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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Tacheles reden

Dem deut­schen Kul­tur­be­trieb ist ange­sichts des Ter­rors der Hamas am 7. Okto­ber in Isra­el ein unheim­li­ches Schwei­gen vor­ge­wor­fen wor­den – man ver­mis­se Mensch­lich­keit und Empa­thie. Unter dem Mot­to: »Gegen das Schwei­gen, gegen Anti­se­mi­tis­mus«, hat am 27. Novem­ber ein sicher gut gemein­tes Soli­da­ri­täts­kon­zert im Ber­li­ner Ensem­ble unter viel media­lem Bei­fall demon­striert, was man tun muss, um sich über der­art mora­li­sche Frag­wür­dig­keit zu erhe­ben. Man soll­te aber die übri­ge Kul­tur­sze­ne nicht unwi­der­spro­chen im Zwie­licht des Tadels ste­hen las­sen. Denn das ver­meint­li­che Schwei­gen ist sicher kein Schwei­gen aus Gleich­gül­tig­keit oder gar emo­tio­na­ler Distanz. Es ist eine gro­ße Trau­rig­keit aus­ge­bro­chen, in der sich das schnel­le Bescheid­wis­sen nicht emp­fiehlt. Es ist ein Schwei­gen aus Rat­lo­sig­keit und wohl auch aus Rück­sicht­nah­me. Denn wer jetzt sein Schwei­gen bricht, muss Tache­les reden. Die­sen Mut hat man auf der Büh­ne des Ber­li­ner Ensem­bles weit­ge­hend vermisst.

Was der­zeit im Nahen Osten und dar­über hin­aus eska­liert, ist nicht das Ergeb­nis von Anti­se­mi­tis­mus, son­dern von Anti-Poli­tik. Seit über 70 Jah­ren sind Ara­ber und Juden nicht bereit, sich die­ses geschichts­träch­ti­ge Palä­sti­na fried­lich mit­ein­an­der zu tei­len. Und die inter­na­tio­na­le Gemein­schaft, die die Grün­dung des Staa­tes Isra­el nicht eben sen­si­bel ein­ge­lei­tet hat, ist unfä­hig, eine dau­er­haf­te, trag­fä­hi­ge Lösung anzu­bie­ten. Künst­ler und Intel­lek­tu­el­le haben in all den Jah­ren empa­thisch ver­sucht, mit ihrem Ver­mö­gen Fremd­heit und Hass ent­ge­gen­zu­tre­ten und statt­des­sen Brücken des gegen­sei­ti­gen Ver­ständ­nis­ses zu bau­en – auch sie ste­hen vor einem Trüm­mer­hau­fen. Aber man kann sie für das Schei­tern nicht ver­ant­wort­lich machen.

Die Berich­te der Über­le­ben­den des Pogroms der Hamas im Kib­buz Kfar Aza und Umge­bung sind ent­setz­lich, jeder Mensch mit Herz möch­te trö­stend an ihrer Sei­te ste­hen. Den­noch greift die For­de­rung nach bedin­gungs­lo­ser Soli­da­ri­tät mit Isra­el zu kurz. Wer oder was ist Isra­el? Die Gesell­schaft ist tief gespal­ten – Spalt beschö­nigt noch, es besteht eine tie­fe Kluft zwi­schen den Anhän­gern der ultra­rech­ten Regie­rung Netan­ja­hu und den meist säku­la­ren Israe­lis, die seit Mona­ten mil­lio­nen­fach auf der Stra­ße demo­kra­ti­sche Struk­tu­ren ver­tei­di­gen woll­ten. Israe­li­sche Künst­ler und Intel­lek­tu­el­le haben Kanz­ler Scholz im März die­ses Jah­res gebe­ten, den Ber­lin-Besuch von Ben­ja­min Netan­ja­hu abzu­sa­gen. Weil die Ein­la­dung des Chefs der rech­te­sten Regie­rung, die Isra­el in sei­ner Geschich­te je hat­te, der Demo­kra­tie­be­we­gung im Lan­de scha­de. Doch Staats­rai­son ging vor Demokratieverlust.

Ange­sichts des Kriegs­rechts sind die Pro­test-Demon­stran­ten nun auch still gewor­den sind. Was unter­schei­det das Schwei­gen die­ser uns Ver­bün­de­ten von unse­rem eige­nen Schwei­gen? Wie soll man sich erklä­ren, dass aus­ge­rech­net im von Shoa-Über­le­ben­den gegrün­de­ten Staat mehr­heit­lich rechts­extrem gewählt wur­de? Dass gar Finanz­mi­ni­ster Beza­lel Smo­t­rich, der sich selbst als »faschi­sti­schen Homo­pho­ben« rühmt, vom kor­rup­ti­ons­ver­däch­ti­gen Netan­ja­hu die Kon­trol­le über gro­ße Tei­le der besetz­ten Gebie­te über­tra­gen bekom­men hat. Und dort gegen­über den Palä­sti­nen­sern ein ande­res Rechts­sy­stem durch­setzt, als es für die benach­bar­ten israe­li­schen Sied­ler gilt. Was Amne­sty Inter­na­tio­nal oder Human Rights Watch wie auch jüdi­sche Intel­lek­tu­el­le in Isra­el, Euro­pa und den USA ver­an­lasst hat, die Besat­zung als Apart­heid zu verurteilen.

Wie soll man die Pro­vo­ka­ti­on ver­kraf­ten, wenn der auch für die besetz­ten Gebie­te zustän­di­ge Sicher­heits­mi­ni­ster Ita­mar Ben-Gvir, einst ver­ur­teilt wegen Unter­stüt­zung ter­ro­ri­sti­scher Ver­ei­ni­gun­gen, als »reli­giö­ser Faschist« gilt – so bezeich­net von dem Poli­to­lo­gen der Ben-Guri­on-Uni­ver­si­tät Dani Filc, der eine Ero­si­on des mora­li­schen Gefü­ges in der israe­li­schen Gesell­schaft sieht. »Die jahr­zehn­te­lan­ge Besat­zung der Palä­sti­nen­ser-Gebie­te braucht Ras­sis­mus, um sich zu legi­ti­mie­ren. Das bringt gewis­se Tabus zu Bruch.«

Wer jetzt beschließt, nicht zu schwei­gen, muss die­se Tabus benen­nen. Dar­an man­gel­te es der mit gro­ßem Medi­en­lob beglei­te­ten Ver­an­stal­tung von Ver­tre­tern der Kul­tur­sze­ne im Ber­li­ner Ensem­ble. Dort wur­de, soweit der Bericht­erstat­tung zu ent­neh­men war, das Anti­se­mi­tis­mus-Nar­ra­tiv als Erklä­rung für die Ursa­che von Hass und Gewalt benutzt und der Kampf dage­gen als wich­tig­ste Vor­aus­set­zung zur Bei­le­gung des Kon­flik­tes beschwo­ren. Doch der gänz­lich unbrauch­ba­re, inko­hä­ren­te Begriff des Anti­se­mi­tis­mus ver­wirrt mehr, als er erklärt. Er hebt die Debat­te aus den rea­len Inter­es­sen­la­gen poli­ti­scher Ver­feh­lun­gen auf eine schwer zu fas­sen­de irra­tio­na­le Ebe­ne. Ich habe mich dazu unlängst aus­führ­lich geäu­ßert (https://www.danieladahn.de/im-vorwurf-des-rassismus-ueberlebt-der-rassegedanke/).

Natür­lich ist nicht das Gering­ste dage­gen zu sagen, sich gemein­sam wun­der­ba­re Musik anzu­hö­ren, wie auch gekonnt vor­ge­tra­ge­ne, wei­se Tex­te der klas­si­schen Welt­li­te­ra­tur oder eige­ne älte­re Tex­te, die bele­gen, dass man schon immer auf der Sei­te des Guten stand. Doch das Gan­ze hat auch etwas von Ablass­han­del. Wer nur laut genug ver­meint­li­chen Anti­se­mi­tis­mus beklagt, der wird öffent­lich exkul­piert und auf der rich­ti­gen Sei­te ein­ge­ord­net, ob im Publi­kum oder bes­ser noch auf der Büh­ne. Und auch die näch­sten geplan­ten Soli­da­ri­täts­kon­zer­te die­ses For­ma­tes wer­den in vier Minu­ten aus­ver­kauft sein, weil die media­le und viel­leicht auch per­sön­li­che Schuld­be­frei­ung so gut funktioniert.

Für einen Men­schen mit huma­ni­sti­scher Gesin­nung, die ich bei allen Künst­lern und Intel­lek­tu­el­len vor­aus­set­ze, ist es in gewis­ser Wei­se auch eine Zumu­tung, Selbst­ver­ständ­li­ches öffent­lich beken­nen zu sol­len, näm­lich dass man Anti­se­mi­tis­mus ver­ur­teilt und eben­so die bru­ta­le Attacke der Hamas. Dass bei­des auch durch Vor­ge­schich­te nicht zu recht­fer­ti­gen ist. Was jetzt wirk­lich gebraucht wird, ist kein Bekennt­nis­zwang, son­dern Vor­schlä­ge für Frie­dens­lö­sun­gen. Nur durch sie wird die Hamas ihrer Exi­stenz­grund­la­ge beraubt wer­den. Wenn der­art Prak­ti­ka­bles auch von Kul­tur­schaf­fen kommt, umso bes­ser. Ihre Haupt­auf­ga­be ist es nicht. Sie sind auf ihre Art für das Mensch­li­che zustän­dig. Für die Über­win­dung von Fremd­heit – die uns lei­der nach wie vor als aus dem Tier­reich her­kom­mend und in der Zivi­li­sa­ti­on noch nicht gänz­lich Ange­kom­me­ne aus­weist. Hier muss der aus der Auf­klä­rung stam­men­de Tole­ranz­ge­dan­ke immer wie­der ver­tei­digt wer­den. So wie es im Ber­li­ner Ensem­ble atem­be­rau­bend die groß­ar­ti­ge, 102-jäh­ri­ge Shoa-Über­le­ben­de Mar­got Fried­län­der getan hat, mit einem Appell, der vor­geb­li­chem Anti­se­mi­tis­mus jede ratio­na­le Grund­la­ge ent­zieht: »Es gibt kein christ­li­ches, mus­li­mi­sches oder jüdi­sches Blut. Wir sind doch alle Men­schen. Wir müs­sen acht­sam sein. Wir müs­sen mensch­lich sein. Seid Menschen!«

Dafür hat sich das Soli­da­ri­täts­kon­zert dann doch alle­mal gelohnt.