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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Literatur in Corona-Zeiten

Still­stand am Tage, fest­ge­fro­re­nes Leben, ungläu­bi­ges Erstau­nen. Geschlos­se­ne Cafés, halb­ver­wai­ste Geschäf­te. Fin­det das Leben in Coro­na-Zei­ten nachts statt? Oder viel­leicht im Ver­bor­ge­nen? Und wenn ja, was tritt dann zutage?

Gut, Ober­fläch­lich­kei­ten haben sich fort­ge­setzt. Kin­der und Jugend­li­che spie­len mehr Com­pu­ter­spie­le als je zuvor, beäng­sti­gend mehr. Eltern, über­for­dert damit, ihre Kin­der bis­wei­len den gan­zen Tag um sich zu haben, set­zen kei­ne Gren­zen, froh dar­über, dass sie irgend­wie beschäf­tigt sind. Wozu aber hat man Kin­der, wenn man sie nicht um sich her­um ertra­gen kann?

Die Gesell­schaft ruht in wei­ten Tei­len, das kon­su­mi­sti­sche Welt­bild gerät ins Wan­ken, bekommt es Ris­se über Coro­na-Zei­ten hin­aus? Man müss­te es ver­nei­nen, wenn man sieht, mit wie­viel Lust nach dem ersten Lock­down im Früh­jahr die Geschäf­te gestürmt wur­den, die Bars, die Events. Mit wie­viel auf­ge­stau­ter Wut auch. Die Zwangs-Par­ti­ku­la­ri­sten such­ten das Gemein­schafts­er­leb­nis wie­der in den alten Bah­nen. Wird es dies­mal ähn­lich sein? Kur­ze Pau­se ein­ge­legt und dann alles wie­der so wie vorher?

Viel­leicht. Viel­leicht aber auch nicht ganz. Denn da trat in den Wochen des Still­stands etwas zuta­ge, das immer da gewe­sen war, das aber unsicht­bar, unter tie­fe­ren Schich­ten ver­bor­gen dahin­floss. Da war plötz­lich die Sehn­sucht nach geist­rei­chen Ant­wor­ten auf unser Leben spür­bar, viel­leicht auch nur nach geist­rei­cher Unter­hal­tung. Aber immer­hin. Es bil­de­ten sich Inter­net­platt­for­men mit anspruchs­vol­ler Lite­ra­tur. Mit Lyrik vor allem, die die Schrift­stel­ler sel­ber vor­tru­gen, weil sich Video­clips mit Gedich­ten schnell pro­du­zie­ren und ins Inter­net stel­len las­sen. Lyrik, die es sonst schwer hat. Wer kauft schon Gedichtbände?

Der PEN, Deutsch­lands wich­tig­ster Schrift­stel­ler­ver­band, hat so etwas in einer lan­gen Lese­rei­he auf sei­ner Web­site gemacht, er macht es auch jetzt wie­der und postet dort und auf sei­ner Face­book-Sei­te kur­ze, nach­denk­li­che Tex­te. »Plätz­chen für Lite­ra­tur« nennt er das. Aber es gab auch beim ersten Lock­down schon pri­va­te Grup­pen, die spür­ten, dass es für so ein Ange­bot eine Nach­fra­ge gab. »Mit Poe­sie durch Pan­de­mie«, hieß eine sol­che Grup­pe, die moder­ne Lyrik anbot. Selbst ein Thea­ter wie Kon­stanz, das die Tore geschlos­sen hal­ten muss­te, bot auf sei­ner Inter­net­prä­senz Lite­ra­tur an. Lesun­gen mit sogar lan­gen Prosatexten.

Im Früh­jahr durf­ten Bau­märk­te geöff­net blei­ben, die Buch­hand­lun­gen muss­ten schlie­ßen. Auch jetzt durf­ten lan­ge Sex­shops und Deko­ra­ti­ons­ge­schäf­te in Bay­ern geöff­net blei­ben, wäh­rend Biblio­the­ken geschlos­sen wur­den. Ver­ste­he das, wer will. Ein Pro­test for­mier­te sich: »Auch Lite­ra­tur ist system­re­le­vant«, wur­de und wird argu­men­tiert, sie ist auch ein »Lebens­mit­tel«. Und es gab viel Zustim­mung für den Pro­test. Bücher konn­ten nicht nur bei Ama­zon, son­dern auch beim ört­li­chen Buch­han­del bestellt wer­den und wur­den frei Haus gelie­fert. Der Pro­test zeig­te Fol­gen, es wur­den neue Wege gefun­den, um Bücher an die Käu­fer zu bringen.

Ande­re Spar­ten der Kunst fan­den ähn­li­che Wege. Der Pia­nist zum Bei­spiel, der für einen ein­zi­gen Zuhö­rer spielt, der also jemand zum »Anspie­len« hat und dann den Vor­trag ins Inter­net stellt.

Neue For­men der Kunst­ver­mitt­lung im Inter­net wur­den gebo­ren, frei­lich muss noch die Fra­ge der Bezah­lung geklärt wer­den. Künst­ler brau­chen auch in Coro­na-Zei­ten Geld zum Leben.

Es war so etwas wie Nach­denk­lich­keit spür­bar, das war im Früh­jahr so und bewahr­hei­tet sich auch jetzt wie­der. Ich selbst poste auf mei­ner Face­book-Sei­te gern Gedich­te, sie wer­den wie­der so häu­fig gelikt wie im Früh­jahr. Es ist, als wenn sich wenig­stens ein Teil der Bevöl­ke­rung auf eine Aus­ein­an­der­set­zung mit dem eige­nen Leben ein­las­sen will. Kunst ist dafür alle­mal ein gutes Medium.

Das alles wird wie­der absin­ken in die tie­fe­ren Schich­ten, aus denen es auf­ge­taucht ist, ver­mu­te ich. Aber den­noch, es war und ist spür­bar. Und nichts, was mal war, geht gänz­lich ver­lo­ren. Es gilt anzu­knüp­fen an die­se For­men, es gilt anzu­knüp­fen an The­men, die dem Leser Ori­en­tie­rung bie­ten, die er sucht. Nicht in ober­fläch­li­cher Exo­tik liegt die Lösung, nicht in dem dümm­li­chen Kri­ti­ker­ge­schwätz, dass jemand, der Aus­sa­gen zum All­tag trifft und somit Wer­te ver­tritt, old-fashio­ned sei. Alles Quatsch. Not­si­tua­tio­nen brin­gen es an den Tag, es wird nach Ori­en­tie­rung, nach Wer­ten gesucht. Anspruchs­vol­le Kunst kann das leisten.

Die Kunst hat ver­sucht, Lücken zu schlie­ßen, dem Mit­men­schen Ant­wor­ten auf bewuss­te oder unbe­wuss­te Fra­gen zu geben. Die Kir­che hat einen ähn­li­chen Weg beschrit­ten, hat Inter­net­auf­trit­te orga­ni­siert. Kei­ne schlech­te Nach­bar­schaft, Kunst, spe­zi­ell die Lite­ra­tur, und Kir­che. Denn der Satz, dass wir in einer säku­la­ren Welt leben, ist doch so falsch wie jener, dass wah­re Kunst kei­ne Wer­te ver­tre­ten soll. Als die Men­schen die Bil­der von 9/​11 im Fern­se­hen sahen, sind vie­le in die Kir­chen gelau­fen. Glocken haben geläutet.

Der dümm­li­che Satz, dass man ein­fach so in den Tag hin­ein­le­ben kann und soll, dass man nur im Hier und Jetzt leben soll­te, ist schnell wider­legt. Das Hier und das Jetzt befrie­di­gen nicht. Wie­so soll ich nur im Hier leben. Die Welt ist viel­fäl­tig, es gehört zur Wür­di­gung der Schöp­fung, dass ich sie mir anse­he und nicht an einem Ort ver­har­re. Und das Jetzt? Schon Schil­ler wuss­te, was davon zu hal­ten ist:

 

Zögernd kommt die Zukunft hergezogen
pfeil­schnell ist das Jetzt verflogen
ewig still steht die Vergangenheit

 

Die Coro­na-Beschrän­kun­gen ent­lar­ven man­ches, was sich als zeit­ge­mäß aus­gibt und doch nur ober­fläch­li­ches Nicht­ver­ste­hen der Welt ist, als genau das. Gut, man­che bemer­ken das nicht. Sie zie­hen den Kopf ein und war­ten auf Ent­war­nung, bis sie ihr altes Leben fort­set­zen kön­nen. Eini­ge aber auch nicht. Ich spü­re in dem Bereich, in dem ich mich tumm­le, in der Lite­ra­tur, genau das. Es gibt eine Sehn­sucht nach Nach­denk­lich­keit und auch nach Wer­ten. Mag sein, dass wie­der absinkt, was zuta­ge tritt, aber es ist da. Und wir tun gut dar­an, genau dar­auf zu reagie­ren. Die Kunst und auf ihre Wei­se auch die Kirchen.