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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Im Innern des Landes

Rends­burg, in der Mit­te Schles­wig-Hol­steins an Eider und Nord-Ost­see-Kanal gele­gen, kennt sicher­lich nicht jeder in der Bun­des­re­pu­blik. Es weist kei­ne nen­nens­wer­ten Beson­der­hei­ten auf, die die­se cir­ca 30.000 Ein­woh­ne­rin­nen und Ein­woh­ner zäh­len­de Kreis­stadt her­vor­he­ben wür­den. Na gut, eine Sehens­wür­dig­keit soll doch genannt wer­den: die Rends­bur­ger Eisen­bahn-Hoch­brücke über den Nord-Ost­see-Kanal mit einer von welt­weit acht Schwebefähren.

Rends­burg im Innern des Lan­des ist so nor­mal wie vie­le ande­re deut­sche Städ­te ähn­li­cher Grö­ßen­ord­nung. Und histo­risch fällt der Ort auch nicht aus dem Rah­men: Hier hat es kei­nen Faschis­mus gege­ben, und wenn doch, so die bis heu­te vor­herr­schen­de Deu­tung, dann war er »in der Regi­on Rends­burg harm­los«. Wie vie­ler­orts in Deutschland.

Dabei hat sich die natio­nal­so­zia­li­sti­sche Bewe­gung nach 1929 nir­gend­wo so schnell und umfas­send aus­ge­brei­tet wie in Schles­wig-Hol­stein. Und nach 1945 waren die will­fäh­ri­gen Unter­stüt­zer, Hel­fers­hel­fer, Täter – es waren fast nur Män­ner – nir­gend­wo so schnell ver­schwun­den wie in Schles­wig-Hol­stein. Aller­dings tauch­ten sie nach kur­zer Inter­nie­rung, mil­den Urtei­len und, wenn nötig, wech­sel­sei­tig aus­ge­stell­ten Per­sil­schei­nen schon bald wie­der in ver­ant­wort­li­cher Posi­ti­on im Land­tag, in Ämtern und Behör­den, in Dienst­stel­len, Insti­tu­tio­nen, Ver­bän­den und Ver­ei­nen oder Par­tei­en, kurz gesagt: über­all im Lan­de auf.

Es dau­er­te Jahr­zehn­te, bis der brau­ne Schlei­er riss oder bes­ser gesagt: zer­ris­sen wur­de. Aber erst im Herbst 2018 erschien ein Buch, das sich mit der Zeit des Natio­nal­so­zia­lis­mus in Rends­burg befasst, mit den regionalen

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Die Opfer im Blick

Beschäf­tig­te sich der Autor Neu­ge­bau­er vor allem mit Tätern aus dem Ort und der Regi­on Rends­burg in Schles­wig-Hol­stein, so blickt die Ham­bur­ger Stif­tung Hil­fe für NS-Ver­folg­te auf die Opfer. Die­se bun­des­weit ein­ma­li­ge Stif­tung, im Sep­tem­ber 1988 vom Senat unter Bür­ger­mei­ster Hen­ning Voscher­au (SPD) und der Bür­ger­schaft der Han­se­stadt Ham­burg ein­mü­tig auf Initia­ti­ve von Ver­folg­ten­ver­bän­den und neu­en poli­ti­schen Bewe­gun­gen ein­ge­rich­tet, hat in den drei Jahr­zehn­ten ihres Bestehens über 2000 NS-Ver­folg­ten mit Bei­hil­fen gehol­fen. Dar­über hin­aus hat sie vor dem Hin­ter­grund einer Zäsur im Ver­ständ­nis dar­über, was NS-Unrecht ist, zu einem ande­ren Umgang mit bis­her aus­ge­grenz­ten NS-Ver­folg­ten bei­tra­gen kön­nen. Der Mit­in­itia­tor der Stif­tung und gegen­wär­ti­ge Vor­stands­vor­sit­zen­de Ste­fan Romey hat zum Jubi­lä­um unter dem Titel »Nie­mand ist ver­ges­sen« Bilanz gezo­gen und dabei den Umgang mit NS-Opfern in Ham­burg seit 1945 beschrie­ben. Auf einer Ver­an­stal­tung der Fried­rich-Ebert-Stif­tung, Ham­burg, stell­te er Mit­te April sei­ne Schrift vor. Zu den »ver­ges­se­nen Opfern« gehör­ten beson­ders jene NS-Opfer­grup­pen, die zur mit­ter­nächt­li­chen Stun­de in der Nacht zum 4. April die­ses Jah­res von dem nie­der­säch­si­schen Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ten Tho­mas Ehr­horn (AfD) in sei­ner Rede vor dem Bun­des­tag aus­ge­grenzt wurden.

Die Cel­ler Zei­tung schrieb: »Ehr­horn hat­te zwi­schen KZ-Opfern dif­fe­ren­ziert. So sei­en Men­schen auf­grund ‚ihrer angeb­li­chen Ras­se­zu­ge­hö­rig­keit‘ inter­niert wor­den. Ande­re sei­en als Kri­mi­nel­le im KZ gelan­det. ‚Es ist nicht mög­lich, allen soge­nann­ten Aso­zia­len und Berufs­ver­bre­chern eine Art Gene­ral­am­ne­stie ein­zu­räu­men, sie zu Opfern zu erklä­ren, weil ein Teil von ihnen eben durch­aus auch Täter war‘, hat­te er erklärt.« Kri­ti­ker ver­wie­sen auch dar­auf, dass Ehr­horn im Bun­des­tag den Satz »Wir sind uns einig, dass wirk­lich nie­mand in ein Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger gehört« mit einem rela­ti­vie­ren­den »Aber« ver­bun­den habe.

Romey zeigt in sei­nem Buch, wie gera­de die­se Grup­pen schon direkt nach dem Zwei­ten Welt­krieg aus­ge­grenzt wur­den, in Ham­burg von »Fach­leu­ten«, die von den Bri­ten über­gangs­los, obwohl NS-Mit­glie­der, in ihren Ämtern belas­sen wur­den, in der Anfangs­zeit zumin­dest, und die nun über die Aner­ken­nung jener ent­schie­den, die sie frü­her für KZ-wür­dig befun­den hat­ten. Zu die­sem Per­so­nen­kreis gehör­ten: Zwangs­ste­ri­li­sier­te, Opfer der »Eutha­na­sie« (»Lebens­un­wer­te«), »Gemein­schafts­frem­de«, soge­nann­te Aso­zia­le, Homo­se­xu­el­le, »Berufs­ver­bre­cher«, Deser­teu­re, »Wehr­kraft­zer­set­zer«, »Vater­lands­ver­rä­ter«, Sin­ti und Roma (»Zigeu­ner«), Swing-Jugend­li­che und Heim­kin­der. (Ste­fan Romey: »Nie­mand ist ver­ges­sen. 30 Jah­re Ham­bur­ger Stif­tung Hil­fe für NS-Ver­folg­te«, 360 Sei­ten, E-Mail: hamburgerstiftung@t-online.de)

K. N.

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Aktio­nen der Natio­nal­so­zia­li­sten, und das den Tätern erst­mals kom­pakt Namen und Gesicht gibt, sie ohne viel Feder­le­sens benennt. Und das auch eini­ge der vie­len Opfer und Opfer­grup­pen aus der Ver­ges­sen­heit holt, eben­so wie poli­ti­sche Geg­ne­rin­nen und Geg­ner der Natio­nal­so­zia­li­sten und ihre Aktio­nen des Widerstands.

Autor ist Gün­ter Neu­ge­bau­er (70), Spre­cher der regio­na­len Arbeits­grup­pe Schles­wig-Hol­stein von »Gegen Ver­ges­sen – Für Demo­kra­tie«. Neu­ge­bau­er war 20 Jah­re lang, bis 2009, Mit­glied der schles­wig-hol­stei­ni­schen SPD-Land­tags­frak­ti­on, stets direkt gewählt. Er stell­te sein Buch Ende März in Ham­burg auf der Jah­res­ta­gung des Arbeits­krei­ses ehe­mals ver­folg­ter und inhaf­tier­ter Sozi­al­de­mo­kra­ten vor.

Bei der Wahl am 12. März 1933 betrug die Wahl­be­tei­li­gung 73,8 Pro­zent; die NSDAP erreich­te zwölf der 21 Sit­ze in der Stadt­ver­ord­ne­ten­ver­samm­lung, die mit ihr eng zusam­men­ar­bei­ten­de Natio­na­le Auf­bau­front drei, der Rest ent­fiel auf SPD (4) und KPD (2). Auch im Kreis­tag errang die NSDAP die Mehr­heit der Stimmen.

Neu­ge­bau­er: »Obwohl auch die NSDAP-nahe loka­le Lan­des­zei­tung über die bereits unmit­tel­bar nach der Macht­über­ga­be am 30. Janu­ar über­all in Preu­ßen ein­ge­setz­te Ver­fol­gung und Ermor­dung von poli­tisch Anders­den­ken­den sowie Men­schen jüdi­schen Glau­bens oder jüdi­scher Her­kunft infor­mier­te, obwohl die NSDAP-Orts­grup­pe … kei­ner­lei Geheim­nis aus ihren Plä­nen mach­te, schenk­ten 4974 Rends­bur­ger Frau­en und Män­ner der NSDAP ihr Ver­trau­en. Sie haben den Auf­stieg der Rends­bur­ger Natio­nal­so­zia­li­sten erst ermög­licht. Des­halb zäh­len sie zu den Hel­fe­rin­nen und Hel­fern der Nazis.«

Der Ver­fas­ser beschreibt in sei­nem Buch nicht nur den Auf­stieg der ört­li­chen NSDAP und ihrer Füh­rer »von der Sek­te zur Allein­herr­schaft« oder der SS- Mit­glie­der »vom Saal­schutz zur Ter­ror­ge­mein­schaft« oder wie die Hit­ler­ju­gend »gleich­ge­schal­tet, miss­braucht und betro­gen« wur­de. Er beschreibt auch die NS-Ver­gan­gen­heit von Bür­ger­mei­stern, Land­rä­ten, Unter­neh­mern und Behör­den­lei­tern sowie ihre Betei­li­gung an NS-Ver­bre­chen. Und er doku­men­tiert das gesell­schaft­li­che Anse­hen, das vie­le die­ser Per­so­nen nach 1945 auf­grund des Ver­ges­sens, Ver­drän­gens, Ver­schwei­gens und dank alter Seil­schaf­ten wie­der erwer­ben konn­ten, so dass sie sich fort­an eines »gut­bür­ger­li­chen Lebens« erfreu­en durften.

Eine Dar­stel­lung der diver­sen Ab- und Lebens­läu­fe wür­de hier zu weit füh­ren, auch weil nur weni­ge Akteu­re über den regio­na­len Rah­men hin­aus bekannt wur­den. Als Bei­spiel soll daher Her­bert Puhl­mann die­nen, füh­ren­der NS-Funk­tio­när und haupt­ver­ant­wort­li­cher Redak­teur für das Poli­tik-Res­sort der Schles­wig-Hol­stei­ni­schen Lan­des­zei­tung in drei Syste­men. Gera­de­zu modell­haft lässt sich an sei­ner hier nur im Abriss wie­der­ge­ge­be­nen Bio­gra­phie die stei­le Kar­rie­re eines über­zeug­ten Natio­nal­so­zia­li­sten und eines spä­ter weiß gewa­sche­nen »Demo­kra­ten« in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land verfolgen.

Bereits am 1. Mai 1932 trat Puhl­mann im Alter von 26 Jah­ren in die NSDAP ein. In der auf­stre­ben­den Rends­bur­ger NSDAP fand er schnell Aner­ken­nung. Er nutz­te schon früh­zei­tig mit still­schwei­gen­der Dul­dung des Ver­le­gers sei­ne Tätig­keit als Redak­teur für die unver­hoh­le­ne Unter­stüt­zung der NSDAP-Orts­grup­pe in der loka­len Bericht­erstat­tung und Kommentierung.

Nach sei­nem Ein­tritt in die NSDAP wur­de er Stell­ver­tre­ter des eben­falls 26 Jah­re alten Orts­grup­pen­lei­ters und über­nahm die Pro­pa­gan­da­lei­tung. All die­se Auf­ga­ben behielt er bis ins Jahr 1944. Er war mit­ver­ant­wort­lich für die vom Kampf­bund für deut­sche Kul­tur am 9. Okto­ber 1933 orga­ni­sier­te Bücher­ver­bren­nung. Auch in der Kom­mu­nal­po­li­tik enga­gier­te er sich und wur­de unter ande­rem Lei­ter des städ­ti­schen Pres­se­am­tes. 1936 orga­ni­sier­te er die Aus­stel­lung »Volk und Ras­se«. In sei­nem »Brot­be­ruf« bemüh­te er sich um eine sei­ner Welt­an­schau­ung ent­spre­chen­de Aus­rich­tung der Lan­des­zei­tung. Sein Ver­le­ger trat 1937 eben­falls in die NSDAP ein und blieb bis 1945 Mit­glied. Puhl­manns Glau­be an den End­sieg war uner­schüt­ter­lich. Frei­wil­lig mel­de­te er sich gegen Kriegs­en­de zur Waf­fen-SS und wur­de 1944 ein­ge­zo­gen. Über sei­nen Ein­satz an der Ost­front ist nichts bekannt.

Nach der Befrei­ung Rends­burgs durch das bri­ti­sche Mili­tär, nach Ver­haf­tung und Inter­nie­rung wur­de Puhl­mann Ende 1947 wegen »Mit­glied­schaft in einer ver­bre­che­ri­schen Orga­ni­sa­ti­on« zu einer andert­halb­jäh­ri­gen Gefäng­nis­stra­fe ver­ur­teilt, die »durch die erlit­te­ne Inter­nie­rungs­haft als ver­büßt« galt. Wäh­rend des Spruch­kam­mer­ver­fah­rens trat er auf wie ein Muster­ex­em­plar aus der bekann­ten Grup­pe der Drei Affen.

Kaum frei, war er wie­der dabei. Der frü­he­re Ver­le­ger bekam schon 1949 wie­der eine Lizenz, und Puhl­mann nahm sei­ne Arbeit als poli­ti­scher Redak­teur und stell­ver­tre­ten­der Chef­re­dak­teur auf, ohne jeg­li­ches Unrechts­be­wusst­sein. Er ver­fass­te Nach­ru­fe auf alte Kame­ra­den nach deren Tod – »ein treu­er Sohn sei­ner Hei­mat­stadt« – und wur­de nach sei­nem eige­nen Hin­schei­den 1969 glei­cher­ma­ßen geehrt: in wür­di­gen­den Nach­ru­fen und Trau­er­an­zei­gen der Zei­tung und des Ver­la­ges – und durch den Rends­bur­ger Senat. Die­ser bekann­te sich noch 1969 dazu, dass »das erfolg­rei­che Wir­ken eines Rends­bur­ger Kom­mu­nal­po­li­ti­kers unter den schwie­ri­gen Ver­hält­nis­sen der NS-Herr­schaft auch in unse­rer Zeit eine ange­mes­se­ne Wür­di­gung« ver­die­ne (Wort­laut aus einem Schrei­ben des Senats). Es war genau die Zeit, in der Franz Josef Degen­hardt sein Lied vom »Innern des Lan­des« schrieb, in dem die schon oft Tot­ge­sag­ten noch lebten.

Nach­trag 1: In Rends­burg gibt es heu­te 35 Stol­per­stei­ne, die an Opfer des Natio­nal­so­zia­lis­mus erin­nern, und in der ehe­ma­li­gen jüdi­schen Syn­ago­ge ein Jüdi­sches Museum.

Nach­trag 2: Als Neu­ge­bau­er zur Finan­zie­rung des Buches bei poten­ti­el­len Spen­dern um Unter­stüt­zung warb, erhielt er schon mal den Bescheid, dass dies aus Rück­sicht auf die eige­ne Kund­schaft nicht mög­lich sei. Ja, so sind hier die Leu­te. Noch immer.

Gün­ter Neu­ge­bau­er: »Gegen das Ver­ges­sen. Opfer und Täter in Rends­burgs NS-Zeit«, Rends­bur­ger Druck- und Ver­lags­haus, 392 Sei­ten, 14,80 €