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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Flaschenpost an die Zukunft

»Pogrom 1938« – nicht nur im For­mat (24,5x29,5 cm) erin­nert mich die­ser Bild­band an Ber­tolt Brechts »Kriegs­fi­bel«, im Herbst 1955 im Eulen­spie­gel Ver­lag Ber­lin mit einer Start­auf­la­ge von 10.000 Exem­pla­ren erschie­nen. Mei­ne »Neu­auf­la­ge« stammt aus dem Früh­jahr 1968, aus Anlass des 70. Geburts­tags Brechts als Gemein­schafts­aus­ga­be des Eulen­spie­gel Ver­lags, Ber­lin, und des Pfalz Ver­lags, Basel, ediert.

Ruth Ber­lau, die 1955 als Her­aus­ge­be­rin genannt wur­de, schreibt in ihrem kur­zen Vor­spruch: »Nicht der ent­rinnt der Ver­gan­gen­heit, der sie ver­gißt. Die­ses Buch will die Kunst leh­ren, Bil­der zu lesen. Denn es ist dem Nicht­ge­schul­ten eben­so schwer, ein Bild zu lesen wie irgend­wel­che Hie­ro­gly­phen. Die gro­ße Unwis­sen­heit über gesell­schaft­li­che Zusam­men­hän­ge, die der Kapi­ta­lis­mus sorg­sam und bru­tal auf­recht­erhält, macht die Tau­sen­de von Fotos in den Illu­strier­ten zu wah­ren Hie­ro­gly­phen­ta­feln, unent­zif­fer­bar dem nichts­ah­nen­den Leser.«

Eine ähn­li­che Vor­be­mer­kung hät­te der Foto­graf Micha­el Ruetz (Idee, Kon­zept, Bild­kom­men­ta­re, Nach­wort) dem Band »Pogrom 1938« vor­an­stel­len kön­nen, den er gemein­sam mit Astrid Köp­pe (Recher­che, Redak­ti­on) rea­li­sier­te. Das Buch ist in Koope­ra­ti­on mit der Aka­de­mie der Kün­ste in Ber­lin ent­stan­den und wur­de am 9. Novem­ber 2018 bei einer Ver­an­stal­tung im Bei­sein des Bun­des­prä­si­den­ten Frank Wal­ter Stein­mei­er vor­ge­stellt – und war bald vergriffen.

Nun aber bie­tet sich, wie der Ver­lag mit­teil­te, die unver­hoff­te Gele­gen­heit, doch noch die Foto- und Text­do­ku­men­ta­ti­on beim Ver­lag oder über den Buch­han­del zu erwer­ben, »da durch die Remis­si­on eines Groß­ver­tei­lers doch noch etli­che Exem­pla­re« ver­füg­bar sind. Mei­ne drin­gen­de Emp­feh­lung lau­tet: zugreifen.

Fast alle in dem Buch gezeig­ten Foto­gra­fien ent­stan­den im Kon­text der Pogrom­ta­ge um den 9. Novem­ber 1938 in Deutsch­land und Öster­reich. Sie stam­men aus rund 1200 Archi­ven sowie von Gemein­den, Ver­ei­nen und Pri­vat­per­so­nen, wie die Autoren ange­ben. Im Fokus ste­hen Schau­lu­sti­ge, eben »Das Gesicht in der Men­ge«, wie der Unter­ti­tel heißt. Kur­ze Kom­men­ta­re Ruetz‘, Augen­zeu­gen­be­rich­te und Aus­zü­ge aus Tex­ten zum Pogrom ergän­zen die Abbil­dun­gen. »Kei­ner von denen, die man in den Bil­dern sieht, war unbe­tei­ligt«, schreibt Ruetz. »Wer dabei war, war dabei. Alle lie­fen neu­gie­rig zusam­men. Das woll­te man sich nicht ent­ge­hen las­sen.« – Was, wenn es damals schon Sel­fies gege­ben hätte?

Die Recher­che zu den Bil­dern und Tex­ten führ­te die Ver­fas­ser quer durch die deut­schen und öster­rei­chi­schen Lan­de, von der Klein­stadt Nor­den in Ost­fries­land über Wis­mar im heu­ti­gen Meck­len­burg-Vor­pom­mern bis nach Tien­gen an der Gren­ze zur Schweiz, natür­lich auch nach Mün­chen, in die »Haupt­stadt der Bewe­gung«, und wei­ter nach Osten in die öster­rei­chi­schen Städ­te Linz und Graz. Das Pogrom – »ein gut orga­ni­sier­ter, kon­trol­lier­ter Bür­ger­krieg, ein Land­frie­dens­bruch im gan­zen Land« – fand »in etwa 2000 Ort­schaf­ten statt, also über­all in Deutsch­land, auch im klein­sten Kaff. Beauf­tragt und began­gen von den staat­li­chen Auto­ri­tä­ten, die der­glei­chen zu ver­hin­dern [gehabt] hät­ten« (Micha­el Ruetz).

In einem emo­tio­na­len Vor­wort sin­niert die Fil­me­ma­che­rin Jea­ni­ne Meer­ap­fel, Prä­si­den­tin der Aka­de­mie der Kün­ste, Ber­lin, 1943 in Argen­ti­ni­en gebo­ren, da – im Gegen­satz zu einem Teil der Fami­lie – ihre Eltern Euro­pa noch recht­zei­tig vor ihrer Ergrei­fung ver­las­sen konn­ten: »Kann man in die­sem Land noch leben? Die­se Fra­ge stel­len sich Men­schen wie ich jeden Tag. […] Das erneu­te Auf­le­ben des Natio­na­lis­mus lässt mich zwei­feln. Ich kann nicht mehr behaup­ten, dass ein Pogrom wie das vom 9. Novem­ber 1938 in Deutsch­land nicht mehr mög­lich ist. Und doch hal­te ich an mei­ner Vor­stel­lung fest: Die Nach­barn wür­den hel­fen, nicht untä­tig blei­ben, sie wür­den nicht rau­ben und plün­dern. Die Pas­san­ten, die Bür­ger, wür­den Wider­stand leisten.«

Auf was sich die­se Hoff­nung grün­det, lässt die Autorin offen.

*

Es war in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land seit jenen Novem­ber-Tagen, denen noch vie­le schreck­li­che­re Tage folg­ten, noch kein Vier­tel­jahr­hun­dert ver­gan­gen, da pfif­fen die Rat­ten­fän­ger wie­der und erober­ten die Stra­ßen für ihre ana­chro­ni­sti­schen Umzüge.

Nach Vor­läu­fern wie der Deut­schen Reichs­par­tei (DRP) – einer mei­ner Gym­na­si­al­leh­rer war Anhän­ger – in den 1950er Jah­ren wur­de 1964 die Natio­nal­de­mo­kra­ti­sche Par­tei Deutsch­lands, die NPD, gegrün­det, auch heu­te noch in allen 16 Bun­des­län­dern orga­ni­siert, 2017 vom Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt als ein­deu­tig ver­fas­sungs­feind­lich bezeich­net, aber nicht ver­bo­ten. Vier Jah­re nach ihrer Grün­dung war die Par­tei in sie­ben west­deut­schen Land­ta­gen vertreten.

Wie sehr die NPD damals die Öffent­lich­keit auf­wühl­te, teil­wei­se pola­ri­sier­te, lässt sich auch dar­an able­sen, dass der Phi­lo­soph und Sozio­lo­ge Theo­dor W. Ador­no (1903–1969), einer der Haupt­ver­tre­ter der Kri­ti­schen Theo­rie der »Frank­fur­ter Schu­le«, am 6. April 1967 auf Ein­la­dung des Ver­bands Sozia­li­sti­scher Stu­den­ten Öster­reichs an der Wie­ner Uni­ver­si­tät einen Vor­trag hielt, der die Erfol­ge der NPD zum The­ma hat­te: »Aspek­te des neu­en Rechtsradikalismus«.

Ador­no hat­te 1959 einen Vor­trag gehal­ten, »Was bedeu­tet: Auf­ar­bei­tung der Ver­gan­gen­heit«, in dem er »die The­se entwickelt[e], daß der Rechts­ra­di­ka­lis­mus dadurch sich erklärt oder daß das Poten­ti­al eines sol­chen Rechts­ra­di­ka­lis­mus, der damals ja eigent­lich noch nicht sicht­bar war, dadurch sich erklärt, daß die gesell­schaft­li­chen Vor­aus­set­zun­gen des Faschis­mus nach wie vor fortbestehen«.

Jetzt, knapp zehn Jah­re spä­ter, erläu­ter­te Ador­no, was er damit mein­te: »in erster Linie […] die nach wie vor herr­schen­de Kon­zen­tra­ti­ons­ten­denz des Kapi­tals«. Sie »bedeu­tet nach wie vor […] die Mög­lich­keit der per­ma­nen­ten Deklas­sie­rung von Schich­ten, […] die ihre Pri­vi­le­gi­en, ihren sozia­len Sta­tus fest­hal­ten möch­ten und womög­lich ihn ver­stär­ken«. Von »Armut bedroht«, sehen sie, »daß trotz Voll­be­schäf­ti­gung und all die­ser Pro­spe­ri­täts­sym­pto­me das Gespenst der tech­no­lo­gi­schen Arbeits­lo­sig­keit nach wie vor umgeht in einem sol­chen Maß, daß im Zeit­al­ter der Auto­ma­ti­sie­rung […] auch die Men­schen, die im Pro­duk­ti­ons­pro­zeß drin­ste­hen, sich bereits als poten­ti­ell über­flüs­sig […], sich [eigent­lich] als poten­ti­el­le Arbeits­lo­se fühlen«.

Die Aus­füh­run­gen von Ador­no sind im Juli 2019 erst­mals in gedruck­ter Form erschie­nen, aus Ton­band­auf­nah­men erstellt. Sie lesen sich, wie der Histo­ri­ker und Publi­zist Vol­ker Weiß in sei­nem Nach­wort schreibt, »pas­sa­gen­wei­se wie ein Kom­men­tar zu aktu­el­len Ent­wick­lun­gen«. Heu­te zei­ge »die immense Zug­kraft frau­en­feind­li­cher und homo­pho­ber Agi­ta­ti­on in Zei­ten der Gleich­be­rech­ti­gung oder die Renais­sance des reli­giö­sen Fun­da­men­ta­lis­mus inmit­ten einer säku­la­ren Gegen­wart, wie trü­ge­risch es ist, sich im Lich­te des Erreich­ten zivi­li­sa­to­risch sicher zu füh­len«. Und so lese sich die Rede Ador­nos »wie eine Fla­schen­post an die Zukunft«.

Eine Meta­pher, die auch auf den Bild­band über die Novem­ber-Pogro­me zutrifft.

Ador­no been­de­te sei­nen Vor­trag mit einem Satz von zeit­lo­ser Gül­tig­keit: »Wie die­se Din­ge wei­ter­ge­hen und die Ver­ant­wor­tung dafür, wie sie wei­ter­ge­hen, das ist in letz­ter Instanz an uns.«

Micha­el Ruetz: »Pogrom 1938. Das Gesicht in der Men­ge«, 156 Sei­ten, Nim­bus Ver­lag, 29,80 €; Theo­dor W. Ador­no »Aspek­te des neu­en Rechts­ra­di­ka­lis­mus«, mit einem Nach­wort von Vol­ker Weiß, 89 Sei­ten, Suhr­kamp Ver­lag, 10 €