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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Genug der Worte

Seit 70 Jah­ren geht das nun so – immer wie­der heißt es, in Deutsch­land sei kein Platz für Anti­se­mi­tis­mus, aber immer wie­der kommt es zu anti­jü­di­schen Über­grif­fen, wie jetzt in Hal­le. »Wir wer­den jeden Anti­se­mi­tis­mus bekämp­fen«, ver­si­cher­te Kon­rad Ade­nau­er am 11. Novem­ber 1949 gegen­über der All­ge­mei­nen Wochen­zei­tung der Juden in Deutsch­land, »nicht nur weil er uns innen- und außen­po­li­tisch uner­wünscht ist, son­dern weil wir ihn aus Grün­den der Mensch­lich­keit mit aller Ent­schie­den­heit ableh­nen. Wir wer­den die Juden gegen jede Mög­lich­keit neu­er Ver­fol­gun­gen sichern.«

Das sahen die Sicher­heits­be­hör­den in Hal­le allem Anschein nach nicht so eng. Dass die Syn­ago­ge an einem Fei­er­tag wie Jom Kip­pur nicht durch die Poli­zei geschützt war, sei skan­da­lös, sag­te der Prä­si­dent des Zen­tral­ra­tes der Juden, Josef Schu­ster. Aber wie das so ist – wer die Abkehr der Deut­schen vom Anti­se­mi­tis­mus anzwei­fel­te, wur­de als natio­nal unzu­ver­läs­sig hin­ge­stellt, so auch der hes­si­sche Gene­ral­staats­an­walt Fritz Bau­er, der 1963 auf die Fra­ge einer däni­schen Zei­tung, wie es die Deut­schen mit den Juden hiel­ten, geant­wor­tet hat­te, der Hass sei immer noch der gleiche.

Dass der Anti­se­mi­tis­mus etwas mit dem Fort­le­ben nazi­sti­scher Ein­stel­lun­gen zu tun haben könn­te, war und ist nicht über­all geläu­fig. Als die Syn­ago­ge in Düs­sel­dorf zehn Jah­re nach Ade­nau­ers voll­mun­di­gem Ver­spre­chen mit Haken­kreu­zen beschmiert wur­de, such­te die Poli­zei die Schul­di­gen nicht in rechts­ra­di­ka­len Krei­sen, son­dern nahm einen jun­gen Kom­mu­ni­sten als mut­maß­li­chen Täter fest. Der nord­rhein-west­fä­li­sche Innen­mi­ni­ster Duf­hues (CDU) behaup­te­te, es sei­en »bestimm­te poli­ti­sche Kräf­te am Werk«, denen an einer Schä­di­gung des deut­schen Anse­hens im Aus­land gele­gen sei. Zehn Mona­te dau­er­te es bis zur Ein­stel­lung des Ermitt­lungs­ver­fah­rens gegen den zu Unrecht Ver­däch­tig­ten. Die wah­ren Täter wur­den nie ermittelt.

Ähn­li­ches spiel­te sich ab, als 2011 die Mord­se­rie einer recht­ex­tre­mi­sti­schen Grup­pe auf­flog, die im Lau­fe von sechs Jah­ren zehn Men­schen zumeist aus­län­di­scher Her­kunft ermor­de­te. Die Täter wur­den nicht in der rechts­extre­mi­sti­schen Sze­ne gesucht, son­dern im Umfeld und sogar bei den Fami­li­en der Opfer. Der bis heu­te nicht auf­ge­ar­bei­te­te Skan­dal um die NSU-Mor­de gedieh auf dem­sel­ben Boden, auf dem die Anschlä­ge gegen jüdi­sche Ein­rich­tun­gen seit jeher gedei­hen. Obwohl inzwi­schen ein Vier­tel der Bevöl­ke­rung in Deutsch­land aus­län­di­sche Wur­zeln hat, ins­ge­samt sind das mehr als 20 Mil­lio­nen Men­schen, gibt es – wie Umfra­gen immer wie­der erge­ben – bei genau­so vie­len tief sit­zen­de Res­sen­ti­ments gegen­über den Juden.

Sechs Jah­re nach der Kapi­tu­la­ti­on des Nazi­re­gimes woll­te der ame­ri­ka­ni­sche Hoch­kom­mis­sar John McCloy wis­sen, ob sich die Hal­tung der Deut­schen gegen­über den Über­le­ben­den des Mas­sen­mor­des an den Juden geän­dert hat. Die Ergeb­nis­se einer ent­spre­chen­den Umfra­ge deut­scher Insti­tu­te waren ernüch­ternd. 17 Pro­zent der Befrag­ten mein­ten, die Juden hät­ten das gering­ste Recht auf Hil­fe. Für McCloy war die Hal­tung Deutsch­lands gegen­über den Juden ange­sichts der unge­heu­ren Schuld, die das deut­sche Volk ihnen gegen­über tra­ge, die »Zen­tral­fra­ge der inne­ren Rei­ni­gung, mit der die­se steht und fällt«. Die Kathar­sis hat nie stattgefunden.

Im Grun­de hat sich bis heu­te nichts geän­dert. Jeder fünf­te Deut­sche hängt rechts­extre­mi­sti­schen, frem­den­feind­li­chen und anti­se­mi­ti­schen Denk­wei­sen an. Sie zu bedie­nen kann der frei­heit­lich demo­kra­ti­schen Grund­ord­nung nicht bekom­men. Zu viel ist gesche­hen in den Jah­ren seit Deutsch­lands Auf­stieg zu neu­er Grö­ße und dem Erstar­ken der Rechts­po­pu­li­sten, als dass den vie­len schö­nen Wor­ten nicht end­lich Taten fol­gen müss­ten. Ein­mal im Jahr der Opfer des Natio­nal­so­zia­lis­mus zu geden­ken reicht nicht. Das The­ma gehört als Pflicht­fach in den Schul­un­ter­richt. Die Mah­nung des Ausch­witz-Über­le­ben­den Pri­mo Levi steht im Raum: »Es ist gesche­hen, und folg­lich kann es wie­der gesche­hen. Dar­in liegt der Kern des­sen, was wir zu sagen haben.«