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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Leben im städtischen Freigehege

Wenn man die Gedich­te Hen­ning Krei­tels liest, fühlt man sich an Franz Biber­kopf erin­nert, den selt­sa­men Hel­den in Alfred Döb­lins Roman »Ber­lin Alex­an­der­platz«. Auf Franz stürzt auch die Groß­stadt ein, wo es »kolos­sal vie­le Men­schen« gibt und wo es laut ist; wo der Ein­zel­ne wenig zu gel­ten scheint, frei und ein­ge­sperrt zugleich ist. Frei­lich führt Döb­lin eine Wand­lung vor, mit­hin Hoff­nungs­vol­les, wäh­rend in den Gedich­ten Krei­tels der Opti­mis­mus sich zu ver­flüch­ti­gen scheint. Am Anfang des Ban­des: »bis zum äußer­sten /​ mit hoff­nung gefüllt …« Und am Ende: »gewicht des lebens /​ nicht mehr stemm­bar …« Das Selt­sa­me geschieht auch hier: Wer im Kaff sitzt, sehnt sich nach dem Tru­bel der Groß­stadt, der Groß­städ­ter nach der Ruhe. Dem Buch wur­den Cya­no­ty­pien aus der Serie »Auf Ruhe­su­che« bei­gege­ben. Die Eisen­blau­drucke – dar­ge­stellt sind Ber­li­ner Park­land­schaf­ten – sind von hohem ästhe­ti­schem Reiz und wun­der­sa­mem Kon­trast zu den Wort­ge­bil­den. So kann man alle paar Sei­ten rasten: im Trep­tower Park, im Volks­park Fried­richs­hain und so wei­ter. Wenn aber der Stadt­gang wie­der auf­ge­nom­men wird, dann pras­selt es auf den Pas­san­ten ein, den man sich viel­leicht doch als Fla­neur vor­zu­stel­len hat: »blau­licht­fan­fa­ren«, »kopf­stein­ras­sel«, »behorn­ter lkw«, »wil­des laser­licht­spiel«. In eini­gen der Tex­te wähnt man sich im expres­sio­ni­sti­schen Groß­stadt­ge­dicht, bei Georg Heym und Alfred Wol­fen­stein. Aber wäh­rend die Groß­stadt dort als Moloch, als Ort der Iso­la­ti­on und Gewalt erscheint, gibt es bei Krei­tel Sozio­lo­gi­sches: »gen­tri­fi­zie­rungs­an­zei­ger«, der »miet­an­stieg macht sich breit«, und »platz­kämp­fe mit sta­tus­sym­bo­len« wer­den aus­ge­foch­ten. Und noch ein Unter­schied zu vie­len ande­ren Groß­stadt­ge­dich­ten: Mit­un­ter leuch­tet Iro­nie auf, wenn zum Bei­spiel eine »inter­net­fleisch­schau« in »ver­zwei­fel­tes taschen­tuch­schwän­gern« mün­det oder mali­zi­ös zuge­se­hen wird: »vor die tür­ge­lie­fer­te bequem­lich­keit /​ fin­ger­schnell geklickt /​ aber zeit­fen­ste­run­ge­nau /​ bricht unmut auf /​ ent­lädt sich und stol­pert davon /​ zur näch­sten wunschaus­lie­fe­rung /​ schon parkt ein wei­te­rer gier­ge­sand­ter.« Das sind genau beob­ach­te­te und poin­tiert for­mu­lier­te Sze­nen aus der Groß­stadt, die wie neben­her Lebens­ge­fühl wider­zu­spie­geln ver­mö­gen, das vie­len ver­lockend erschei­nen muss, bedenkt man den star­ken Drang zur Urba­ni­tät, beson­ders bei jun­gen Men­schen. Doch ob der Stadt­rhyth­mus, der sich jedem auf­zwingt, immer »mit joint und lieb­lings­mu­sik« zu bewäl­ti­gen ist? Tut sich da nicht doch die Lee­re, Hohl­heit, Bru­ta­li­tät auf, von der die Expres­sio­ni­sten schon ein Lied zu sin­gen wussten?

Krei­tel ver­wen­det sehr häu­fig Par­ti­zi­pi­en, gewiss, um Zustän­de genau abzu­bil­den. Das gelingt ihm manch­mal so tref­fend, dass es den Leser wie ein Licht­strahl (Laser­strahl?) trifft. Frei­lich bringt nicht jeder »gedich­ter­zeu­gen­de« Gang bedeu­ten­de Ent­deckun­gen. Es gibt ein paar Tex­te, die über den Befund des Selbst­ver­ständ­li­chen nicht hin­aus­ge­hen, etwa »nichts bleibt, wie es war«. Oder: »in erin­ne­rungs­fet­zen /​ ver­ewigt ein­ge­webt /​ noch­ma­li­ges betrach­ten /​gelebter stun­den«. Doch viel­leicht schafft gera­de Erken­nen des bereits Gedach­ten beim Leser die Nähe, wel­che die­se Gedich­te brau­chen. Es ist gut, wenn man sich in Gedich­ten fin­den kann – und das ist hier möglich.

Hen­ning Krei­tel: »im stadt­ge­he­ge«, Gedich­te, Mit­tel­deut­scher Ver­lag, 112 Sei­ten, 12 €