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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Herrschaft ohne Ordnung

Etwas für die Post-Mer­kel-Ära schon jetzt Eigen­tüm­li­ches ist die Poli­ti­sie­rung von Begrif­fen und Kon­zep­ten. Nach 16 Jah­ren der poli­ti­schen Bie­der­meie­rei wird wie­der poli­tisch gedacht und geschrie­ben. Das ist wich­tig. Geschlecht, Frie­den und Pazi­fis­mus, Sicher­heit und Gesund­heit, Gerech­tig­keit und nun also auch die Frei­heit wer­den als Kon­zep­te dis­ku­tiert und erör­tert. Sol­che Debat­ten, die sowohl mora­lisch wirk­mäch­tig wer­den als auch eine rea­li­täts­bil­den­de Kraft haben, sind für eine Demo­kra­tie unent­behr­lich und zuwei­len auf­klä­re­ri­scher als so man­che Dis­kus­si­on über die genaue Höhe des Min­dest­loh­nes oder den Ener­gie­mix des Süd­saar­lan­des. An der Debat­te rund um die Frei­heit betei­li­gen sich aka­de­mi­sche Den­ker wie Oli­ver Nachtwey und Caro­lin Amlin­ger, Sprin­ger Jour­na­li­sten wie Anna Schnei­der und Ulf Pos­ch­ardt, dem öffent­li­chen Den­ken zuge­neig­te Poli­ti­ker wie Robert Habeck, Wolf­gang Kubicki und Karl Lau­ter­bach.  Es ist die wohl span­nend­ste Debat­te der letz­ten Jahre.

Die dabei beson­ders akti­ven Libe­ra­len und Liber­tä­ren der Sprin­ger Pres­se und eini­ge beson­ders laut­star­ke Hin­ter­bänk­ler der FDP pro­pa­gie­ren dabei eine klas­si­sche Idee von Frei­heit. Offen­sicht­lich neh­men sie an, nur ihre Denk­wei­se kann Frei­heit wirk­lich wol­len kön­nen. Der Staat tritt in ihrer Erzäh­lung mit sei­ner ver­meint­li­chen Über­re­gu­lie­rung als gro­ßer Gegen­spie­ler der Frei­heit auf, als die­je­ni­ge Macht, die uns als Indi­vi­du­en die Auto­no­mie, also die Selbst­ge­setz­ge­bung, ver­un­mög­licht. Doch sind Ver­bo­te und Vor­schrif­ten wirk­lich gegen die Frei­heit gerich­tet? Exi­stiert die­ser Ziel­kon­flikt zwi­schen Frei­heit und Ordnung?

Zuerst eine klei­ne Ein­ord­nung. Über Frei­heit wur­de histo­risch nicht nur aus dem Bauch her­aus gedacht. Sozia­li­sten und Libe­ra­le betrach­ten bei­de die Frei­heit als den viel­leicht wich­tig­sten zu ver­wirk­li­chen­den Wert einer poli­ti­schen Ord­nung. Nur, was Frei­heit ist und wie sie zu erlan­gen ist, da schei­den sich die Gei­ster. Die Libe­ra­len beru­fen sich auf die Tra­di­ti­on des »klas­si­schen Libe­ra­lis­mus«. Des­sen Gedan­ken­welt wird aller­dings von der Sprin­ger­pres­se regel­mä­ßig stark ver­kürzt. Klas­si­sche Libe­ra­le wie John Stuart Mill und Fried­rich von Hay­ek wer­den oft als Staats­geg­ner ein­ge­ord­net. Das stimmt natür­lich zum Teil, denn Mill z. B. sah auch die nicht regu­lier­te Gesell­schaft und ihre Kräf­te als eine Gefahr für die Frei­heit an, und auch Hay­ek mahn­te, die Frei­heit nicht als Pro­dukt der Schöp­fung zu sehen, son­dern als ein Pro­dukt der Ordnung.

Auf der ande­ren Sei­te ste­hen Den­ker lin­ker oder kon­ser­va­ti­ver Tra­di­tio­nen wie Fried­rich Wil­helm Hegel, Pierre-Joseph Proudhon, Karl Marx, Niklas Luh­mann, Karl Mann­heim oder Tho­mas Hob­bes. Mann­heim spricht von der not­wen­di­gen Pla­nung der Frei­heit, Proudhon von der Her­stel­lung einer Ord­nung ohne Herr­schaft, Hegel vom Wider­spruch der vie­len frei­en Ichs, Luh­mann begreift Markt und Staat als im glei­chen Maße poten­zi­ell Auto­no­mie-ein­schrän­ken­de Mäch­te, und Marx erläu­tert die Frei­heits-ein­schrän­ken­de Macht von Eigen­tum und Lohn­ar­beit. Kurz­um, Frei­heit ist für die letzt­ge­nann­ten nicht auto­ma­tisch durch ein Zurück­drän­gen des Staa­tes zu gewinnen.

Die Fra­ge nach der Legi­ti­ma­ti­on staat­li­cher Ord­nung und nach der Mög­lich­keit und dem Impe­ra­tiv der Mani­fe­sta­ti­on von Frei­heit könn­te man als die Grund­fra­ge der Poli­ti­schen Theo­rie bezeich­nen. War­um darf der Staat sein? War­um darf er han­deln? Etli­che Den­ker haben sich die­se Fra­gen gestellt. Einer der wich­tig­sten war Tho­mas Hob­bes. In sei­nem berühm­ten Werk »Levia­than« kehrt er die Legi­ti­ma­ti­ons­fra­ge aber um: Was legi­ti­miert den Natur­zu­stand? Das Leben im Natur­zu­stand ist, so Hob­bes, ein­sam, arm, häss­lich, bru­tal und kurz. Ein sol­ches Leben kann man wohl kaum als frei und selbst­be­stimmt bezeich­nen, ohne dabei, wie der neue (Vulgär-)Liberalismus, in einen pro­ble­ma­ti­schen Zynis­mus zu ver­fal­len, wonach also nur der aus­ge­beu­te­te, geknech­te­te und not­dürf­ti­ge Mensch als frei gilt. Die­se Annah­me beruht auf gro­ßen Irrtümern.

Der erste Irr­tum des liber­tä­ren Frei­heits­be­griffs ist es, den Staat als zen­tra­len Gegen­spie­ler der Frei­heit zu sehen. Das ergä­be viel­leicht Sinn, wenn der Staat Nord­ko­rea, Sau­di-Ara­bi­en oder Iran heißt, aber wenn es sich um einen demo­kra­ti­schen Rechts­staat han­delt, dann muss hier anders gedacht wer­den. Michel Fou­cault – mit ande­rer Inten­ti­on – beschrieb den Unter­scheid zwi­schen dem vor­mo­der­nen und dem moder­nen Staat als den Unter­scheid zwi­schen ster­ben machen und leben las­sen und ster­ben las­sen und leben machen. Die Macht wur­de im libe­ra­len Staat pro­duk­ti­ver und demo­kra­ti­scher. Sie hör­te auf, blo­ße Repres­si­on zu sein, und wur­de eine im Sin­ne der Frei­heit ord­nen­de Kraft. Der moder­ne Staat ist nicht der Feind der Frei­heit, son­dern der Ver­such, sie zu ermöglichen.

Natür­lich kann auch ein moder­ner Staat gegen die Frei­heit han­deln, aber das ist nicht not­wen­di­ger­wei­se der Fall. Es gibt kei­nen immer­wäh­ren­den Ziel­kon­flikt zwi­schen Frei­heit und Ord­nung. Es gibt vie­le Insti­tu­tio­nen, die die Hand­lungs­op­tio­nen des Ein­zel­nen ein­schrän­ken: Staat, Arbeits­or­ga­ni­sa­ti­on, Fami­lie, Sit­te, Markt. Es gibt kei­nen Grund anzu­neh­men, dass der Staat der ein­zi­ge oder gar domi­nie­ren­de »Ein­schrän­ker« wäre. Wem etwas an der Frei­heit liegt, der muss die Rol­le aller »Ein­schrän­ker« zurück­drän­gen. Denn Frei­heit kann nur herr­schen, wenn nie­mand das Recht hat, sie ein­zu­schrän­ken. Ohne kri­ti­schen Blick auf die Macht der Arbeit­ge­ber über ihre Ange­stell­ten, der Väter über ihre Kin­der, der Sit­te und des Mark­tes for­der­te man nur die Befrei­ung von dem­je­ni­gen »Ein­schrän­ker« der die ande­ren »Ein­schrän­ker« im Zaum hält. Der »Ein­schrän­ker« Staat tritt hier als Meta­ein­schrän­ker auf. Der Staat ver­bie­tet es z. B. dem Vater, sein Kind zu züch­ti­gen, dem Arbeit­ge­ber, vom Arbeit­neh­mer mehr als eine gewis­se Anzahl an Stun­den Arbeit zu ver­lan­gen. Am Ende der Regu­lie­rung steht hier ein Mehr an Frei­heit – etwas, das »Vul­gär­li­be­ra­len« durch­aus klar ist, wenn es um den Schutz des Eigen­tums geht.

Der Staat tritt in einer ech­ten Demo­kra­tie als macht­be­gren­zen­de Macht auf. Als power to limit power. Die­se Meta­macht nimmt die not­wen­di­ge Pla­nung der Frei­heit erst vor. Die­se Pla­nung ist not­wen­dig, weil in der Nicht­ord­nung die ein­schrän­ken­de Macht etwa des Arbeit­ge­bers oder des Vaters so stark wir­ken kann, dass sie die Frei­heit der weni­ger Mäch­ti­gen zu sehr ein­schränkt. Hier muss der Staat also begren­zen und, wo nötig, ver­bie­ten. Den Mäch­ti­gen die Aus­übung ihrer auf Kosten ande­rer gehen­de Frei­heit zu ver­bie­ten, ist kein gegen die Frei­heit gerich­te­tes Ver­bot. Es ist im Sin­ne der Frei­heit, die Auto­no­mie aller im Blick zu haben und zu schüt­zen oder, wie es Fried­rich Ebert for­mu­lier­te: »Jede Frei­heit, an der meh­re­re teil­neh­men, braucht eine Ordnung.«

Der zwei­te Irr­tum des Liber­ta­ris­mus ist es, den inne­ren Wider­spruch der Frei­heit nicht zu beach­ten. Frei­heit heißt gleich­zei­tig Hand­lungs­op­ti­ons­viel­falt und Recht auf Nicht-Ein­mi­schung; es kann also vor­kom­men – und kommt vor –, dass die Hand­lungs­op­ti­ons­viel­falt eines Ein­zel­nen das Recht auf Nicht-Ein­mi­schung eines ande­ren ver­letzt. Die­se Inter­de­pen­denz der Frei­heit muss dahin­ge­hend gelöst wer­den, dass man nur so frei sein darf, wie die Frei­heits­rech­te der ande­ren nicht dar­un­ter lei­den. Das ist die Begrün­dung des Mord­ver­bots oder der Ruhe­stö­rung. Wenn wir alle unse­re Hand­lungs­op­tio­nen voll­ends aus­schöp­fen, ver­let­zen wir zwangs­läu­fig die Frei­heits­rech­te ande­rer. Frei­heit ist im Kern also poli­tisch. Ein anschau­li­ches Bei­spiel ist der Stra­ßen­ver­kehr: Für Vul­gär­li­be­ra­le ist jede Ein­schrän­kung der Hand­lungs­op­tio­nen der Auto­fah­ren­den ein gegen die Frei­heit gerich­te­tes Ver­bot. Ein Ziel­kon­flikt zwi­schen Frei­heit und Ord­nung. In Wahr­heit han­delt es sich aber um einen Ziel­kon­flikt zwi­schen Frei­heit und Frei­heit. Dort, wo kein Auto fah­ren oder par­ken darf, da wird ein Rad- oder Fuß­gän­ger­raum ent­ste­hen. Das Ver­lan­gen des Rad­fah­rers und des Fuß­gän­gers nach mehr Raum in der Öffent­lich­keit ist der Kampf um mehr Frei­heit. Die Frei­heit des Fuß­gän­gers und des Rad­fah­rers nicht als legi­tim zu sehen, soll­te kaum als libe­ral gel­ten dürfen.

Der viel­leicht größ­te Irr­tum, und hier han­delt es sich um eine stum­me Prä­po­si­ti­on, ist die Ansicht, dass es sich bei der Frei­heit um ein Pro­dukt der Natur hand­le. In der ana­ly­ti­schen Phi­lo­so­phie nennt man das den natu­ra­li­sti­schen Fehl­schluss, die logi­sche Fehl­an­nah­me, etwas sei rich­tig, weil es natür­lich ist. Die viel kom­pli­zier­te­re Ansicht, dass Frei­heit erst geschaf­fen wer­den muss und sich nicht natur­wüch­sig ein­stellt, wider­spricht all jenen Ver­su­chen, die Frei­heit als das Gegen­stück der Ord­nung zu defi­nie­ren. Das Zebra im Mund des Löwen als frei zu betrach­ten, ist der gro­ße Denk­feh­ler des Vul­gär­li­be­ra­len. Wofür der Liber­tä­re strei­tet – ob gewollt oder unge­wollt –, ist nicht die Frei­heit, son­dern die Herr­schaft derer, die mehr Macht haben, bezie­hungs­wei­se die sich im frei­en Spiel der Kräf­te mani­fe­stie­ren­de Herr­schaft. Eine ord­nungs­lo­se Herr­schaft – im Gegen­satz zu Proudhons Ambi­ti­on der Her­stel­lung einer Ord­nung ohne Herr­schaft, der sich Anar­chie, Sozia­lis­mus und Sozi­al­de­mo­kra­tie ver­schrie­ben haben.

Die Bil­der des über­eif­ri­gen, über­re­gu­lie­ren­den, gegen die Frei­heit han­deln­den Ver­bots­staa­tes sind ein­fach und gän­gig, sie insi­nu­ie­ren, dass die Frei­heit mit weni­ger Ord­nung grö­ßer wäre und Frei­heit kei­ner Pla­nung bedür­fe. Das ist mehr als nur ein Irr­tum. Frei­heit bedarf der Pla­nung, der Abwä­gung kon­kur­rie­ren­der Frei­hei­ten. Denn ohne Macht-ein­schrän­ken­de Ord­nung sind wir ord­nungs­los, aber nicht min­der, unter­wor­fen. Nicht ohne Grund wird in lin­ken Tra­di­tio­nen oft die Eman­zi­pa­ti­on als Begriff genutzt. Eman­zi­pa­ti­on, die Ent­las­sung aus der Gewalt des Vaters setzt als Begriff erst den posi­ti­ven Akt vor­aus. Nicht das Los­las­sen des Liber­tä­ren, son­dern das Befrei­en des Eman­zi­pa­to­ri­schen ist die Frei­heit. Oft wird Frei­heit als eine Art Trotz­dem ver­wen­det. Das trotz­dem der Frei­heit, dass sich durch­aus zu Recht aus der Ver­nunft erhebt, kann nicht ein trotz­dem der Frei­heit der ande­ren sein. Es kann und muss der Macht und der Herr­schaft in all sei­nen For­men trot­zen, aber es kann nicht der Frei­heit trot­zen. Ein an der Frei­heit aller inter­es­sier­ter Libe­ra­lis­mus, der mehr will als ein frei­es Spiel der Mäch­te, an des­sen Ende die Herr­schaft ohne Ord­nung steht, muss alle Ein­schrän­ker in die Pflicht der Frei­heit neh­men – sei es den Staat, den Markt oder den Vater.