te, der bei mir aber wei­ter ging. Viel wei­ter. Ich las näm­lich gern. In der Stra­ße mei­ner Kind­heit las kaum einer Bücher. Der alte Bru­ne tat es, einer der drei Schu­ster. Er las vor allem Zeit­schrif­ten­be­rich­te über fer­ne Län­der, die ihn hin­aus­führ­ten aus der Enge sei­ner Werk­statt. Aber der alte Bru­ne erblin­de­te schnell. »Siehs­se, lesen scha­det den Augen.« Als ich mir mal wie­der ein Buch in der ein­zi­gen Buch­hand­lung unse­rer Stadt kau­fen woll­te, rief die Ver­käu­fe­rin fast schon erschrocken: »Jun­ge, bist du wie­der da? Willst du schon wie­der ein neu­es Buch? Hast du die ande­ren denn schon durch?«

Ja, ich woll­te ein neu­es Buch, und ja, ich hat­te die ande­ren schon durch­ge­le­sen. Ein wenig ver­schüch­tert such­te ich mir ein neu­es aus.

Vol­les Ver­ständ­nis für mei­ne Lese- und zuneh­men­de Schreiblust fand ich erst am Gym­na­si­um, denn dort traf ich auf einen Deutsch­leh­rer, der sel­ber schrieb. Erzäh­lun­gen, vor allem Hör­spie­le, die wir am Abend hör­ten und über die wir in der näch­sten Deutsch­stun­de mit Rudolf Schla­bach, so hieß der Leh­rer, diskutierten.

Mein Weg zum Gym­na­si­um, das passt zu mir und mei­ner kul­tur­fer­nen Rott­stra­ße, war eben­falls kein grad­li­ni­ger. Kin­der aus unse­rer Stra­ße, mein­te mein Grund­schul­leh­rer, hät­ten auf dem Gym­na­si­um kei­ne Chan­ce. Unser Deutsch sei schon ein­ge­schränkt, wie soll­ten wir da noch Eng­lisch und spä­ter Latein ler­nen? So lan­de­te ich auf der Real­schu­le, eine Sta­ti­on, die ich aber sel­ber, nach einer wei­te­ren Auf­nah­me­prü­fung, kor­ri­gier­te. Noch heu­te stau­ne ich über mei­nen dama­li­gen Mut als Zwölf­jäh­ri­ger, die­sen Schritt zu wagen.

Mei­ne ersten Schreib­ver­su­che inter­es­sier­ten nie­mand, mei­ne ersten Ver­öf­fent­li­chun­gen spä­ter in den Büchern des Werk­krei­ses Lite­ra­tur der Arbeits­welt, in dem ich, durch­aus pas­send für mei­ne Her­kunft, Mit­glied wur­de, so gut wie kei­nen. Nur mei­ne Mut­ter bekam Angst. Ich misch­te mich ja ein, war poli­tisch in mei­nen Erzäh­lun­gen und Gedich­ten, und bei der SPD-Beton­frak­ti­on, die mei­ne Hei­mat­stadt ohne Unter­bre­chung bis heu­te regiert, schnell ver­hasst. Unfä­hig zur Dis­kus­si­on, ver­leum­de­ten die regie­ren­den Poli­ti­ker lie­ber ihre Kri­ti­ker. Ein klu­ger Gedan­ke, und schon war man Kom­mu­nist. Und ich war hier dau­ernd Kom­mu­nist, wenn ich mal etwas ange­ben darf. Die Ein­stel­lung mei­ner Mut­ter änder­te sich, als mich der Pfar­rer Wer­ner Sanß aus Selm zu einer Lesung in sei­ner Kir­chen­ge­mein­de ein­lud. Ich nahm mei­ne Mut­ter mit zur Lesung, sie war ent­schie­den auf­ge­reg­ter als ich, und als ich für die Lesung am Ende auch noch hun­dert Mark erhielt, die ich mei­ner Mut­ter schenk­te, war sie baff. Mein Vater bekam gera­de mal 590 Mark Ren­te. So ganz unfrucht­bar, erfuhr mei­ne Mut­ter, war die Sache mit mei­ner Lite­ra­tur also doch nicht.

Mei­nen Durch­bruch mit mei­ner Lite­ra­tur erleb­te ich, wenn man so will, im Refe­ren­da­ri­at als Leh­rer. Wie­der typisch für mich muss­te ich bei mei­nem Stu­di­um einen Umweg gehen. Von knapp 600 Mark einen Sohn stu­die­ren zu las­sen, war eigent­lich nicht mög­lich. Hon­ef­fer Modell (spä­ter Bafög) bekam ich nicht, weil wir ja das Haus des Fri­seur­mei­sters Fried­rich Peuck­mann hat­ten, das ange­rech­net wur­de. So hat­te ich mit unse­rem Haus­arzt einen Deal geschlos­sen: Wenn das Ende mei­nes Vaters abseh­bar ist, soll er mich infor­mie­ren. Die Wit­wen­ren­te mei­ner Mut­ter wür­de nur noch 60 Pro­zent betra­gen, davon zu stu­die­ren wäre unmög­lich. Irgend­wann traf ich ihn. »Es wird Zeit, dass Sie Ihr Stu­di­um been­den«, sag­te er. Ich ord­ne­te mei­ne Schei­ne in Theo­lo­gie und Ger­ma­ni­stik und stell­te fest, dass es für ein Real­schul­leh­rer­ex­amen reich­te. Als sol­cher wür­de ich dann arbei­ten und die rest­li­chen Schei­ne für ein Staats­examen neben­bei machen. So habe ich es auch durch­ge­führt. Ich wur­de Refe­ren­dar an einer Dort­mun­der Real­schu­le und stu­dier­te nach der Schu­le wei­ter in Bochum. An der Schu­le in Dort­mund unter­rich­te­te eine gan­ze Rei­he stren­ger, welt­frem­der und vor allem erz­kon­ser­va­ti­ver Leh­re­rin­nen und Leh­rer. Damals trug ich lan­ge Haa­re, was auf Ableh­nung stieß. Bei Dis­kus­sio­nen im Leh­rer­zim­mer konn­te und woll­te ich mei­ne lin­ken Ansich­ten nicht unter­drücken, und als ich dann auch noch den Feh­ler mach­te, zu erzäh­len, dass ich das Staats­examen anstreb­te, um spä­ter zum Gym­na­si­um zu wech­seln, war ich unten­durch. »Die­ser Lin­ke hält sich für was Bes­se­res.« Noch vie­le Jah­re spä­ter sag­te mir mein Aus­bil­dungs­leh­rer, Außen­sei­ter im Kol­le­gi­um, von dem ich viel gelernt habe: »Die woll­ten Sie fer­tig­ma­chen, Peuck­mann.« Und hier nun ret­te­te mich mei­ne Lite­ra­tur, genau­er gesagt eine zwei­ein­halb Sei­ten lan­ge Geschich­te. Mein Leh­rer Schla­bach hat­te mich infor­miert, dass in einem neu­en Lese­buch des Bagel-Ver­lags eine Erzäh­lung von mir erschie­nen sei. Ich bestell­te mir mit Schul­stem­pel die sechs Bän­de und als die Sekre­tä­rin mir das Buch­pa­ket auf mei­nen Platz im Leh­rer­zim­mer leg­te, wur­den alle neu­gie­rig. »Wol­len Sie nach einem neu­en Lese­buch unter­rich­ten?«, wur­de ich gefragt, und wahr­schein­lich haben sie dabei gedacht: Typisch für den Lin­ken, immer muss alles neu sein.

Ich schüt­tel­te den Kopf. Nein, in einem der Bän­de sei eine Erzäh­lung von mir erschie­nen, erklär­te ich, und die woll­te ich mir anse­hen. Die Reak­ti­on war unglaub­lich. Ich kam gar nicht dazu, mir einen der Bän­de zu grei­fen, alle ande­ren grif­fen danach und woll­ten sehen, ob das stimmt. Und tat­säch­lich, im Band für Klas­se 7 stand mei­ne klei­ne Erzäh­lung. Die Wir­kung war kolos­sal. Schon am näch­sten Tag spra­chen mich Schü­ler auf dem Schul­hof dar­auf an. Die­se oder jene Leh­re­rin (es waren vor allem Frau­en) hät­te eine Geschich­te vor­ge­le­sen und dann gesagt: »Ratet mal, wer die geschrie­ben hat!« »Böll?«, haben die Schü­ler geant­wor­tet, »Grass?« »Nein«, haben die Leh­re­rin­nen geschmun­zelt, »die ist von unse­rem Herrn Peuckmann.«

Sie lie­ßen mich danach in Ruhe, unglaub­li­che Wir­kung einer klei­nen Geschich­te, die ich spä­ter in kei­nen mei­ner Erzähl­bän­de aufnahm.

Was soll­te ich nun davon hal­ten? Erst spiel­ten Kunst und spe­zi­ell Lite­ra­tur in mei­nem Umfeld kei­ne Rol­le, und dann ret­te­te mich eine win­zig klei­ne Erzählung.