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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Geschichtserfahrung konkret

Ein doku­men­ta­ri­scher Roman ist ein eiser­nes Holz, Roman­erzäh­lung und Doku­men­ta­ti­on sind Gegen­sät­ze, die ein­an­der aus­schlie­ßen. Trotz­dem hat es sei­nen guten Sinn, dass Ger­not Häub­lein in sei­nem Buch »Die Gehor­sa­men« die Schick­sa­le drei­er ver­schwä­ger­ter frän­ki­scher Fami­li­en aus der Zeit der bei­den Welt­krie­ge und des Natio­nal­so­zia­lis­mus mit histo­rio­gra­fi­scher Doku­men­ta­ti­on ergän­zend durch­mischt und das Gan­ze einen »doku­men­ta­ri­schen Roman« nennt. Denn das Span­nungs­ver­hält­nis zwi­schen der sub­jek­ti­ven und der objek­ti­ven Ebe­ne, zwi­schen Ein­zel­bio­gra­fie und Geschichts­pro­zess ist auch das Grund­di­lem­ma der soge­nann­ten Erin­ne­rungs­kul­tur, für die weder rei­nes Fak­ten­wis­sen noch blo­ße Empa­thie mit den Opfern allein schon ausreicht.

Bei Häub­lein ist sogar das Roman­haf­te von die­sem inne­ren Wider­spruch durch­zo­gen. Denn erzählt wird nicht von fik­ti­ven Figu­ren, die sich einem dich­te­ri­schen Kon­zept belie­big ein­pas­sen las­sen, son­dern von rea­len Men­schen, die tat­säch­lich exi­stiert haben und damit einen Umriss vor­ge­ben, der nicht abge­wan­delt, son­dern ledig­lich mit etwas Far­be aus­ge­malt wer­den darf. Die­se Ein­schrän­kung der erzäh­le­ri­schen Fan­ta­sie und Frei­heit ver­mag Häub­lein frucht­bar zu machen für eine außer­or­dent­li­che emo­tio­na­le Ver­tie­fung, weil die Fami­li­en, um die es geht, aufs eng­ste mit sei­ner eige­nen Her­kunft, sei­nem Lebens­hin­ter­grund, ver­wo­ben sind.

Von Satz zu Satz spürt man, dass der Autor sich in sehr vie­len Jah­ren abge­ar­bei­tet hat an einem über­kom­me­nen Lei­dens­kos­mos, und muss, wenn man kein Welt­mei­ster der Abge­brüht­heit ist, beim Lesen immer wie­der erschüt­tert inne­hal­ten. Ein­schü­be histo­ri­scher Wis­sens­ver­mitt­lung geben hier dem Gefühl eine Ver­schnauf­pau­se, indem sie ver­sach­li­chend an den Ver­stand appel­lie­ren, und die­ser Wech­sel der Ebe­nen, ver­gleich­bar der Unter­scheid­bar­keit und doch Zusam­men­ge­hö­rig­keit von Ein­at­men und Aus­at­men, macht die­ses Buch so wirk­sam als lebens­na­he Ver­ge­gen­wär­ti­gung einer pro­blem­be­la­de­nen Vergangenheit.

Gehor­sam sind die Men­schen, von denen erzählt wird, eigent­lich nicht so sehr gewohn­ten Obrig­kei­ten als viel­mehr den Denk­mu­stern dif­fu­ser Ideo­lo­gien. Letzt­lich sind sie nicht gehor­sam, son­dern eher aus­ge­lie­fert. Das gilt zu Beginn für Dora Türk, die den jun­gen Anton Roth, der sie geschwän­gert hat, von sich stößt, weil er der Sohn eines getauf­ten Juden ist. Es gilt für Anton, der nur noch im Selbst­mord einen Aus­weg sieht, und auf ande­re Wei­se für den Leh­rer Karl Fleisch­mann, der die unehe­li­che Toch­ter Doras und Antons hei­ra­tet, zum begei­ster­ten Nazi wird, am Ende ein dra­ma­ti­sches Spruch­kam­mer­ver­fah­ren durch­läuft, das zum Berufs­ver­bot führt, und eine iro­ni­sche Schluss­poin­te setzt, indem er das gol­de­ne NSDAP-Par­tei­ab­zei­chen mit der sehr frü­hen Mit­glieds­num­mer 109 mit ins Grab nimmt. Ergän­zend zu die­sen Lebens­schil­de­run­gen gibt es in vie­len doku­men­ta­ri­schen Zwi­schen­tex­ten detail­rei­che und fun­dier­te Infor­ma­ti­on über den Auf­stieg der NSDAP zur tota­li­tä­ren Herr­schaft, den Kriegs­ver­lauf und die kon­ti­nu­ier­li­che Stei­ge­rung der Juden­ver­fol­gung bis zur Ermor­dung von Millionen.

Weil die­ses Buch, in rhyth­mi­schem Wech­sel, Herz und Hirn glei­cher­ma­ßen anspricht, dürf­te es her­vor­ra­gend geeig­net sein, nach­wach­sen­de Gene­ra­tio­nen mit einer Geschich­te ver­traut zu machen, die erin­nert wer­den muss, um ver­gan­gen zu sein.

Ger­not Häub­lein: Die Gehor­sa­men. Doku­men­ta­ri­scher Roman über drei deut­sche Fami­li­en 1878-1949. Ver­gan­gen­heits­ver­lag, 456 Sei­ten, 18