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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Tausend Nadelstiche

»Die ara­bi­sche Gefahr« – so lau­tet der rei­ße­ri­sche Titel eines Buches, das der­zeit in vie­len Buch­hand­lun­gen sta­pel­wei­se aus­liegt. Anders, als der Titel nahe­legt, geht es nicht um die Lage im Mitt­le­ren Osten, son­dern um das Phä­no­men der Clan­kri­mi­na­li­tät in Deutsch­land. Oder, bes­ser gesagt, der soge­nann­ten Clan­kri­mi­na­li­tät. Denn schon der Begriff ist stig­ma­ti­sie­rend und ten­den­zi­ell ras­si­stisch. Schließ­lich kön­nen nur Taten kri­mi­nell sein, aber nicht gan­ze Fami­li­en oder eth­ni­sche Grup­pen. Genau das aber sug­ge­riert eine sen­sa­ti­ons­hei­schen­de media­le Bericht­erstat­tung über »kri­mi­nel­le ara­bi­sche Groß­fa­mi­li­en«, die Straf­ta­ten auf eine eth­ni­sche oder fami­liä­re Her­kunft zurückführt.

Im »Bun­des­la­ge­bild Orga­ni­sier­te Kri­mi­na­li­tät 2018« defi­niert das Bun­des­kri­mi­nal­amt erst­mals Clan­kri­mi­na­li­tät als »Kri­mi­na­li­tät von Mit­glie­dern eth­nisch abge­schot­te­ter Sub­kul­tu­ren«. Als Merk­ma­le wer­den eine »star­ke Aus­rich­tung auf die zumeist patri­ar­cha­lisch-hier­ar­chisch gepräg­te Fami­li­en­struk­tur« sowie eine »man­geln­de Inte­gra­ti­ons­be­reit­schaft mit Aspek­ten einer räum­li­chen Kon­zen­tra­ti­on« genannt. Gemeint sind ins­be­son­de­re Ange­hö­ri­ge der eth­ni­schen Grup­pe der Mhal­la­mi­ye liba­ne­si­scher oder palä­sti­nen­si­scher Her­kunft. Hier­bei han­delt es sich um eine ursprüng­lich aus der Regi­on um Mar­din in der Süd­ost­tür­kei in den 1920er bis 1940er Jah­ren auf­grund der Zwangs­tür­ki­sie­rungs­po­li­tik des kema­li­sti­schen Staa­tes in den Liba­non migrier­te ara­bisch­spra­chi­ge Volks­grup­pe. Im Liba­non leb­ten die Ange­hö­ri­gen die­ser Grup­pe viel­fach als Staa­ten­lo­se mar­gi­na­li­siert am unte­ren Ende der Gesell­schaft. Ab Mit­te der 1970er Jah­re kamen sie nach Angrif­fen rech­ter christ­li­cher Mili­zen auf ihre Wohn­ge­bie­te im Liba­non als Bür­ger­kriegs­flücht­lin­ge nach Deutsch­land. Doch hier wur­den sie erneut aus­ge­grenzt. Weil ihre Staats­bür­ger­schaft viel­fach unge­klärt war, beka­men sie kein Asyl, son­dern wur­den in eine Ket­ten­dul­dung gescho­ben. Über Jahr­zehn­te muss­ten sie alle paar Mona­te ihre Dul­dung bei der Aus­län­der­be­hör­de ver­län­gern las­sen und dabei immer mit der Angst leben, kei­ne Ver­län­ge­rung zu bekom­men und in den Liba­non abge­scho­ben zu wer­den. Eine nor­ma­le Aus­bil­dung oder eine Anstel­lung, um den eige­nen Lebens­un­ter­halt zu ver­die­nen, war auf­grund der Dul­dung nur schwer zu erlan­gen, wenn nicht in vie­len Fäl­len gar unmög­lich. Und wo der deut­sche Staat kei­ne aus­rei­chen­de sozia­le und Auf­ent­halts­si­cher­heit gewähr­lei­sten woll­te, wur­de die Fami­lie wie schon im Liba­non zum pri­mä­ren sozia­len Auf­fang­becken. Dass eini­ge der Ein­wan­de­rer aus dem Liba­non in einer sol­chen Situa­ti­on ver­su­chen, auf ande­re Wei­se zu einem Ein­kom­men zu gelan­gen und in die Kri­mi­na­li­tät abglei­ten, ist damit sozio­lo­gisch nach­voll­zieh­bar und juri­stisch selbst­ver­ständ­lich zu ver­fol­gen. Das Pro­blem soge­nann­ter Clan­kri­mi­na­li­tät ist damit ein­deu­tig haus­ge­macht und als Fol­ge einer ver­fehl­ten Inte­gra­ti­ons­po­li­tik der letz­ten vier Jahr­zehn­te anzusehen.

Wer einen der bekann­ten, weil von den Medi­en mit »Clan­kri­mi­na­li­tät« in Ver­bin­dung gebrach­ten Nach­na­men trägt, hat es in der Regel schwer bei der Woh­nungs-, Aus­bil­dungs­platz- und Arbeits­su­che sowie bei Ver­kehrs­kon­trol­len der Poli­zei. Unbe­schol­te­ne Fami­li­en­mit­glie­der wer­den so in Sip­pen­haft für ihre auf die schie­fe Bahn gera­te­nen Ange­hö­ri­gen genom­men und damit am Ende erst auf­grund von Per­spek­tiv­lo­sig­keit in deren Arme getrie­ben. Zur öffent­li­chen Stig­ma­ti­sie­rung und der Wahr­neh­mung als ver­meint­li­che Gefahr tra­gen vor allem medi­al insze­nier­te Groß­raz­zi­en gegen »Clan­kri­mi­na­li­tät« in stark migran­tisch gepräg­ten Stadt­be­zir­ken wie Ber­lin-Neu­kölln aber auch im Ruhr­ge­biet bei.

Die Ant­wort des Ber­li­ner Senats auf eine par­la­men­ta­ri­sche Anfra­ge der Lin­ken-Abge­ord­ne­ten Niklas Schr­a­der und Anne Helm zu den Raz­zi­en in Neu­kölln ist bezeich­nend. Allein zwi­schen Mai und Sep­tem­ber kam es dem­nach zu 14 Groß­raz­zi­en gegen ver­meint­li­che Clan­kri­mi­na­li­tät in Neu­kölln. Betei­ligt waren ins­ge­samt 772 zum Teil schwer­be­waff­ne­te Ein­satz­kräf­te, dar­un­ter neben sol­chen von der Ber­li­ner Poli­zei auch sol­che von der Bun­des­po­li­zei, dem Finanz­amt, dem Ord­nungs­amt und dem Zoll, die zusam­men auf fast 4400 Ein­satz­kräf­te­stun­den kamen. Kon­trol­liert wur­den »ins­ge­samt 978 Per­so­nen, 72 Loka­le, 385 Kraft­fahr­zeu­ge und 22 son­sti­ge Objek­te«. Was aber kam bei die­sen in der Regel von einem Auf­ge­bot der vor­her infor­mier­ten Pres­se und von Lokal­po­li­ti­kern beglei­te­ten Raz­zi­en her­aus? 197 Ord­nungs­wid­rig­kei­ten wie Ver­stö­ße gegen ord­nungs­ge­mä­ße Kas­sen­füh­rung oder das Nicht­rau­cher­ge­setz, etwa weil sich unter 18-Jäh­ri­ge in den Rau­cher­knei­pen auf­hiel­ten. Ledig­lich 56 Mal ergab sich der Ver­dacht auf eine Straf­tat. Es han­del­te sich vor allem um Delik­te wie gerin­gen Dro­gen­be­sitz bei Besu­chern von Bars, Belei­di­gung der rabi­at vor­ge­hen­den Ein­satz­kräf­te oder Fah­ren ohne Fahr­erlaub­nis. Nur in Aus­nah­me­fäl­len wur­den Waf­fen gefun­den, und manch­mal wur­de unver­zoll­ter Tabak sicher­ge­stellt. Mehr­fach wur­de schließ­lich eine zu hohe Koh­len­mon­oxid­kon­zen­tra­ti­on in Shi­sha-Bars gemes­sen. Das ist gesund­heits­ge­fähr­dend, hat aber mit Orga­ni­sier­ter Kri­mi­na­li­tät eben­so wenig zu tun wie die ande­ren fest­ge­stell­ten Delik­te. Das aber erwar­ten die poli­tisch Ver­ant­wort­li­chen für die­se Raz­zi­en, die es auch in Nord­rhein-West­fa­len und ande­ren Bun­des­län­dern gibt, anschei­nend gar nicht. Als »Tak­tik der 100 Nadel­sti­che« bezeich­net der nord­rhein-west­fä­li­sche Innen­mi­ni­ster Her­bert Reul (CDU), auf den die­ses Vor­ge­hen zurück­geht, die koor­di­nier­ten Kon­trol­len und Raz­zi­en durch Poli­zei, Zoll und Finanz­äm­ter in Geschäfts­räu­men und Bars. Ziel ist es laut Reul, »ein­fach Unru­he in die­ses Publi­kum zu bringen«.

Poli­ti­ker wie Reul oder der Neu­köll­ner Bezirks­bür­ger­mei­ster Mar­tin Hikel (SPD) insze­nie­ren sich mit sol­chen Macht­de­mon­stra­tio­nen gegen­über der medi­al auf­ge­hetz­ten Öffent­lich­keit als »Sau­ber­män­ner«. Doch für die migran­ti­schen Besit­zer der immer wie­der von schwer­be­waff­ne­ten Poli­zi­sten vor lau­fen­den Fern­seh­ka­me­ras gestürm­ten Loka­le und Läden ist das Vor­ge­hen, das ihre Kun­den abschreckt, exi­stenz­ge­fähr­dend. Und für ihre damit unter Gene­ral­ver­dacht gestell­ten Besu­cher, die wie Schwer­ver­bre­cher behan­delt wer­den, ist es schlicht diskriminierend.

An die­ser Stel­le soll nicht ver­hehlt wer­den, dass Orga­ni­sier­te Kri­mi­na­li­tät in Deutsch­land all­jähr­lich gro­ße Schä­den anrich­tet. Und auch eini­ge Mit­glie­der soge­nann­ter Clan­fa­mi­li­en haben sich vie­ler, zum Teil schwer­ster Straf­ta­ten schul­dig gemacht. Hier ist es not­wen­dig, mit allen rechts­staat­li­chen Mit­teln vor­zu­ge­hen und die Kri­mi­nel­len dort zu tref­fen, wo es ihnen auch weh tut – näm­lich bei ihren Finan­zen. Doch als Nadel­sti­che ver­harm­lo­ste Rund­um­schlä­ge mit der Brech­stan­ge sind mit Sicher­heit der fal­sche Weg.

Und wenn wir schon von der von »Clan­kri­mi­na­li­tät« spre­chen wol­len, dann soll­ten wir auch ein­mal über deut­sche Fami­li­en­clans spre­chen, die durch Kolo­ni­al­krie­ge, Kriegs­pro­duk­ti­on und durch die Aus­beu­tung von Zwangs­ar­beit reich wur­den. Spre­chen wir bei­spiels­wei­se ein­mal über den Hohen­zol­lern-Clan, der die Drei­stig­keit besitzt, nun sei­ne auf­grund sei­ner Kol­la­bo­ra­ti­on mit den Nazis ent­eig­ne­ten Schlös­ser zurückzufordern.