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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Wenn einer Reisen tut

Hoch­mut kommt vor dem Fall. »Du bist doch gar nicht gefal­len«, schnurrt die Wahr­heits­droh­ne. Kin­der und Droh­nen sind üble Recht­ha­ber. Was ich sagen will: Ich war immer so stolz dar­auf, sämt­li­che Fahr­rad­stür­ze selbst gebaut zu haben, ohne die Mit­hil­fe all jener Kraft­fah­rer (alle männ­lich, gen­dern wäre hier lügen), die schon ver­sucht haben mich mit ihrem Auto zu töten.

Jetzt hats einer geschafft. Also mich ange­fah­ren, ich lebe ja noch (Tote schrei­ben kei­ne Kolum­nen). Jetzt ist es aus mit dem Stolz und der dazu­ge­hö­ri­gen Sicher­heit, in der ich mich gewo­gen habe. Autos kön­nen auch anders. Nicht nur fah­ren, als ob es kei­ne Rad­fah­rer gäbe, und zynisch recht behal­ten damit, weil der Rad­fah­rer am Ende doch nicht tot ist, obwohl das Auto alles getan hat dafür. Son­dern genau­so fah­ren und am Ende auch treffen.

Ja, es war dun­kel. Ja, ich hat­te einen dunk­len Man­tel an. Der Zebra­strei­fen, an dem es geschah, war aber in grel­les Licht getaucht. Und ich befand mich, ehe es geschah, mit mei­nem Fahr­rad längst auf dem Zebra­strei­fen. Also nicht das Spiel »wer zuerst drauf ist«, das ich auch schon gespielt habe, zuge­ge­ben. Nein, ich bin drauf, bei­na­he schon drü­ber und mer­ke plötz­lich: Das inter­es­siert den Auto­fah­rer nicht, der von links kommt. Der ver­min­dert sei­ne Geschwin­dig­keit nicht. Okay, den­ke ich, jetzt hast du noch genau eine Chan­ce: scharf nach rechts, zurück an den Stra­ßen­rand. Viel­leicht schafft er es noch vor­bei an dir. Aber nix. Der Fah­rer will näm­lich rechts abbie­gen und nimmt mich auch am Stra­ßen­rand auf die Hör­ner. Vul­go: klemmt mei­nen lin­ken Fuß mit­samt Pedal zwi­schen Rad und Rad­ka­sten ein, schleift mich ein Stück mit und bleibt dann stehen.

»Wenn du Leu­te töten willst, kauf dir ein Gewehr!«, schreie ich. Was man manch­mal redet. Da sind schon sinn­freie Sachen dabei. Umge­fal­len bin ich nicht, der Punkt geht an die Wahr­heits­droh­ne. Ging nicht, weil der Fuß ein­ge­klemmt war. Müh­sam zop­pe­le ich das Pedal aus dem Rad­ka­sten, zieh den Fuß hin­ter­her und will vor­ne das Kenn­zei­chen able­sen. So einer, habe ich mir immer geschwo­ren, kommt mir nicht unter ver­such­tem Tot­schlag davon. Das guckt sich jetzt mal die Poli­zei an, die Sor­te ist anders nicht reso­zia­li­sier­bar. Aber schei­ße – es ist der Die­ter (Name von der Redak­ti­on geän­dert), was da aus dem Auto krab­belt! »Sor­ry, hab disch net gese­he«, kräht Die­ter. »Sag mal, wir ken­nen uns doch«, sage ich. Die­ter guckt eine Wei­le, ruft dann: »Mensch, Eddy, des gibbs doch gan­net. Tut mer escht leid. Iss was pas­siert, sam­ma do?«

Na ja, wie mans nimmt. Den Die­ter ken­ne ich von zahl­rei­chen Hof­fe­sten in mei­ner Stra­ße. Wir haben schon man­che Fla­sche Wein zusam­men geleert, man­chen Vogel sein erstes Lied sin­gen hören mor­gens. Wir und noch zwei, drei ande­re. Den Die­ter zei­ge ich auf kei­nen Fall an. Dem rede ich ins Gewis­sen, das ja. »Du musst da mal drü­ber nach­den­ken, Die­ter. Das hät­te ganz anders aus­ge­hen kön­nen eben.« Die­ter und Nach­den­ken sind aller­dings nicht leicht in eine enge­re Ver­bin­dung zu brin­gen. »Ja schei­ße. Aber ich hab disch escht net gese­he!«, ist ihm erneut wich­tig zu beto­nen. Was genau will er mir mit­tei­len? Dass er ande­re Leu­te, sobald er sie erkennt, absicht­lich umfährt und dass ich so unbe­liebt wie die bei ihm gar nicht bin? Wür­de mich das, falls es die Bot­schaft ist, in dem Moment trösten?

»Isch zahl des, gakaa Fraach«, sagt Die­ter, nach­dem ich test­wei­se gemerkt habe, dass das Fahr­rad nicht mehr fährt. Der Fuß­knö­chel schmerzt. Zur Arbeit gehe ich heu­te nicht mehr. Zum Arzt dann auch nicht. Dem Haus­arzt habe ich dum­mer­wei­se erzählt, dass es ein Wege­un­fall war. Damit darf er mich nicht mehr unter­su­chen. Den Unfall­arzt müss­te ich erst mal sel­ber zah­len, und die Berufs­ge­nos­sen­schaft las­se ich aus dem Spiel. Ein­mal wegen Die­ter. Dann auch wegen des ein­zi­gen Arbeits­un­falls, den ich jemals gemel­det habe. Auf einer Dienst­rei­se war der. Die Sach­be­ar­bei­te­rin ent­nahm den ein­ein­halb Zei­len des Unfall­arz­tes, dass mei­ne kör­per­li­che Fit­ness für Bela­stun­gen wie Rei­sen nicht mehr aus­ge­reicht habe, wes­halb es sich um kei­nen Arbeits­un­fall gehan­delt habe, da ich die Rei­se unbe­rech­tig­ter­wei­se ange­tre­ten hät­te. Auf der Unfall­arzt­rech­nung blieb ich sit­zen. Bei dem Ver­such, die Ent­schei­dung der Sach­be­ar­bei­te­rin anzu­fech­ten, erfuhr ich, dass die Dame krank­ge­schrie­ben sei. Sechs Mona­te blieb das so. Ich gab auf.

Gut, der Die­ter hät­te dies­mal gezahlt. Ich hat­te ein­fach kei­nen Bock auf die Berufs­ge­nos­sen­schaft, an der ich nicht vor­bei­ge­kom­men wäre, und kei­nen auf den Ärger, den der Die­ter dann bekom­men hät­te. Er hat die Fahr­rad­werk­statt bezahlt. Das reicht: Wir haben ihm schön was aufgeschrieben.