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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Full Brexit zum Weihnachtsessen?

Am Sonn­tag­abend, dem 13. Dezem­ber, soll­te zwi­schen dem Ver­ei­nig­ten König­reich und der Euro­päi­schen Uni­on nach mona­te­lan­gen bein­har­ten Ver­hand­lun­gen und trotz mehr­mals geris­se­ner Ent­schei­dungs­fri­sten wie­der ein­mal Schluss mit ver­hand­lungs­lu­stig sein. Jeden­falls woll­ten Pre­mier­mi­ni­ster Boris John­son und EU-Kom­mis­si­ons­prä­si­den­tin Ursu­la von der Ley­en an jenem 3. Advent »eine feste Ent­schei­dung« über die Zukunft der Ver­hand­lun­gen über ein Han­dels­ab­kom­men tref­fen und ver­kün­den. Eini­ge Tage zuvor hat­ten sie nach einem Arbeits­es­sen in Brüs­sel bei­de bezwei­felt, dass ein Abkom­men über gere­gel­te künf­ti­ge Bezie­hun­gen bis zum Ablauf des Über­gangs­zeit­raums am Jah­res­en­de zustan­de kom­men wür­de. Pre­mier John­son kom­men­tier­te das Gesche­hen sibyl­li­nisch mit den Wor­ten, es gebe »eine hohe Wahr­schein­lich­keit« für eine Lösung, die »eher der austra­li­schen mit der EU ent­spricht als der kana­di­schen« – wohl­ge­merkt, mit Austra­li­en gibt es kei­nen Han­dels­ver­trag. Und was geschah ent­schei­dungs­tech­nisch, als dies­seits und jen­seits des Ärmel­ka­nals auf den Advents­krän­zen die drit­te Ker­ze mit ange­zün­det wur­de? Der Pre­mier und die Kom­mis­si­ons­prä­si­den­tin führ­ten ein Tele­fo­nat und ver­kün­de­ten anschlie­ßend in einer gemein­sa­men Stel­lung­nah­me, sie fän­den es ver­ant­wor­tungs­voll, noch eine letz­te Anstren­gung zu unter­neh­men, und hät­ten des­halb die Unter­händ­ler beauf­tragt, die Ver­hand­lun­gen fort­zu­set­zen, um zu prü­fen, »ob ein Abkom­men zu die­sem spä­ten Zeit­punkt« noch erreicht wer­den könne.

Die EU legt ihren Ver­hand­lun­gen die mit dem König­reich gemein­sam ver­ein­bar­te »Poli­ti­sche Erklä­rung« zugrun­de. Nach wie vor bestehen in eini­gen Berei­chen sub­stan­ti­el­le Dif­fe­ren­zen, und ein­fach so wer­den die bei­den Sei­ten gewiss nicht han­dels­ei­nig. Boris John­son beschrieb einen der ent­schei­den­den Knack­punk­te der anhal­ten­den Hän­ge­par­tie jüngst bild­haft so: »Wenn die EU beschließt, eine teu­re Hand­ta­sche zu kau­fen, dann muss das Ver­ei­nig­te König­reich auch eine teu­re Hand­ta­sche kau­fen, sonst dro­hen Zöl­le.« Zum Hin­ter­grund: Offen­bar will die EU dem – noch ver­ei­nig­ten – König­reich ab 2021 nur dann wei­ter­hin einen zoll­frei­en Zugang zu ihrem Bin­nen­markt gewäh­ren, wenn es die in der Uni­on gel­ten­den Stan­dards im Arbeits-, Sozi­al-, Umwelt- und Wett­be­werbs­recht ein­hält und kei­ne unfai­ren Vor­tei­le etwa mit­tels Staats­bei­hil­fen erringt. Das aber sei­en Bedin­gun­gen, so John­son, die »kein Pre­mier­mi­ni­ster die­ses Lan­des akzep­tie­ren soll­te«. Abwar­ten und Tee trinken.

Als das Ver­ei­nig­te König­reich am 31. Janu­ar die Euro­päi­sche Uni­on nach 47-jäh­ri­ger Mit­glied­schaft ver­las­sen hat­te, um gemäß dem Slo­gan »Take Back Con­trol« fort­an in unein­ge­schränk­ter Sou­ve­rä­ni­tät agie­ren zu kön­nen, begann gera­de das ein­ge­schlepp­te Coro­na-Virus sei­nen töd­li­chen Sie­ges­zug durch Eng­land, Wales, Schott­land und Nord­ir­land. In der glo­bal abso­lut ver­netz­ten Welt unse­rer Tage, das lehrt nicht zuletzt die Pan­de­mie, ist die von Boris John­son und den Brexi­te­ers ersehn­te abso­lu­te staat­li­che Sou­ve­rä­ni­tät nichts als Fik­ti­on. Und dar­an wür­de selbst ein nach wie vor nicht aus­zu­schlie­ßen­der No-Deal-Brexit nichts ändern. Für den übri­gens durch­aus Vor­keh­run­gen getrof­fen wer­den. So berei­tet in Brüs­sel die von Michel Bar­nier gelei­te­te Taskforce für die Bezie­hun­gen zum Ver­ei­nig­ten König­reich (UKTF) emsig Maß­nah­men für den Fall vor, dass kein förm­li­ches (und schließ­lich auch rati­fi­zier­tes) Abkom­men über die künf­ti­ge Part­ner­schaft zustan­de kommt. Die Regie­rung in Lon­don wie­der­um hat bereits Details ihrer No-Deal-Pla­nung ver­öf­fent­licht und ein Stra­te­gie­buch ent­wickelt, in dem angeb­lich »jedes ein­zel­ne vor­her­seh­ba­re Sze­na­rio« berück­sich­tigt wird. Dass ab dem 1. Janu­ar 2021 kilo­me­ter­lan­ge Staus auf den Stra­ßen zum wich­ti­gen Fähr­ter­mi­nal in Dover – und auf dem Kon­ti­nent zum Ter­mi­nal Calais – sowie zu den Lade­stel­len des Euro­tun­nels unver­meid­bar sind, steht schon des­halb fest, weil gene­rell spe­zi­fi­sche Waren­kon­trol­len nötig wer­den – schließ­lich ist das König­reich für die EU und die 27 ver­blie­be­nen Mit­glied­staa­ten nichts ande­res als ein Dritt­staat. Soll­te bis Sil­ve­ster kein Abkom­men zustan­de kom­men, wer­den die ab dem neu­en Jahr erho­be­nen Zöl­le und Men­gen­be­schrän­kun­gen bezie­hungs­wei­se die damit ver­bun­de­nen For­ma­li­tä­ten und Kon­trol­len den Han­dels­ver­kehr erst ein­mal erheb­lich ent­schleu­ni­gen und aufstauen.

Am 31. Dezem­ber endet der Über­gangs­zeit­raum, wäh­rend dem das EU-Recht für das Ver­ei­nig­te König­reich wei­ter gilt und sich für die Bür­ge­rin­nen und Bür­ger, Unter­neh­men, Inve­sto­ren, Stu­den­ten und Wis­sen­schaft­ler auf dem Kon­ti­nent und der Insel nichts geän­dert hat, denn dann ver­lässt das Ver­ei­nig­te König­reich auch den euro­päi­schen Bin­nen­markt und die Zoll­uni­on – mit oder ohne Abkom­men wel­cher Art auch immer. Ab 0:00 Uhr tre­ten gene­rell zahl­rei­che neue Vor­schrif­ten für alle mög­li­chen Vor­gän­ge zwi­schen den in der EU ver­blie­be­nen Mit­glied­staa­ten und dem abtrün­ni­gen Insel­reich in Kraft. Für alle die­je­ni­gen, die Han­del trei­ben, hat die bri­ti­sche Regie­rung ein­schlä­gi­ge Infor­ma­tio­nen vor­sichts­hal­ber sogar in deut­scher Spra­che ins Inter­net gestellt – sie­he www.gov.uk.

Vor­bei ist ab der ersten Neu­jahrs­se­kun­de das bis­lang gül­ti­ge Recht von uns EU-Bür­ge­rin­nen und Bür­gern, im Ver­ei­nig­ten König­reich ohne Ein­schrän­kun­gen arbei­ten zu kön­nen. Boris John­son und sei­ne Anti-EU-Man­nen und -Frau­en nut­zen den Brexit dazu, Ein­wan­de­rungs­wil­li­ge mit­tels eines Punk­te­sy­stems in erwünsch­te und nicht erwünsch­te Per­so­nen zu sor­tie­ren. Vor­aus­set­zung für die Bewil­li­gung eines Arbeits­vi­sums ist künf­tig das Erlan­gen von 70 Punk­ten. Vier­zig Punk­te gibt es für den Nach­weis eines Arbeits­ver­trags­an­ge­bots für eine qua­li­fi­zier­te Stel­le durch einen dafür lizen­sier­ten Arbeit­ge­ber. Zehn Punk­te gibt es für pas­sa­ble Eng­lisch­kennt­nis­se. Die feh­len­den 20 Punk­te kön­nen durch den Nach­weis erlangt wer­den, min­de­stens 25.600 Pfund (oder in beson­de­ren Fäl­len min­de­stens 20.480 Pfund) im Jahr zu ver­die­nen. Mög­lich ist auch der mit 20 Punk­ten ver­gü­te­te Nach­weis des Dok­tor­gra­des oder einer beson­ders drin­gend benö­tig­ten Fach­aus­bil­dung. Tou­ri­sten wer­den für eine Auf­ent­halts­dau­er von mehr als sechs Mona­ten Visa zur Ein­rei­se benötigen.

Für die Bri­ten wer­den die Rei­sen auf den Kon­ti­nent kom­pli­zier­ter – sie wer­den beim Grenz­über­tritt schär­fe­re Pass­kon­trol­len erle­ben und län­ger anste­hen müs­sen, dür­fen sich nach der Ein­rei­se im Schen­gen-Raum maxi­mal 90 Tage ohne Visum auf­hal­ten, benö­ti­gen für das Auto Ver­si­che­rungs­be­stä­ti­gun­gen und müs­sen – nach­dem sie jahr­zehn­te­lang von der Euro­päi­schen Kran­ken­ver­si­che­rungs­kar­te (EHIC) pro­fi­tiert haben – befürch­ten, ab 2021 kei­ne gleich­wer­ti­gen medi­zi­ni­schen Lei­stun­gen bei Besu­chen auf dem Kon­ti­nent zu erhal­ten. (Wer in Deutsch­land gesetz­lich ver­si­chert ist, hat auto­ma­tisch eine Euro­päi­sche Kran­ken­ver­si­che­rungs­kar­te. Sie bil­det die Rück­sei­te der Versichertenkarte.)

Vie­le Bri­tin­nen und Bri­ten wer­den das Jahr 2020 vor allem wegen der Coro­na-Kri­se in kei­ner guten Erin­ne­rung behal­ten. Die Wirt­schaft geriet in die schwer­ste Kri­se seit dem Jahr­tau­send­win­ter 1708/​9. Sie muss­te sowohl den Ein­bruch des Pri­vat­kon­sums als auch schwa­che und bis­lang sogar sin­ken­de Brut­to­an­la­ge­inve­sti­tio­nen ver­kraf­ten. Die Wirt­schafts­lei­stung wird zum Jah­res­en­de um mehr als zehn Pro­zent unter dem Niveau von 2019 blei­ben. Zwar gewähr­te der Staat umfang­rei­che Hilfs­kre­di­te und finan­zier­te För­der­maß­nah­men, aber den­noch war­nen Ana­ly­sten vor einer hef­ti­gen Insol­venz- und Ent­las­sungs­wel­le. Immer­hin ver­hin­dert die Ver­län­ge­rung des bri­ti­schen Kurz­ar­beits­mo­dells bis Ende März 2021 eine rasant stei­gen­de Arbeits­lo­sig­keit. Aller­dings bleibt mit 9,6 Mil­lio­nen kurz­ar­bei­ten­den Arbeit­neh­mern das Ent­las­sungs­po­ten­ti­al extrem hoch, denn es sol­len sich bereits mehr als eine hal­be Mil­li­on Unter­neh­men in gro­ßen finan­zi­el­len Schwie­rig­kei­ten befin­den. Die neue Zoll­gren­ze zur EU – mit oder ohne Eini­gung auf ein Frei­han­dels­ab­kom­men – erhöht für sie dem­nächst erheb­lich den büro­kra­ti­schen Auf­wand. Ganz zu schwei­gen von den bis­her unge­kann­ten Hür­den beim Dienst­lei­stungs­ex­port, etwa beim grenz­über­schrei­ten­den Ein­satz von Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mitarbeitern.

Apro­pos Wirt­schaft. Die bri­ti­schen Hilfs­maß­nah­men – ein­schließ­lich des »Furlough«-Programms, über das 80 Pro­zent des Lohns (bis maxi­mal 2500 Pfund pro Monat) an Beschäf­tig­te aus­ge­zahlt wer­den, die wegen des Lock­downs nicht wie üblich arbei­ten kön­nen – kom­men weit weni­ger den Betrof­fe­nen zugu­te, als es den Anschein haben soll. Laut dem Insti­tu­te for Public Poli­cy Rese­arch (IPPR), einer als fort­schritt­li­che Denk­fa­brik wir­ken­den Wohl­tä­tig­keits­or­ga­ni­sa­ti­on, schüt­zen Hilfs­maß­nah­men der regie­ren­den Tories vor allem die Ban­ken und die Bezie­her von Kapi­tal­ein­künf­ten, also von Ein­kom­men, die etwa von Immo­bi­li­en­be­sit­zern durch Mie­ten erzielt wer­den. So flie­ßen gut 45 Pro­zent des »Furlough«-Rettungsgeldes für arbei­ten­de Men­schen in Form von Miet-, Hypo­the­ken- und Kre­dit­zah­lun­gen auf die Kon­ten von Ver­mie­tern und Ban­ken, gera­ten beson­ders ein­kom­mens­schwa­che Bri­tin­nen und Bri­ten finan­zi­ell zuneh­mend in die Bre­douil­le. Dass die Maß­nah­men gegen die Coro­na-Kri­se die Wohl­stands- und Macht­un­gleich­ge­wich­te zwi­schen den arbei­ten­den Armen und den Ver­mö­gens­be­sit­zern ver­schär­fen, bele­gen diver­se For­schungs­er­geb­nis­se. Gegen­wär­tig stecken im Ver­ei­nig­ten König­reich cir­ca 14 Mil­lio­nen Men­schen in der Armut fest – mehr als ein Fünf­tel der Bevöl­ke­rung. Unter ihnen sind vier Mil­lio­nen Kin­der und zwei Mil­lio­nen Rent­ne­rin­nen und Rent­ner. Die Coro­na-Kri­se hat bis­lang an die 600.000 Erwach­se­ne und 120.000 Kin­der zusätz­lich in die Armut geris­sen. Schwer vor­stell­bar, dass sich die Ver­hält­nis­se nach der völ­li­gen Los­lö­sung von der Euro­päi­schen Uni­on spür­bar bes­sern wer­den. Auf klei­ne Fir­men und ein­kom­mens­schwa­che Haus­hal­te, die ohne­hin einen erheb­li­chen Teil der Pan­de­mie­ko­sten tra­gen müs­sen, kom­men offen­bar gro­ße sozia­le und wirt­schaft­li­che Risi­ken zu – von wegen: Take Back Control.

Gera­de erschie­nen: Johann-Gün­ther König: »Frie­do Lam­pe. Eine Bio­gra­phie«, Wall­stein Ver­lag, 390 Sei­ten, 28 €