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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Formierte Gesellschaft 2023

Wer kürz­lich den Spiel­film »Wajib – eine Hoch­zeit in Naza­reth« bei der ARD anschau­en woll­te, sah sich ent­täuscht. Die von der Kri­tik ein­hel­lig gelob­te Tra­gi­ko­mö­die, ohne­hin schon ins Nacht­pro­gramm ver­bannt, war von der ARD-Pro­gramm­di­rek­ti­on ent­fernt wor­den: »Vor dem Hin­ter­grund der jüng­sten Ereig­nis­se in Nah­ost hal­ten wir ihn aktu­ell auf­grund sei­ner Erzähl­per­spek­ti­ve allein­ste­hend für nicht rich­tig im Pro­gramm plat­ziert.« Am glei­chen Tag druck­te die über­re­gio­na­le Tages­zei­tung BNN mei­ne Stel­lung­nah­me zur Lage in Gaza zwar ab – zwei Sät­ze fehl­ten aber: Gecan­celt wur­de ein Zitat von Amne­sty Inter­na­tio­nal von 2022, in dem bezüg­lich Isra­els Poli­tik gegen­über Palä­sti­nen­sern von Apart­heid die Rede war. Der ande­re Satz infor­mier­te über Beschlüs­se der israe­li­schen Regie­rung, Tei­le des West­jor­dan­lan­des zu annektieren.

Die Fäl­le von Sprach­re­ge­lung, Zen­sur und Can­celn häu­fen sich; durch ihre All­täg­lich­keit lernt man, was man bei Stra­fe nicht sagen, nicht ein­mal den­ken darf. Auch Pro­mi­nen­te kann es tref­fen, wenn sie von der staat­lich sank­tio­nier­ten Mei­nung abwei­chen. Seit Jah­ren wur­de Gre­ta Thun­berg zu einer Iko­ne der Kli­ma­be­we­gung auf­ge­baut – bis sie kürz­lich als sol­che gestürzt und von Medi­en und Par­tei­en zur öffent­li­chen Fein­din erklärt wur­de. Ihre »Schuld«: Sie hat­te mit drei Akti­vi­stin­nen sofor­ti­gen Waf­fen­still­stand, Gerech­tig­keit und Frei­heit für Palä­sti­nen­ser und alle betrof­fe­nen Zivi­li­sten gefor­dert. Der Spie­gel wid­me­te ihr und den »lin­ken Fein­den Isra­els« dar­auf­hin eine Titel­ge­schich­te. Tenor: Sie habe sich als Anti­se­mi­tin ent­larvt. Die Bele­ge dafür sind gro­tesk (s. Nach­Denk­Sei­ten, 21.11.23). Und der Grü­nen-Poli­ti­ker Vol­ker Beck legt nach: Sie sei »haupt­be­ruf­li­che Isra­el­has­se­rin«! Fazit von Jens Ber­ger, NDS: »Mei­nungs­frei­heit ist ein hohes Gut, solan­ge es sich um die rich­ti­ge Mei­nung han­delt. Man steu­ert den Dis­kurs, besitzt die Deu­tungs­ho­heit und ver­tei­digt sie (…) auch mit har­ten Schlä­gen unter die Gür­tel­li­nie. Bestra­fe einen, erzie­he hundert.«

Am 18.10. ver­teil­te die ARD ein »Glos­sar zur inter­nen Nut­zung«. Inhalt: 44 Sei­ten Sprach­re­ge­lung zum Krieg in Gaza. Kost­pro­be aus dem Text: »Wir spre­chen wei­ter­hin von ›Angriff/​en aus Gaza auf Isra­el‹ oder ›Terrorangriff/​en auf Isra­el‹. (…) Was unbe­dingt ver­mie­den wer­den muss, sind Wor­te wie ›Gewalt­spi­ra­le‹. Die israe­li­sche Armee fliegt als Reak­ti­on Angrif­fe im Gaza-Strei­fen. Zie­le waren in der Ver­gan­gen­heit stets mili­tä­ri­sche Ein­rich­tun­gen der Hamas. Wie bereits von der Chef­re­dak­ti­on fest­ge­legt, soll­ten wir nicht euphe­mi­stisch von Hamas-›Kämpfern‹, son­dern von Ter­ro­ri­sten schrei­ben und spre­chen.« Wie­viel Ver­ach­tung demo­kra­ti­scher Grund­rech­te steckt in die­ser inter­nen Anwei­sung, wie­viel Angst vor den Bür­ge­rin­nen und Bür­gern! Lebt Demo­kra­tie nicht von infor­mier­ten, auf­ge­klär­ten Menschen?

Die deut­sche Staats­rä­son ver­tei­digt angeb­lich die Sicher­heit Isra­els. Sie hat nach Pro­fes­sor Masa­la (Uni­ver­si­tät der Bun­des­wehr) »mora­lisch, poli­tisch eine Art Ver­fas­sungs­rang«. Da wird eine Art Neben­ver­fas­sung kon­stru­iert, unge­schrie­ben, aber macht­voll und straf­be­wehrt. Dazu zählt die unver­brüch­li­che trans­at­lan­ti­sche Part­ner­schaft – und sei es um den Preis von USA-Vasal­len­tum; oder die bedin­gungs­lo­se mili­tä­ri­sche Unter­stüt­zung der Ukrai­ne, die gigan­ti­sche Auf­rü­stung der Zei­ten­wen­de oder der Kapi­ta­lis­mus. All das steht nicht in der Ver­fas­sung, erhält aber den Rang – not­falls mit­hil­fe begriff­li­cher Kon­struk­tio­nen wie »frei­heit­lich-demo­kra­ti­sche Grund­ord­nung«, gegen die zu ver­sto­ßen einen »Ver­fas­sungs­feind« entlarvt.

In einem (für die taz bemer­kens­wert kri­ti­schen) Bei­trag beschreibt der Autor, wie in Ber­lin zuneh­mend pro­pa­lä­sti­nen­si­sche Künst­ler aus­ge­la­den, Ver­an­stal­tun­gen abge­sagt wer­den. Eine Foto-Aus­stel­lung mus­li­mi­schen Lebens von Rapha­el Malik muss­te wei­chen, die Volks­büh­ne lud den frü­he­ren Labour-Vor­sit­zen­den Cor­byn von einem Vor­trag aus: Er habe sich nicht aus­rei­chend von anti­se­mi­ti­schen Posi­tio­nen distan­ziert. Lesun­gen bekann­ter AutorIn­nen wer­den gecan­celt. Die Preis­ver­lei­hung an die palä­sti­nen­si­sche Autorin Ada­nia Shi­b­li: abge­sagt. Die Justiz zieht mit: Bei Ver­wen­dung des palä­sti­nen­si­schen Spruchs »From the River to the sea« soll künf­tig der »Anfangs­ver­dacht des Ver­wen­dens ver­fas­sungs­wid­ri­ger und ter­ro­ri­sti­scher Orga­ni­sa­ti­on bejaht sein«, wie der Spre­cher der Gene­ral­staats­an­walt­schaft Stutt­gart sprach­lich ver­quer bei dpa zitiert wird.

Wenn der Staat das Grund­recht auf Mei­nungs- und Pres­se­frei­heit nur nach Maß­ga­be der Staats­rä­son aner­kennt, muss er wohl die Men­schen­rech­te auch nicht so ernst neh­men. Wäh­rend nach CDU-Gesetz­ent­wür­fen Bewer­ber um die Staats­bür­ger­schaft ver­pflich­tet wer­den sol­len, einen Treue­schwur auf das Exi­stenz­recht Isra­els zu lei­sten, hört man kei­nen Pro­test von Regie­rung und kon­for­men Par­tei­en, eben­so wenig, wenn israe­li­sche Poli­ti­ker von »human ani­mals« in Gaza spre­chen und als Ziel der Bom­bar­de­ments, denen bereits 13.000 Men­schen zum Opfer gefal­len sind, maxi­ma­le Zer­stö­rung nen­nen und eine eth­ni­sche Säu­be­rung (»Gaza-Nak­ba«) befür­wor­ten. Wenn Kri­tik an der Poli­tik Isra­els mit Anti­se­mi­tis­mus gleich­ge­setzt wird, wird der Kampf gegen letz­te­ren ad absur­dum geführt.

Die­se Poli­tik hat nichts mit Wer­ten und Moral zu tun, sie ist oppor­tu­ni­stisch und heuch­le­risch: Moral ist nur die Ver­packung einer gna­den­lo­sen Inter­es­sen­po­li­tik. Dass sie mit­nich­ten den Frie­den för­dert, ist offen­kun­dig. Weder in der Ukrai­ne noch in Gaza hat sie Frie­dens­in­itia­ti­ven ergrif­fen oder unter­stützt – ganz im Gegen­teil. Kei­ne UN, kein Papst, schon gar nicht zahl­rei­che Auf­ru­fe und Appel­le der Zivil­ge­sell­schaft oder der inter­na­tio­na­len Gemein­schaft konn­ten die mili­ta­ri­sier­te »Zei­ten­wen­de« brem­sen. Nach wie vor gilt die bedin­gungs­lo­se Gefolg­schaft gegen­über USA und Nato und die eben­so bedin­gungs­lo­se Unter­stüt­zung einer rechts­extre­men Regie­rung, die das Men­schen- und Völ­ker­recht miss­ach­tet und Kriegs­ver­bre­chen begeht. Ver­geb­lich die Kri­tik, die Appel­le und fle­hent­li­chen Bit­ten jüdi­scher und jüdisch-palä­sti­nen­si­scher Orga­ni­sa­tio­nen um eine an Men­schen­rech­ten ori­en­tier­te Politik.

Der Bun­des­tag plant mit einer brei­ten Mehr­heit der Ampel­ko­ali­ti­on plus CDU/​CSU die Ein­füh­rung eines Vete­ra­nen­ta­ges. Gleich­zei­tig bekennt sich Kanz­ler Scholz zu einem dau­er­haf­ten Anstieg der Mili­tär­aus­ga­ben, auch nach­dem das Son­der­ver­mö­gen auf­ge­braucht ist. Die kürz­lich ver­ab­schie­de­ten »Ver­tei­di­gungs­po­li­ti­schen Richt­li­ni­en« beinhal­ten kei­ne gro­ßen Über­ra­schun­gen. Der eige­ne Anteil an den Ursa­chen der Kri­sen und Krie­ge in der Welt wird aus­ge­blen­det; die­se sol­len einer mili­tä­ri­schen Lösung zuge­führt wer­den. »Alle Struk­tu­ren und Pro­zes­se müs­sen dem über­ge­ord­ne­ten Ziel der Wehr­haf­tig­keit und, für den Fall der Streit­kräf­te, der Kriegs­tüch­tig­keit die­nen.« Nicht nur die Streit­kräf­te, wir müs­sen, Deutsch­land muss kriegs­tüch­tig wer­den, sagt Kriegs­mi­ni­ster Pisto­ri­us – auch das ist inzwi­schen nicht hin­ter­frag­ba­re Staatsräson.

Der Inlands­ge­heim­dienst berei­tet sich auf Dis­si­denz und Wider­stand vor: Ein »Dele­gi­ti­mie­rungs­spek­trum« suche nach The­men wie die »wirt­schaft­li­chen und poli­ti­schen Fol­gen des rus­si­schen Angriffs­kriegs gegen die Ukrai­ne« für Agi­ta­ti­on gegen den Staat. Dies müs­se als »ver­fas­sungs­schutz­re­le­van­te Dele­gi­ti­ma­ti­on des Staa­tes« ver­folgt wer­den. »Die die­sem Phä­no­men­be­reich zuge­ord­ne­ten Akteu­re zie­len dar­auf ab, das Ver­trau­en in das staat­li­che System zu erschüt­tern und des­sen Funk­ti­ons­fä­hig­keit zu beein­träch­ti­gen«, schreibt das Bun­des­amt für Ver­fas­sungs­schutz. Wäh­rend die Repres­si­on nach innen zunimmt und ein auto­ri­tä­rer Staat Kri­ti­ker als Fein­de behan­delt, wird die­se Poli­tik nach außen zuneh­mend zur Bedro­hung des Weltfriedens.

Die Zei­ten haben sich geän­dert, aber wir erken­nen im Bestre­ben der Macht­eli­te Muster einer alten deut­schen Ideo­lo­gie, den von Bun­des­kanz­ler Lud­wig Erhard gepräg­ten Slo­gan von der »for­mier­ten Gesell­schaft«. Wiki­pe­dia beschreibt sie euphe­mi­stisch als Gesell­schafts­ord­nung, in der die Ver­bän­de und Par­tei­en nicht mehr um ihre Inter­es­sen kämp­fen, son­dern alle Ein­zel­in­ter­es­sen dem »Gemein­wohl« unter­ord­nen. Wo bit­te ist der Unter­schied zu Putins »gelenk­ter Demo­kra­tie«? In einer deut­li­chen Gegen­re­de (»Elf Fest­stel­lun­gen zur For­mier­ten Gesell­schaft«) urteil­te damals Rein­hard Opitz 1966 in den Blät­tern für deut­sche und inter­na­tio­na­le Poli­tik: Die Inten­tio­nen der füh­ren­den deut­schen Wirt­schafts­krei­se sei­en dar­auf gerich­tet, West­eu­ro­pa »poli­tisch, wirt­schaft­lich und mili­tä­risch zu for­mie­ren, es also (…) den Zie­len der eige­nen Poli­tik gemäß aus­zu­rich­ten. (…) Die Demo­kra­tie soll (…) dies­mal nicht weg­ge­putscht, sie soll auf eine lega­le und der Bevöl­ke­rung mög­lichst unmerk­li­che, eben ›moder­ne‹ Art weg­ma­ni­pu­liert wer­den.« Mit Hil­fe neu­er Tech­ni­ken des Regie­rens sol­le der poli­ti­sche und welt­an­schau­li­che Plu­ra­lis­mus über­wun­den, soll die öffent­li­che Mei­nung for­miert wer­den. Wie aktu­ell die­se Sät­ze klin­gen. Immer­hin durf­te man damals noch nicht von Kriegs­tüch­tig­keit reden.