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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Was die Menschen tun

»Unge­heu­er ist viel. Doch nichts /​ Unge­heue­rer als der Mensch.« So beginnt ein berühm­tes Chor­lied in der Tra­gö­die Anti­go­ne von Sopho­kles, hier in der Über­set­zung von Fried­rich Höl­der­lin aus dem Alt­grie­chi­schen. Und die­ser so unge­heue­re Mensch kommt, wie es dann wei­ter heißt, »ein­mal auf Schlim­mes«, das ande­re Mal »zum Guten«. Wer aber Schlim­mes tut, hat das Recht ver­wirkt, »am Her­de mit mir« zu sein.

Die Tage sind kür­zer gewor­den, es ist län­ger dun­kel, und drau­ßen ist es kalt. Da sit­zen wir doch gern im War­men, »am Her­de«, gehö­ren gern zu jenen, »die jetzt ein Haus haben«, eine war­me Woh­nung. Und häu­fig las­sen wir uns gemüt­lich-schau­rig-span­nend ent­füh­ren ins Reich der Fan­ta­sie, viel­leicht von einem Kri­mi­nal­ro­man, der uns vor Lan­ge­wei­le bewahrt und in dem wir lesen kön­nen, wie die Men­schen »auf Schlim­mes« kom­men. Aber zum Glück kön­nen wir auch von Ermitt­lern und Ermitt­le­rin­nen lesen, die das Böse im Auge haben, es manch­mal aber mit Dämo­nen auf­neh­men müs­sen, den eige­nen aus der Ver­gan­gen­heit, die sie immer wie­der heim­su­chen, oder jenen aus der Zwi­schen­welt des Magi­schen Realismus.

Ich möch­te heu­te drei Bücher vor­stel­len, die zwar die Merk­ma­le eines Kri­mi­nal­ro­mans tra­gen – Ver­bre­chen gesche­hen, Ermitt­ler bemü­hen sich um Auf­klä­rung –, die aber zugleich jeweils einen eige­nen Kos­mos öff­nen. Die Lese­rei­se wird uns von der Pfalz über Ham­burg bis nach Louisiana/​USA mit sei­nen gro­ßen Sümp­fen füh­ren – was durch­aus auch als Meta­pher ver­stan­den wer­den kann.

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Ich begin­ne in der Pfalz, wo die Kri­mi­au­to­rin Moni­ka Gei­er gebo­ren wur­de und wo ihre Kri­mi­nal­ro­ma­ne ange­sie­delt sind. Seit sei­nem Erschei­nen in die­sem Herbst steht ihr neue­stes Buch »Anto­ni­us­feu­er« jetzt im Dezem­ber zum drit­ten Mal auf der Kri­mi­be­sten­li­ste. Die Halb­tags­kom­mis­sa­rin Bet­ti­na Boll vom Mord­de­zer­nat Lud­wigs­ha­fen ken­ne ich schon seit ihrem ersten Auf­tritt im Jahr 1999 in dem Debüt­ro­man »Wie könnt ihr schla­fen«, für den Moni­ka Gei­er prompt mit dem Mar­lo­we aus­ge­zeich­net wur­de, dem Preis der Ray­mond-Chand­ler-Gesell­schaft. Für den sieb­ten Boll-Kri­mi »Alles so hell da vorn« von 2017 erhielt die Autorin den Deut­schen Krimipreis.

Haben Sie schon ein­mal etwas von einer Mut­ter­korn­ver­gif­tung gehört, frü­her auch »Anto­ni­us­feu­er« genannt? Die Ver­gif­tung führt zu Darm­krämp­fen, Hal­lu­zi­na­tio­nen und gefäß­ver­en­gen­den Durch­blu­tungs­stö­run­gen, die wie­der­um das Abster­ben von Fin­gern und Zehen zur Fol­ge haben kön­nen. Das Anto­ni­us­feu­er war im Mit­tel­al­ter eine häu­fi­ge Todes­ur­sa­che, und lan­ge Zeit wuss­te nie­mand, wodurch es aus­ge­löst wurde.

Einem News­let­ter des Baye­ri­schen Lan­des­amts für Gesund­heit und Lebens­mit­tel­si­cher­heit ent­neh­me ich, Ursa­che sei ein gif­ti­ger Getrei­de­pilz, Mut­ter­korn genannt, der ver­schie­de­ne Grä­ser­ar­ten befal­le, dar­un­ter vor allem Rog­gen, beson­ders, wenn es im Früh­som­mer sehr feucht war. Schon fünf Gramm fri­sches Mut­ter­korn könn­ten für einen Erwach­se­nen töd­lich sein. Im Lau­fe der Jahr­hun­der­te habe es immer wie­der Mas­sen­ver­gif­tun­gen gege­ben, noch in den 1920er Jah­ren habe mit dem Pilz befal­le­nes Getrei­de in Russ­land zu 11.000 Erkran­kun­gen geführt. Da das Mut­ter­korn Wehen aus­lö­sen kön­ne, sei es auch ein­ge­setzt wor­den, um Abtrei­bun­gen ein­zu­lei­ten. Daher kom­me ver­mut­lich sein Name. Zwar gebe es den Pilz nach wie vor, aber in der Regel wür­den die Mut­ter­kör­ner bei der Rei­ni­gung des Getrei­des in der Müh­le ent­fernt, u. a. mit Hil­fe von Farb­scan­nern, die die dunk­le­ren Mut­ter­kör­ner erken­nen, oder durch die Wind­sich­tung, bei der Mut­ter­kör­ner infol­ge ihrer ande­ren Dich­te von den Getrei­de­kör­nern getrennt wer­den. Ein hal­bes Gramm pro Kilo Mahl­ge­trei­de ist der aktu­el­le EU-Grenzwert.

Die­ses Mut­ter­korn hat in dem Gei­er-Kri­mi sei­nen Auf­tritt, als töd­li­che Dosis, aber auch als Ver­ur­sa­cher von Krämp­fen und Hal­lu­zi­na­tio­nen. Oder haben da nicht doch teuf­li­sche, dämo­ni­sche Mäch­te ihre Klau­en im Spiel? Soll­te man nicht lie­ber einen Schutz­hei­li­gen anru­fen, zum Bei­spiel Anto­ni­us (1195-1231), den belieb­te­sten unter den Volks­hei­li­gen, der im Jahr 1946 sogar zum Kir­chen­leh­rer erho­ben wur­de? Oder viel­leicht doch auf den seit Jahr­hun­der­ten von der katho­li­schen Kir­che ein­ge­üb­ten Exor­zis­mus setzen?

Es ist eine selt­sa­me Ange­le­gen­heit, die Bet­ti­na Boll von ihrem Vor­ge­setz­ten ans Bein gebun­den bekommt, »obwohl Gespen­ster und Spi­ri­tu­el­les nicht so ihr Fall sind«, wie es Her­aus­ge­be­rin Else Lau­dan in ihrem Geleit­wort for­mu­liert. Ist da was ver­hext, oder han­delt es sich nüch­tern betrach­tet um Beses­sen­heit als psy­chi­sches Phä­no­men? Was hat es mit dem Toten­zet­tel auf sich, auf dem das Isen­hei­mer Altar­bild mit all sei­nen Dämo­nen zu sehen ist? War­um wur­de – Hei­li­ge Maria Mut­ter Got­tes! – das Jesus-Kind auf dem Mari­en­bild in der sehr alten Kir­che des klei­nen Dor­fes schwarz über­malt? Und – das ist nun nicht sprich­wört­lich gemeint – wel­ches Geheim­nis umgibt die Lei­che in Bolls eige­nem Kel­ler in dem gera­de von der Tan­te geerb­ten Haus?

Bei all die­sen Impon­de­ra­bi­li­en bleibt Bet­ti­na Boll erfreu­lich gegen­wär­tig, forscht nach kon­kre­ten Inter­es­sen, nach Moti­ven, will dem Schrecken einen Namen geben, die Mor­de und alles ande­re auf­klä­ren, »sucht den unsicht­ba­ren Lini­en auf die Spur zu kom­men, die Fehl­trit­te in der äuße­ren Welt mit den inne­ren Dämo­nen der Betei­lig­ten zu ver­bin­den. Denn sie weiß, dass kaum jemand nichts zu ver­ber­gen hat« (Lau­dan). Selbst nicht in der Pfalz mit ihren ordent­li­chen Stra­ßen und wuchern­den Wäl­dern, dort – Lokal­ko­lo­rit muss sein – wo süf­fi­ger Wein und lecke­rer Sau­ma­gen und Kesch­de zu Hau­se sind. Fra­ge an die Sen­de­an­stalt ZDF in Mainz: Wo bleibt bei den vie­len Regio­nal­kri­mis im Fern­se­hen der Kri­mi aus der Pfalz rund um die Ermitt­le­rin Bet­ti­na Boll?

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»Schwar­zer Okto­ber« ist der vier­te histo­ri­sche Kri­mi­nal­ro­man mit der Kom­mu­ni­stin Kla­ra Schind­ler des in Ham­burg leben­den Schrift­stel­lers Robert Brack, der eben­falls mit dem Mar­lo­we und dem Deut­schen Kri­mi­preis aus­ge­zeich­net wor­den ist. Den Wer­de­gang sei­ner Prot­ago­ni­stin ver­fol­ge ich schon seit 15 Jah­ren. Sein 2012 ver­öf­fent­lich­ter Kri­mi »Unter dem Schat­ten des Todes« hat den Reichs­tags­brand von 1933 zum The­ma. Schind­ler wird von der KPD mit fal­schen Papie­ren von Kopen­ha­gen nach Ber­lin geschickt, um her­aus­zu­fin­den, wer der angeb­li­che Brand­stif­ter Mari­nus van der Lub­be ist. 2010 erschien der Kri­mi »Blut­sonn­tag«, in dem Kla­ra 1932 als kom­mu­ni­sti­sche Repor­te­rin hilft, Ver­tu­schun­gen der Poli­zei im Zusam­men­hang mit gewalt­tä­ti­gen Aus­ein­an­der­set­zun­gen bei einem SA-/SS-Auf­marsch durch das damals noch nicht zu Ham­burg gehö­ren­de rote Alto­na auf­zu­decken. 2008 erzähl­te Brack in »Und das Meer gab sei­ne Toten wie­der« die authen­ti­sche Geschich­te eines Ham­bur­ger Poli­zei­skan­dals aus dem Jahr 1931 um zwei weib­li­che Kri­mi­nal­po­li­zi­stin­nen, die angeb­lich frei­wil­lig in den Tod gin­gen. Die Jour­na­li­stin Schind­ler ist an der Auf­klä­rung beteiligt.

Mit dem Schwar­zen Okto­ber, der dem im Sep­tem­ber erschie­ne­nen Buch den Namen gab, ist der Okto­ber vor genau 100 Jah­ren gemeint, der Monat des Arbei­ter-Auf­stands in Ham­burg. Kla­ra Schind­ler ist 19 Jah­re jung, also noch nicht voll­jäh­rig, enga­giert sich für die KPD, lebt in einer Keller»wohnung«, seit­dem der Vater sie bei einem Tech­tel­mech­tel mit ihrer Kla­vier­leh­re­rin erwisch­te und raus­warf. Es ist das Jahr der Mas­sen­ar­beits­lo­sig­keit, der Hyper­in­fla­ti­on und des Hun­gers, in dem »die Leu­te das Geld schon in Säcken zum Höker tra­gen«, es aber »bald mehr wiegt als Kar­tof­feln« (zu Deutsch­land im Jahr 1923 sie­he auch: Ossietzky 4/​2023 und 20/​2022). Schind­ler ist begei­stert von der Ham­bur­ger Frau­en­recht­le­rin und streit­ba­ren KPD-Abge­ord­ne­ten Ket­ty Gutt­mann – einer rea­len histo­ri­schen Per­son (1883-1967), in deren Zeit­schrift Pran­ger zur Orga­ni­sa­ti­on der Sex­ar­bei­te­rin­nen auf St. Pau­li sie ihre ersten jour­na­li­sti­schen Spu­ren hinterlässt.

Sie ist ver­liebt in ein »Kon­troll­mäd­chen» (Pro­sti­tu­ier­te), die als Taschen­die­bin rei­che Män­ner aus­nimmt. Und sie hat Angst vor einem Gespenst: dem unheim­li­chen Schnit­ter, einem Mes­ser­ste­cher, der Frau­en anfällt, ihnen Schnit­te bei­bringt, mal klein und zart, von den Opfern zuerst nicht spür­bar, mal grö­ßer, und der ihr immer näher zu kom­men scheint. Und sie spürt: Es liegt was in der Luft. Doch ihr kom­mu­ni­sti­scher Men­tor mahnt: »Revo­lu­tio­nä­rer Über­ei­fer nützt uns gar nichts. Wir orga­ni­sie­ren uns für den Tag X.« Der dann im Herbst des Jah­res kommt und den Brack »Barm­be­ker« und nicht »Ham­bur­ger« Auf­stand nennt, da die Erhe­bung nie auf die gan­ze Stadt über­griff – ganz im Gegen­satz zu der sowje­ti­schen Schrift­stel­le­rin und Jour­na­li­stin Laris­sa Reiss­ner, die in ihrer schma­len Bro­schü­re aus dem Jahr 1924 »Ham­burg auf den Bar­ri­ka­den« sah (sie­he Ossietzky 21/​2023; klei­ne Neben­be­mer­kung: Boris Paster­nak hat sei­ne Hel­din Lara in Dr. Schi­wa­go nach ihr benannt).

All die­se Ereig­nis­se hält Kla­ra Schind­ler als Ich-Erzäh­le­rin in ihrem Tage­buch fest, des­sen rasche Nie­der­schrift den Stil des Kri­mi­nal­ro­mans prägt und ihm ein atem­lo­ses Stak­ka­to aufdrückt.

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Auf in die Bayous von Loui­sia­na. Hier ermit­telt seit 1987 Dave Robi­cheaux, Cop beim New Orleans Poli­ce Depar­te­ment, häu­fig unter­stützt von sei­nem Kum­pel Cle­te, und immer nach der Devi­se: »Die Men­schen sind das, was sie tun, nicht das, was sie den­ken oder was sie sagen.« Inzwi­schen sind 23 Bän­de erschie­nen: alle aus der Feder des viel­fach inter­na­tio­nal aus­ge­zeich­ne­ten Schrift­stel­lers James Lee Bur­ke, der in Loui­sia­na an der Golf­kü­ste auf­wuchs, einer von zahl­rei­chen Kul­tu­ren, Sit­ten und Gebräu­chen gepräg­ten Regi­on. Skla­ve­rei, Ras­sis­mus, Ku-Klux-Klan, Neo­na­zis, Mafia, Kor­rup­ti­on, Crack Dea­ler, Kin­der­schän­der, Ver­ge­wal­ti­ger, Frau­en­has­ser: Alles, was rechts, vor­gest­rig, men­schen­feind­lich, kri­mi­nell ist, wird in den Büchern the­ma­ti­siert. Bur­ke ist ein »begna­de­ter, enga­gier­ter Erzäh­ler, ein genau­er Beob­ach­ter der Ver­hält­nis­se« mit »star­ken, gesell­schafts­kri­ti­schen Geschich­ten, des­sen epi­sche Kri­mi­nal­ro­ma­ne wah­re Mei­ster­wer­ke« sind, stellt Ver­le­ger Gün­ther But­kus sei­nen Autor vor. In sei­nem 1981 in Bie­le­feld gegrün­de­ten, 2020 und 2022 mit dem deut­schen Ver­lags­preis aus­ge­zeich­ne­ten Pend­ra­gon-Ver­lag sind in den letz­ten Jah­ren in chro­no­lo­gi­scher Abfol­ge sämt­li­che Robi­cheaux-Roma­ne erschienen.

Seit August liegt mit »Ver­schwin­den ist kei­ne Lösung« der 23. Band vor, die Ori­gi­nal­aus­ga­be erschien schon 2020. Es soll der letz­te sei­ner Art sein, ist zu hören: Bur­ke ist am Diens­tag die­ser Woche, dem 5. Dezem­ber, 87 gewor­den. Noch ein­mal prä­sen­tiert er very hard­boi­led sein gan­zes Kön­nen: Robi­cheaux und Cle­te ermit­teln in der Welt des orga­ni­sier­ten Ver­bre­chens, sto­ßen auf Neo­na­zis. Als ein myste­riö­ser Frem­der in das Gesche­hen ein­greift – Ist er real? Oder ver­schmel­zen Wirk­lich­keit und Hal­lu­zi­na­tio­nen zu einer «drit­ten Rea­li­tät«? –, wird Robi­cheaux von sei­nen Dämo­nen aus dem Viet­nam-Krieg heim­ge­sucht: »Die ein­zi­gen ech­ten Sym­bo­le mei­ner Kriegs­er­fah­rung waren Mala­ria und Nar­ben­ge­we­be von Dschun­gel­fäu­le und die blei­ben­de Über­zeu­gung, dass der Anti­christ sei­nen Abdruck auf mir hin­ter­las­sen hat.« Cle­te nährt der­weil sei­nen Hass auf Neo­na­zis und ist fest über­zeugt, »dass sie min­de­stens ein wei­te­res Mal nach der Macht grei­fen wür­den«. Um sie zu bekämp­fen, ist ihm jedes Mit­tel recht. Wirk­lich jedes. In sei­nem Porte­mon­naie steckt in einer Zel­lu­loid­hül­le ein Schwarz-Weiß-Foto von einer Frau, die mit ihren drei klei­nen Töch­tern eine Schot­ter­stra­ße hoch­geht. Das Foto ist in Ausch­witz entstanden.

2500 Jah­re sind seit der Urauf­füh­rung der »Anti­go­ne« ver­gan­gen. Doch immer noch gilt: Nichts ist unge­heue­rer als der Mensch.

Moni­ka Gei­er: Anto­ni­us­feu­er, Ari­ad­ne im Argu­ment Ver­lag, Ham­burg 2023, 432 S., 24 €. – Robert Brack: Schwar­zer Okto­ber, Edi­ti­on Nau­ti­lus, Ham­burg 2023, 158 S., 16 €. – James Lee Bur­ke: Ver­schwin­den ist kei­ne Lösung, aus dem Ame­ri­ka­ni­schen von Jür­gen Bür­ger, Pend­ra­gon Ver­lag, Bie­le­feld 2023, 466 S., 24 €.