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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Neurechte Diskurse

Roger Grif­fin ist ein bri­ti­scher Histo­ri­ker und Faschis­mus­for­scher, nicht unum­strit­ten in eini­gen The­sen. Vor mir liegt sein Auf­satz »Der ›natio­na­le Sozia­lis­mus‹ des Faschis­mus« mit der Unter­zei­le: »Mus­so­li­ni sag­te ein faschi­sti­sches Jahr­hun­dert vor­aus. Wie falsch lag er?« Der Text lei­tet den Sam­mel­band »Das faschi­sti­sche Jahr­hun­dert« ein, erschie­nen im Herbst 2020 im Ver­bre­cher Ver­lag, Ber­lin. Her­aus­ge­ber ist der Histo­ri­ker und Poli­to­lo­ge Fried­rich Bur­schel, Mit­ar­bei­ter der Rosa-Luxem­burg-Stif­tung in Berlin.

Wei­te­re Bei­trä­ge stam­men von dem Sprach­wis­sen­schaft­ler Juli­an Bruns und der Poli­tik­wis­sen­schaft­le­rin Nata­scha Strobl zum Ver­hält­nis der Iden­ti­tä­ren und der Neu­en Rech­ten; von Felix Korsch, Jour­na­list und wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter einer Abge­ord­ne­ten der Links­par­tei im säch­si­schen Land­tag, zum »Kampf­be­griff« Abend­land; von dem Sozio­lo­gie­pro­fes­sor Felix Schilk zur ideo­lo­gi­schen Kon­ver­genz von Kon­ser­va­tis­mus und Neo­li­be­ra­lis­mus in der Neu­en Rech­ten; von dem Rechts­extre­mis­mus-Exper­ten und Buch­au­tor Volk­mar Wölk, der eine »ideo­lo­gi­sche Zeit­rei­se von Dres­den nach Ita­li­en und zurück« unternahm.

Das titel­ge­ben­de Zitat grün­det auf dem Stich­wort »Faschis­mus« in der 1932 neu geschaf­fe­nen »Enci­clo­pe­dia Ita­lia­na«; sein Autor: Beni­to Mus­so­li­ni. Der Faschis­mus streb­te damals gera­de in meh­re­ren euro­päi­schen Staa­ten sei­nem Zenit ent­ge­gen. »Natio­na­li­sti­sche, ras­si­sti­sche und anti­kom­mu­ni­sti­sche Sub­kul­tu­ren« grif­fen »mit äußer­ster Rück­sichts­lo­sig­keit« (Grif­fin) in meh­re­ren Staa­ten nach der Macht, so dass der Duce sich bestä­tigt sah und im Lexi­kon ora­keln konn­te, »es gebe … gute Grün­de für die Annah­me, dass die­ses tat­säch­lich ein Jahr­hun­dert der ›Auto­ri­tät‹, der ›Rech­ten‹ sein wer­de«, ein faschi­sti­sches Jahr­hun­dert (»un seco­lo fascista«).

Wie es gekom­men ist, lehrt uns die Geschich­te. Die faschi­sti­sche Hybris brach quer durch Euro­pa unter dem Ansturm der Anti-Hit­ler-Koali­ti­on zusam­men. Die Ach­sen­mäch­te wur­den von ihren »Erz­fein­den«, dem Kom­mu­nis­mus und der libe­ra­len Demo­kra­tie, geschla­gen. Mus­so­li­ni selbst über­leb­te sei­ne Vor­her­sa­ge nur um ein Jahr­zehnt. Am 28. April 1945 nah­men kom­mu­ni­sti­sche Par­ti­sa­nen den ehe­ma­li­gen Mini­ster­prä­si­den­ten des König­rei­ches Ita­li­en (1922 – 1943) und Füh­rer des Faschis­mus beim Ver­such, in deut­scher Uni­form aus Ita­li­en zu flie­hen, fest und rich­te­ten ihn zusam­men mit sei­ner Gelieb­ten Cla­ra Peta­c­ci hin. Auf Fotos ist zu sehen, wie bei­de, an den Füßen auf­ge­hängt, mit­ten in einem klei­nen Ort am Comer See vor einer Tank­stel­le von Quer­bal­ken baumeln.

Und den­noch kommt es, trotz des histo­ri­schen Schei­terns des Faschis­mus und trotz der in der zwei­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts fast schon kon­sen­sua­len Auf­fas­sung, »dass der Faschis­mus als Fak­tor zur Umge­stal­tung der Welt eine ver­geb­li­che Kraft­an­stren­gung« gewe­sen ist (Grif­fin), nach fast 90 Jah­ren gegen­wär­tig zu einer Wie­der­be­le­bung des Dik­tums Mus­so­li­nis. Immer­hin trägt nicht nur das hier vor­ge­stell­te Buch, son­dern auch die Ver­an­stal­tungs­rei­he »Gegen den rech­ten Zeit­geist« der Rosa-Luxem­burg-Stif­tung in Koope­ra­ti­on mit dem Mün­zen­berg Forum, den Titel »Das faschi­sti­sche Jahr­hun­dert«. Am 13. Janu­ar geht es um die »Aktua­li­tät des auto­ri­tä­ren Cha­rak­ters«, digi­tal natürlich.

Einen Aus­weg bot Grif­fin die Kunst der Inter­pre­ta­ti­on: »Was geschieht, wenn wir Mus­so­li­nis ›Jahr­hun­dert‹ so ver­ste­hen, dass er gar nicht das 20. Jahr­hun­dert mein­te, son­dern viel­mehr die ›100 Jah­re nach der Grün­dung des Faschis­mus‹?« Sei­ne Ant­wort: »Dann ver­än­dert sich die Geschich­te, die wir uns erzäh­len, radi­kal.« Dann fügen sich NSU, dschi­ha­di­sti­sche Anschlä­ge, der 11. Sep­tem­ber, Ras­sis­mus, Xeno­pho­bie, Neue Rech­te, Popu­lis­mus, Iden­ti­tä­re, reli­giö­se Säu­be­run­gen, Ter­ro­ris­mus, Neo­na­zi-Grup­pen und -Ein­zel­tä­ter, auto­ri­tä­re Regimes zusam­men, aus­ge­rich­tet am ideo­lo­gi­schen Kern­the­ma des Faschis­mus: »Der herr­schen­de Sta­tus quo muss für die ›Nati­on‹ zer­stört wer­den, damit die­se wie­der­ge­bo­ren wer­den kann«, aller­dings nicht als Natio­nal­staat, son­dern als »eth­ni­sche Kate­go­rie« im Sin­ne der »wei­ßen Ras­se«, um den »Völ­ker­mord an den Wei­ßen« zu ver­hin­dern. Grif­fin: »Das Wiki­pe­dia-Zeit­al­ter hat die Faschi­sten der Gegen­wart ermu­tigt, ihre urei­gen­ste Ver­si­on ideo­lo­gi­sier­ten Has­ses zusammenzubasteln.«

Nach­be­mer­kung: Ich per­sön­lich wür­de den Ter­mi­nus vom faschi­sti­schen Jahr­hun­dert nicht ver­wen­den. Es war ein schreck­li­ches Jahr­hun­dert, viel­leicht »das schreck­lich­ste Jahr­hun­dert in der Geschich­te des Westens« (Isai­ah Ber­lin, Phi­lo­soph). Ich hal­te es da lie­ber mit Eric Hobs­bawm, der sei­ne monu­men­ta­le Welt­ge­schich­te des 20. Jahr­hun­derts »Das Zeit­al­ter der Extre­me« beti­tel­te. Mei­nes Erach­tens eine pas­sen­de­re Defi­ni­ti­on. »Am Ende des Jahr­hun­derts ist ein Kul­mi­na­ti­ons­punkt erreicht, an dem alle Risi­ken und Chan­cen der Mensch­heit, alle Gefähr­dun­gen und Selbst­hei­lungs­kräf­te wie nie zuvor offen­bar gewor­den sind – als das labi­le Fun­da­ment für die Gestal­tung des 21. Jahrhunderts.«

Dies gilt für das in weni­gen Tagen zu Ende gehen­de zwei­te Jahr­zehnt des 21. Jahr­hun­derts und lei­der auch für das anbre­chen­de dritte.

 

Frie­del Bur­schel (Hg.): »Das faschi­sti­sche Jahr­hun­dert«, Ver­bre­cher Ver­lag, 258 Sei­ten, 19 €