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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Unter Einfluss

Die Bun­des­re­gie­rung infor­miert: »Kin­der sind unse­re Zukunft.« Doch wie die­se Zukunft aus­se­hen wird, hängt von den Bedin­gun­gen ab, unter denen die Kin­der leben und auf­wach­sen. Und da beginnt das Problem.

Schon klei­ne Kin­der kön­nen sen­si­bel und mit­füh­lend sein; wenn sie selbst kei­ne Ein­fühl­sam­keit erle­ben, ver­küm­mern die­se Fähig­kei­ten. Erzie­he­rin­nen, Leh­rer und nicht zuletzt die Eltern wol­len des­halb Kin­dern nicht nur Wis­sen und kogni­ti­ve Fer­tig­kei­ten ver­mit­teln, son­dern durch eine siche­re emo­tio­na­le Bin­dung und Ver­läss­lich­keit dazu bei­tra­gen, dass die Kin­der ein­fühl­sam und sozi­al kom­pe­tent wer­den, ein rei­ches Gefühls­le­ben haben und dabei ein Gespür für ver­ant­wor­tungs­be­wuss­tes Han­deln und Auf­rich­tig­keit ent­wickeln. Lie­be und Wert­schät­zung soll­ten Kin­der ohne Vor­be­din­gun­gen erfah­ren. Sie müs­sen erle­ben, dass ihre Gefüh­le beach­tet und respek­tiert wer­den. Schon klei­ne Kin­der spü­ren, wenn Inter­es­se und Zunei­gung nicht echt, son­dern vor­ge­täuscht sind und ihre eige­nen Bedürf­nis­se zur Befrie­di­gung ganz ande­re Zie­le benutzt wer­den. Sie haben zwar kein Wort für see­li­schen Miss­brauch, reagie­ren dar­auf aber ver­stört, unso­zi­al und sogar mit psy­chi­scher Krankheit.

Mäch­ti­ge Inter­es­sen­grup­pen in Wirt­schaft und Poli­tik sor­gen dafür, dass die­se Grund­la­gen eines emo­tio­nal und sozi­al befrie­di­gen­den Lebens nach und nach aus­ge­höhlt und teil­wei­se ganz zer­stört wer­den. »Wir lie­fern Ant­wor­ten, wie Kin­der am besten emo­tio­nal berührt wer­den kön­nen – online wie off­line«, lesen wir auf der Web­site eines Anbie­ters von Lei­stun­gen zur Erfor­schung und Beein­flus­sung kind­li­cher Bedürf­nis­se. Die Kin­der-Markt­for­schung setzt »Metho­den wie in der Kin­der- und Jugend-The­ra­pie« ein, für einen »tie­fer gehen­den Ein­blick in die Gefühls- und Gedan­ken­welt«, um »Ver­hal­ten zu ent­schlüs­seln und Mar­ke­ting zu inspi­rie­ren«. Die Kon­sum­for­scher wis­sen: »Mar­ke­ting beginnt im Kin­des­al­ter« und »Mar­ken­images sind Teil der Iden­ti­tät und der Iden­ti­täts­bil­dung«. Des­halb for­schen sie die Lebens­welt von Mil­lio­nen Kin­dern aus – bereits von 3- bis 5-Jäh­ri­gen. Sie rüh­men sich wert­vol­ler Kon­tak­te zu »Jour­na­li­sten und Redak­teu­ren in Print, TV, Funk und online« und sor­gen somit »für PR in Medien«.

Sehr früh schon sind also Kin­der Objek­te von Pro­fit­in­ter­es­sen. Ihre sozia­len und emo­tio­na­len Bedürf­nis­se wer­den von den Auf­trag­ge­bern und den Mar­ke­ting-Exper­ten nicht nur nicht akzep­tiert; sie wer­den viel­mehr miss­braucht für deren Inter­es­sen. Das Ziel ist Beein­flus­sung, Mani­pu­la­ti­on bis hin zur Erzeu­gung von Sucht, nicht die »freie Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit«, die nach dem Grund­ge­setz doch garan­tiert sein soll, son­dern die Instru­men­ta­li­sie­rung kind­li­cher Bedürf­nis­se. Zur Gefolg­schaft wer­den sie zwar nicht gedrängt und gezwun­gen wie im Faschis­mus; sie soll viel­mehr Spaß machen, denn letzt­lich sol­len sich die Kin­der mit die­ser Form der Aus­beu­tung iden­ti­fi­zie­ren. Aus­beu­tung? Ja, nicht weni­ger ver­werf­lich als Kin­der­ar­beit für den Fami­li­en­un­ter­halt im glo­ba­len Süden.

Die effek­tiv­sten Maschi­nen zum »Sha­ping« (ein Aus­druck der Psy­cho-Kon­di­tio­nie­rung) von Ver­hal­ten und Bedürf­nis­sen sind die »sozia­len Medi­en«. Von Kin­dern – und mit zwölf Jah­ren sind laut Umfra­gen schon alle online, teils meh­re­re Stun­den am Tag – wer­den sie nicht pri­mär als Infor­ma­ti­ons­me­di­um genutzt; sie hel­fen ihnen, stän­dig in Kon­takt zu blei­ben. Sie sind ein Werk­zeug der neo­li­be­ra­len Vor­ga­be der Selbst­op­ti­mie­rung. So anre­gend und hilf­reich sie auch sein kön­nen (selbst­ver­ständ­lich nutzt auch der Autor gern und flei­ßig die Mög­lich­kei­ten), sind sie zugleich ein Instru­ment see­li­scher Beein­flus­sung. Deren Quel­len – aber auch Fol­gen – sind die Angst, etwas zu ver­pas­sen, der stän­di­ge Ver­gleich mit ande­ren und das umfas­sen­de Beloh­nungs­sy­stem: die Sucht nach »Likes« und »Smi­leys«. Die tol­le Wir­kung der unmit­tel­ba­ren Befrie­di­gung wird sogar phy­sio­lo­gisch ver­an­kert, denn Essen, Sex und Dro­gen akti­vie­ren ähn­li­che Gehirn­area­le wie die Likes.

Die Welt der Kin­der ist der tota­len Ver­mark­tung anheim­ge­ge­ben. Um ihr Innen­le­ben, ihre Gefüh­le und Wün­sche wirk­sam und ohne ratio­na­le Kon­trol­le kapern zu kön­nen, wer­den neue »Supert­ar­gets in Sale & Mar­ke­ting«, Mul­ti­pli­ka­to­ren und Mei­nungs­füh­rer gesucht und auf­ge­baut, die sich in das Ver­trau­en der Kin­der und Jugend­li­chen ein­schlei­chen und ein­ni­sten sol­len: die Influen­cer. Deren Job besteht dar­in, ihre Opfer zu instru­men­ta­li­sie­ren und zu beein­flus­sen. Durch den hohen Ver­net­zungs­grad der Ziel­grup­pen und die rasan­te Ver­brei­tung der Vide­os errei­chen sie einen Wir­kungs­grad, von dem Wer­bung her­kömm­li­cher Art nur träu­men konn­te: Die Ver­mark­ter errei­chen über die Influen­cer zig Mil­lio­nen »Fol­lower«, stän­dig gemes­sen und aus­ge­wer­tet in »Likeome­tern«. »Für die Stars […] sind Fans und Fol­lower die neue Wäh­rung. Sie kön­nen damit lukra­ti­ve Wer­be­ver­trä­ge abschlie­ßen, ihre eige­nen Pro­gram­me pro­mo­ten und selbst wei­ter im Gespräch blei­ben – für die rich­tig erfolg­rei­chen Social-Media-Stars geht es pro Post um zehn­tau­sen­de Euro« (t-online.de, 26.1.2019).

Um Miss­ver­ständ­nis­sen vor­zu­beu­gen: Hier klagt nicht ein Kul­tur­kri­ti­ker über neue Medi­en und die Eltern, die ihre Kin­der nicht genü­gend beauf­sich­ti­gen. Ange­klagt wer­den soll ein Wirt­schafts- und Gesell­schafts­sy­stem, das es für selbst­ver­ständ­lich hält, sich in die pri­va­te­sten, intim­sten See­len­be­rei­che der Men­schen ein­zu­schlei­chen mit dem Ziel, sie für Pro­fit­in­ter­es­sen zu mani­pu­lie­ren und zu instru­men­ta­li­sie­ren – nach Mög­lich­keit auf eine Art und Wei­se, dass eine blei­ben­de Abhän­gig­keit ent­steht. Ange­klagt wird auch eine Poli­tik, die das aktiv unter­stützt und viel­leicht nicht ein­mal ein Gespür dafür besitzt, dass hier Grund­rech­te und Men­schen­wür­de ver­letzt wer­den und dass einem syste­ma­ti­schen Miss­brauch unter dem Label des frei­en Mark­tes Tür und Tor geöff­net wird.

Der markt­ra­di­ka­le Staat und sei­ne Macht­eli­te neh­men bil­li­gend in Kauf, dass die sozia­le und emo­tio­na­le Welt der Kin­der »gefaket« wird, dass sie nicht mehr zwi­schen eige­nen und mani­pu­lier­ten Bedürf­nis­sen unter­schei­den kön­nen. Sie ler­nen: Man weiß nicht, was wahr ist, alles ist PR, auch das eige­ne Selbst. Bin ich Sub­jekt oder Objekt? Allein die Wir­kung ent­schei­det über die »Wirk­lich­keit«. Der tech­ni­schen All­macht ent­spricht im Inne­ren die Angst und die Ohn­macht. Zwar waren Kin­der schon immer Ideo­lo­gien und destruk­ti­ven Erzie­hungs­me­tho­den aus­ge­setzt; noch nie erfolg­te aber die Beein­flus­sung so syste­ma­tisch, ziel­ge­nau und unbe­merkt. Die Frei­heit des Kon­su­men­ten ist die Grund­la­ge der Entmündigung.

Wenn also neo­li­be­ra­le Poli­ti­ker über rück­sichts­lo­se, ver­let­zen­de, beschä­men­de SMS oder Hass­mails, über Fake News, Ver­ro­hung und Men­schen­ver­ach­tung kla­gen, soll­ten sie auch über die Hin­ter­grün­de nach­den­ken. Nicht die Kin­der haben sich in ihrer Natur ver­än­dert, son­dern die Ver­hält­nis­se. Der Hin­weis auf Gegen­bei­spie­le, auf die Mil­lio­nen Kin­der und Jugend­li­che bei Fri­days for Future und die beein­druckend krea­ti­ven und sozi­al enga­gier­ten jun­gen Leu­te ist berech­tigt und not­wen­dig und ver­mag Hoff­nun­gen zu wecken. Er macht deut­lich, dass auch in die­sem Bereich eine sozia­le Spal­tung um sich greift: Das »emo­tio­na­le Kapi­tal«, etwa ver­gleich­bar dem Begriff »sozia­les Kapi­tal« des fran­zö­si­schen Sozio­lo­gen Pierre Bour­dieu, ist ungleich ver­teilt. Gegen die emo­tio­na­le Stär­ke der Jun­gen und Mäd­chen, die auf siche­re Bin­dungs­er­fah­rung und Fein­füh­lig­keit auf­bau­en kann, kommt das hoh­le Geschwätz über Influen­cer und Fol­lower (»Wir ken­nen die Fol­lower-Zah­len der Dschun­gel-Stars und wis­sen, wel­che Stars und Stern­chen am mei­sten vom Dschun­gel­camp pro­fi­tiert haben – und bei wem der Erfolg aus­blieb«, t-online.de) nicht an und Whats­App, Insta­gram oder Face­book blei­ben in ihrer Wir­kung begrenzt. Gefähr­det sind aber die­je­ni­gen, die kei­nen inne­ren Schutz gegen die syste­ma­ti­sche Ver­füh­rung, Mani­pu­la­ti­on und Instru­men­ta­li­sie­rung des Wert­voll­sten auf­bau­en konn­ten, was sie besit­zen: ihrer selbst­be­stimm­ten emo­tio­na­len Welt.

Was also tun, fra­gen jetzt viel­leicht Eltern und Groß­el­tern. Den Kin­dern Ver­bo­te ertei­len, Ent­halt­sam­keit pre­di­gen? Das wäre wenig hilf­reich, denn sozia­le Netz­wer­ke sind inzwi­schen Teil der Lebens­wirk­lich­keit. Es bleibt nur – und das ist nicht wenig – die gute alte Dop­pel­stra­te­gie: per­sön­lich hel­fen, poli­tisch bekämpfen.

Im neo­li­be­ra­len Zeit­al­ter der För­de­rung ober­fläch­li­cher Bezie­hun­gen und des Aus­agie­rens aller gehäs­si­gen Impul­se bedeu­tet Hil­fe für Kin­der: emo­tio­na­le Unter­stüt­zung. »Wenn Eltern ihren Kin­dern mit Empa­thie begeg­nen und ihnen hel­fen, mit nega­ti­ven Gefüh­len wie Wut, Trau­rig­keit und Angst umzu­ge­hen, bau­en sie Brücken aus Ver­trau­en und Zunei­gung«, schreibt der US-Psy­cho­lo­ge John Gott­man. Sol­che Gefüh­le zu erken­nen, mit­füh­lend anzu­hö­ren und gemein­sam nach Lösun­gen für die Ursa­chen der emo­tio­na­len Span­nung zu suchen ist die Grund­la­ge für Selbst­be­wusst­sein und Selbst­ver­ant­wor­tung, gegen die kein Influen­cer ankommt.

Viel­leicht kom­men dann Eltern und Kin­der dazu – wie etwa beim The­ma Kli­ma –, gegen die destruk­ti­ven Mäch­te und die heuch­le­ri­sche Poli­tik aktiv zu wer­den. Es gilt, die Sor­gen, die Angst und die Empö­rung in ziel­ge­rich­te­te Aktio­nen umzusetzen.