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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Mehr Demokratie wagen – heute

Kapi­ta­lis­mus kann nur eine bür­ger­li­che Demo­kra­tie her­vor­brin­gen. Undif­fe­ren­zier­te Begrif­fe wie »Demo­kra­tie«, »Frei­heit«, »Nati­on« usw. sind unter gegen­wär­ti­gen kapi­ta­li­sti­schen Bedin­gun­gen für die Wesens­be­stim­mung der Gesamt­ge­sell­schaft unzu­läs­si­ge Ver­all­ge­mei­ne­run­gen, d. h. im Grun­de mani­pu­la­ti­ve Ideo­lo­ge­me, um die wirk­li­chen Macht­ver­hält­nis­se im Kapi­ta­lis­mus zu ver­schlei­ern. Denn im Wesent­li­chen haben hier die gro­ßen Kapi­tal­an­le­ger, die besit­zen­den, bür­ger­li­chen Schich­ten das Sagen, kurz­um: die öko­no­mi­sche, sozia­le, kul­tu­rel­le, media­le und damit auch poli­ti­sche Vor­herr­schaft sowie eine wesent­li­che Ent­schei­dungs­macht auch in den Par­la­men­ten. Ihre poli­ti­schen Inter­es­sen­ver­tre­ter sind in Deutsch­land haupt­säch­lich die CDU/​CSU und FDP. Dadurch müs­sen auch sozi­al und öko­lo­gisch aus­ge­rich­te­te Par­tei­en und Orga­ni­sa­tio­nen oft schmerz­haf­te Kom­pro­mis­se ein­ge­hen, weil sie von den Inter­es­sen der domi­nie­ren­den Wirt­schafts- und Finanz­ver­bän­de in Ban­ken und Kon­zer­nen eben­falls abhän­gig sind, ohne dies zumeist öffent­lich zu kom­mu­ni­zie­ren. So kann durch die­se Anpas­sung auch die Mehr­heit der Bevöl­ke­rung zu wenig dage­gen demo­kra­tisch mobi­li­siert werden.

Die »Kri­se der Demo­kra­tie«, von der inzwi­schen alle Welt spricht, ist eine Kri­se der »kapi­ta­li­stisch-bür­ger­li­chen Demo­kra­tie«. Der Kapi­ta­lis­mus ist auf­grund sei­nes inne­ren wirt­schaft­li­chen Zwangs zum Wirt­schafts­wachs­tum dazu ver­dammt, inter­na­tio­nal kon­kur­renz­fä­hig zu sein und zu blei­ben, um größt­mög­li­che Pro­fi­te für die Kapi­tal­eig­ner zu erzie­len. Not­falls wer­den zu die­sem Zweck auch abhän­gig Beschäf­tig­te in die Arbeits­lo­sig­keit ent­las­sen bzw. welt­weit in den Nied­rig­lohn­sek­tor und ins Pre­ka­ri­at abge­drängt. Der Kapi­ta­lis­mus ist dadurch nicht in der Lage, die glo­ba­len sozia­len, öko­lo­gi­schen und poli­ti­schen Kri­sen sowie die tie­fen natio­na­len und glo­ba­len Ungleich­hei­ten zurück­zu­drän­gen. Er muss die­se uni­ver­sel­len Gesell­schafts­spal­tun­gen sogar immer wei­ter ver­tie­fen, und sei es auch durch Auf­rü­stung und Krie­ge, um das kapi­ta­li­sti­sche Gesell­schafts­sy­stem und deren Markt­macht mög­lichst glo­bal wei­ter am Leben zu erhal­ten. Kei­ner der impe­ria­len Krie­ge der USA, als dem selbst­er­nann­ten »Füh­rer der frei­en Welt«, hat je »Gerech­tig­keit«, »Frei­heit«, »Glück« oder »Demo­kra­tie« gebracht, son­dern in erster Linie Cha­os, Zer­stö­rung und mil­lio­nen­fa­ches Flücht­lings­elend sowie eska­lie­ren­de Aus­beu­tung, ob in Indo­chi­na, Irak, Syri­en, im Nahen Osten, in Jugo­sla­wi­en, in Süd- und Mit­tel­ame­ri­ka, in Afgha­ni­stan oder heu­te in Russ­land und der Ukrai­ne. Die­se impe­ria­len Krie­ge ent­sprin­gen dem (auto-)kannibalischen Wesen des Kapi­ta­lis­mus, dem Gewalt­tä­tig­keit auf­grund der sozia­len Spal­tung zwi­schen Arm und Reich sowie die zer­stö­re­ri­sche Aus­beu­tung der Natur imma­nent sind.

Die­se Zusam­men­hän­ge wer­den unun­ter­bro­chen ver­drängt. Statt­des­sen will man uns glau­ben machen, dass durch gewalt­sa­me Inter­ven­ti­on »Befrei­ungs­be­we­gun­gen« unter­stützt wer­den, die aber besten­falls nur bür­ger­li­che Aus­beu­tungs­ver­hält­nis­se und ver­tief­te sozia­le Spal­tun­gen her­vor­brin­gen. Die Fol­gen sind mil­lio­nen­fa­ches Kriegs- und Armut­se­lend sowie Migra­ti­ons­be­we­gun­gen, die wie­der­um ter­ro­ri­sti­sche und natio­na­li­sti­sche, rechts­ra­di­ka­le, gewalt­tä­ti­ge Gegen­be­we­gun­gen aus­lö­sen und dadurch letzt­lich das eige­ne System durch faschi­sto­ide Bewe­gun­gen gefähr­den. Das wird jedoch in Kauf genom­men, weil Natio­na­lis­mus und bür­ger­li­cher Patrio­tis­mus einem Klas­sen­be­wusst­sein ent­ge­gen­wir­ken und damit das Rin­gen zwi­schen »Unten« und »Oben« toxisch lähmen.

Aber der Kampf gegen expan­si­ve Aus­beu­tung und sozia­le Spal­tung der Mehr­heit der Welt­be­völ­ke­rung durch die kapi­ta­li­sti­sche Glo­ba­li­sie­rung sowie die dabei eska­lie­ren­de Zer­stö­rung der natür­li­chen Lebens­grund­la­gen der Erde sind inzwi­schen zu einem exi­sten­zi­el­len Über­le­bens­kampf der gan­zen Mensch­heit gewor­den. Es geht dabei im Kern um die Par­ti­zi­pa­ti­on aller an den ein­ma­li­gen Schät­zen der Erde, d. h. um die Durch­set­zung uni­ver­sel­ler Men­schen­rech­te. Erst wenn die­ser Kampf für alle Men­schen gewon­nen wur­de, ist der Begriff »Demo­kra­tie«, also »Volks­herr­schaft«, in der Gesell­schafts­pra­xis realisiert.

Die unlängst gefei­er­te 48er-Revo­lu­ti­on gehört sicher­lich zur Demo­kra­ti­sie­rungs­ge­schich­te Deutsch­lands und Euro­pas, inspi­riert durch die repu­bli­ka­ni­sche ame­ri­ka­ni­sche Unab­hän­gig­keits­be­we­gung und die Fran­zö­si­schen Revo­lu­tio­nen seit 1789 gegen die feu­da­len Herr­schafts­sy­ste­me. Obwohl dar­an immer auch pro­le­ta­ri­sche Schich­ten und auf­ge­klär­te Intel­lek­tu­el­le lei­den­schaft­lich mit­wirk­ten, ent­pupp­ten sich alle die­se Kämp­fe für die angeb­lich all­ge­mein­gül­ti­gen Idea­le von »Gerech­tig­keit«; »Gleich­heit«, »Brü­der­lich­keit« oder »all­ge­mei­nem Wohl­stand« als vor­nehm­lich bür­ger­li­che Revo­lu­tio­nen, die zunächst weni­ger für die Arbei­ter­schaft, für Skla­ven, Frau­en oder Men­schen kolo­nia­li­sier­ter Her­kunft wirk­sam wur­den. Natür­lich eröff­ne­ten bür­ger­li­che Revo­lu­tio­nen lang­fri­stig zugleich auch eman­zi­pa­to­ri­sche Frei­räu­me für abhän­gig Beschäf­tig­te, etwa durch Bil­dung von Gewerk­schaf­ten und Par­tei­en, Ver­bes­se­rung von Bil­dungs-, Arbeits- und Lebens­be­din­gun­gen, Ent­ste­hung sozia­ler Siche­rungs­sy­ste­me, Gewal­ten­tei­lung, Ver­samm­lungs- und Pres­se­frei­heit, sowie das all­ge­mei­ne Wahl­recht für regio­na­le und natio­na­le Par­la­men­te. Doch die­se Frei­räu­me waren und sind stän­dig gefähr­det, muss­ten unun­ter­bro­chen ver­tei­digt und unend­lich müh­sam wei­ter erkämpft und aus­ge­baut wer­den, oft gegen erbit­ter­te Wider­stän­de des feu­da­len und bür­ger­li­chen Lagers.

Es ist bezeich­nend, dass SPD-Mit­glied und Bun­des­prä­si­dent Frank-Wal­ter Stein­mei­er in sei­ner Gedenk­re­de zur 48er Revo­lu­ti­on vom 17. März 2023, anläss­lich ihres 175 Jubi­lä­ums, kein Wort über das bereits 1847/​48 ent­stan­de­ne »Mani­fest der Kom­mu­ni­sti­schen Par­tei« von Marx und Engels ver­lor, eben­so wenig über deren füh­ren­de Mit­ar­beit an der Neu­en Rhei­ni­schen Zei­tung, dem wohl wich­tig­sten media­len »Organ der Demo­kra­tie« (so deren Unter­ti­tel) der 48er-Revo­lu­ti­on – obwohl die bei­den zugleich die ent­schei­den­den theo­re­ti­schen und prak­ti­schen Geburts­hel­fer der inter­na­tio­na­len Arbei­ter­be­we­gung, also auch der deut­schen Sozi­al­de­mo­kra­tie waren. Bun­des­kanz­ler Scholz behaup­te­te sogar, Marx habe »am Ende nur Quatsch hin­ter­las­sen, das unmög­li­che Ide­al eines para­die­si­schen Lebens voll­kom­men frei­er Wahl der Bedürf­nis­be­frie­di­gung« (FAZ v. 15.6.23). Aber die revo­lu­tio­nä­re Gesell­schafts­vi­si­on von Marx und Engels ging bekannt­lich weit über die For­de­run­gen der bür­ger­li­chen Revo­lu­tio­nä­re von 1848 hin­aus. Sie ent­larv­ten die ent­ste­hen­de bür­ger­li­che Gesell­schaft, trotz der Eman­zi­pa­ti­ons­kämp­fe gegen die Adels­herr­schaft, als »Instru­ment bür­ger­li­cher Klas­sen­herr­schaft«, weil damit bekannt­lich das vor­herr­schen­de Pri­vat­ei­gen­tum an Pro­duk­ti­ons­mit­teln abge­si­chert und wei­ter­ent­wickelt wer­den soll­te, meist auf Kosten der abhän­gig Beschäf­tig­ten. Die­se Eigen­tums­ver­hält­nis­se tru­gen und tra­gen dazu bei, dass der erwirt­schaf­te­te Mehr­wert, der bis heu­te auf unbe­zahl­ter Arbeit der »Arbeit­neh­mer« beruht, pri­mär in die Taschen der Aktio­nä­re fließt, wäh­rend abhän­gig Beschäf­tig­te nur ein Bruch­teil davon in ihren Lohn- und Gehalts­ab­rech­nun­gen wie­der­fin­den, wodurch die sozi­al gespal­te­ne, bür­ger­li­che Klas­sen­ge­sell­schaft zemen­tiert wird. Erst die Über­win­dung die­ser Klas­sen­ge­gen­sät­ze kann, wie es im »Mani­fest« heißt, die »freie Ent­wick­lung eines jeden (als) Bedin­gung für die freie Ent­wick­lung aller« ermög­li­chen. Das ist und bleibt das Ide­al einer wirk­li­chen Volksherrschaft.

Aber die Nie­der­la­ge der 48er-Revo­lu­ti­on barg noch ande­re weit­rei­chen­de Leh­ren: Engels ana­ly­sier­te 1895 rück­blickend auch für eine geschei­ter­te »rote Repu­blik«, dass »der Stand der öko­no­mi­schen Ent­wick­lung auf dem euro­päi­schen Kon­ti­nent damals noch bei wei­tem nicht reif war für die Besei­ti­gung der kapi­ta­li­sti­schen Pro­duk­ti­on«. Und Marx ana­ly­sier­te, dass eine Revo­lu­ti­on, die auf man­geln­dem gesell­schaft­li­chem Reich­tum basiert, »die alte Schei­ße« erneut reproduziert.

Doch die Kon­ter­re­vo­lu­ti­on hat schließ­lich, trotz Wie­der­her­stel­lung feu­da­ler Vor­herr­schaft, immer­hin die bür­ger­lich-kapi­ta­li­sti­sche Ent­wick­lung und spä­ter auch die natio­na­le Ver­ei­ni­gung von »Oben« durch Bis­marck sowie die Ent­wick­lung der Sozi­al­de­mo­kra­tie und den Beginn einer Sozi­al­ge­setz­ge­bung nicht ver­hin­dern kön­nen. Aller­dings konn­te erst nach dem Desa­ster des 1. Welt­krie­ges, also 70 Jah­re spä­ter, durch die Novem­ber­re­vo­lu­ti­on und die Abdan­kung des Kai­sers eine bür­ger­li­che Repu­blik, d. h. die fra­gi­le Wei­ma­rer Repu­blik, in Deutsch­land ent­ste­hen, aller­dings erneut – auch mit Hil­fe der SPD-Füh­rung – durch blu­ti­ge Nie­der­schla­gung einer »roten Räterepublik«.

Den­noch: Mit der Wei­ter­ent­wick­lung der Wei­ma­rer Repu­blik nach dem NS-Desa­ster und dem 2. Welt­krieg haben wir heu­te in der kapi­ta­li­sti­schen Bun­des­re­pu­blik ein respek­ta­bles, wenn auch immer noch bür­ger­li­ches Grund­ge­setz – das etwa den Ent­wurf des »Run­den Tisches« nach 1990 nicht in eine neue Ver­fas­sung inte­grier­te. Es bleibt zu hof­fen, dass auch die Revo­lu­tio­nen im Ost­block, die spä­te­stens 1990 auf­grund öko­no­mi­scher und poli­ti­scher Schwä­chen gleich­falls eine kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­re Nie­der­la­ge erlit­ten, eman­zi­pa­to­risch wei­ter­wir­ken. Des­halb ist der bür­ger­li­che Main­stream heu­te unter allen Umstän­den dar­auf bedacht, die eman­zi­pa­to­ri­schen Errun­gen­schaf­ten sozia­li­sti­scher Revo­lu­tio­nen im Osten ver­ächt­lich zu machen und die bür­ger­li­che Bun­des­re­pu­blik als ein­zig legi­ti­me deut­sche Nach­kriegs­ord­nung apo­lo­ge­tisch zu fei­ern. Erst nach und nach wird sich her­aus­stel­len, dass die sozia­li­sti­schen Revo­lu­tio­nen, trotz ihrer öko­no­mi­schen und demo­kra­ti­schen Defi­zi­te, Ent­wick­lun­gen im 21. Jahr­hun­dert vor­weg­ge­nom­men haben, um die sozi­al unge­rech­ten und Gewalt aus­lö­sen­den Klas­sen­spal­tun­gen zurückzudrängen.

Wel­che außen- und innen­po­li­ti­schen Haupt­zie­le aber wären dafür aus­schlag­ge­bend, die bis­he­ri­ge bür­ger­li­che Demo­kra­tie in Rich­tung einer sozi­al-öko­lo­gi­schen, demo­kra­ti­schen Trans­for­ma­ti­on zu einer wirk­li­chen Volks­herr­schaft umzu­ge­stal­ten, die den Namen »Demo­kra­tie« tat­säch­lich ver­dient? Was heißt also heu­te: Mehr Demo­kra­tie wagen?

Solan­ge Gesell­schafts- und Außen­po­li­tik sich nicht aus der Abhän­gig­keit von aggres­si­ven glo­ba­len Zie­len der Herr­schen­den in den USA löst, die für über 80 Pro­zent der Krie­ge nach 1945 ver­ant­wort­lich sind, kann es kei­ne fried­lich-pro­gres­si­ven Ent­wick­lun­gen in einer mul­ti­po­la­ren, demo­kra­ti­sier­ten Welt geben.

Solan­ge Pro­fit­ma­xi­mie­rung für wohl­ha­ben­de Min­der­hei­ten nicht durch eine Innen- und Außen­po­li­tik sowie den Gewerk­schafts­kampf per­ma­nent zurück­ge­drängt wird, um eine stär­ke­re Teil­ha­be aller abhän­gig Beschäf­tig­ten zu sichern und das Pre­ka­ri­at, Arbeits- und Obdach­lo­sig­keit durch stär­ke­re Anglei­chung aller Ein­kom­men, durch sozi­al gerech­te Arbeits- und Lebens­be­din­gun­gen, durch Aus­bau der Sozi­al­sy­ste­me zu über­win­den, kann kei­ne Gesell­schaft als demo­kra­tisch gelten.

Solan­ge der flä­chen­decken­de Aus­stieg aus fos­si­ler Ener­gie­wirt­schaft und Umwelt­raub­bau nicht gelingt und natio­na­le Boden­schät­ze nicht pri­mär dem natio­na­len Gemein­wohl scho­nend zugu­te­kom­men – und nicht pri­mär mul­ti­na­tio­na­len Kon­zer­nen und ihren Aktio­nä­ren –, kann kei­ne Gesell­schaft als demo­kra­tisch gelten.

Solan­ge men­schen­wür­di­ger Wohn­raum und Wohn­ne­ben­ko­sten nicht für alle Gesell­schafts­schich­ten bezahl­bar zur Ver­fü­gung ste­hen, kann kei­ne Gesell­schaft als demo­kra­tisch gelten.

Solan­ge Bil­dungs-, Kul­tur- und Frei­zeit­an­ge­bo­te nicht allen Men­schen bezahl­bar offen­ste­hen, zur demo­kra­ti­schen Mit­wir­kung befä­hi­gen und nicht vor­ran­gig pri­vi­le­gier­ten Schich­ten vor­be­hal­ten blei­ben, kann kei­ne Gesell­schaft als demo­kra­tisch gelten.

Solan­ge Sozi­al­sy­ste­me – Gesund­heits­we­sen, Wei­ter­bil­dungs­sy­ste­me, Ren­ten­sy­stem usw. – nicht alle Men­schen vor ver­meid­ba­ren Krank­hei­ten, vor Arbeits­lo­sig­keit, vor Kin­der- und Alters­ar­mut schüt­zen, kann kei­ne Gesell­schaft als demo­kra­tisch gelten.

Solan­ge Mas­sen­me­di­en pri­mär die innen- und außen­po­li­ti­sche Deu­tungs­ho­heit der vor­herr­schen­den Par­tei­en durch eine Art »Hof­be­richt­erstat­tung« unter­stüt­zen, über­wie­gend Unter­hal­tungs­sen­dun­gen und Wer­bung anbie­ten, anstatt wert­vol­le Kul­tur­ange­bo­te zu ver­mit­teln, und die Mei­nungs­bil­dung in den sozia­len Medi­en nicht in den öffent­li­chen poli­ti­schen Dis­kurs ein­spei­sen, kann kei­ne Gesell­schaft als demo­kra­tisch gelten.

Solan­ge Abge­ord­ne­te der Par­tei­en nur zu Wah­len um Stim­men der Wäh­ler wer­ben, und dies abhän­gig von der Höhe ihrer Wahl­kampf­gel­der und Wahl­kampf­spen­den, aber nicht auch inner­halb der Wahl­pe­ri­oden, etwa in Wäh­ler­rä­ten, ihren Wäh­lern regel­mä­ßig Rede und Ant­wort ste­hen und not­falls auch zwi­schen den Wahl­pe­ri­oden abge­wählt wer­den kön­nen, kann kei­ne Gesell­schaft als demo­kra­tisch gelten.

Solan­ge Par­la­men­te nicht aus­rei­chen­de Steu­er­gel­der ins­be­son­de­re von wohl­ha­ben­den Schich­ten ein­neh­men, um das sozi­al-öko­lo­gi­sche Gemein­wohl für alle zu sichern und wei­ter­zu­ent­wickeln, son­dern per­ma­nent Staats­schul­den, auch für sinn­lo­se Rüstungs- und Kriegs­aus­ga­ben anhäu­fen, kann kei­ne Gesell­schaft als demo­kra­tisch gelten.

Solan­ge eine Poli­zei- und Justiz exi­stie­ren, die auf dem rech­ten Auge blind sind, und die Ver­tei­di­gung von Ange­klag­ten von ihrem Geld­beu­tel abhän­gig ist, also Klas­sen­ju­stiz herrscht, kann kei­ne Recht­spre­chung als demo­kra­tisch gelten.

Solan­ge nicht, ange­sichts der eska­lie­ren­den sozia­len, öko­lo­gi­schen und poli­ti­schen Kri­sen und Kriegs­schau­plät­ze, eine frie­dens­stif­ten­de Zei­ten­wen­de, auf der Basis der UN-Char­ta durch sehr vie­le Men­schen, durch Zivil­ge­sell­schaft, Frie­dens­be­we­gung, Gewerk­schaf­ten, Kir­chen, Ver­ei­ne, Orga­ni­sa­tio­nen, Par­tei­en und von Abge­ord­ne­ten in den Par­la­men­ten aus­geht, d. h. immer mehr Men­schen auf allen Ebe­nen der Gesell­schaft nicht nur um die Ver­bes­se­rung ihrer eige­nen Exi­stenz rin­gen, son­dern sich auch lei­den­schaft­lich für die Ent­wick­lung des par­ti­zi­pa­ti­ven, natio­na­len und glo­ba­len Gemein­wohls ein­setz­ten und sich dabei nicht von dem­ago­gi­schen Kriegs­trei­bern, Natio­na­li­sten und Rechts­ra­di­ka­len instru­men­tie­ren las­sen, kann kei­ne Gesell­schaft demo­kra­ti­siert wer­den und schließ­lich als demo­kra­tisch gelten.

Ohne gesell­schaft­li­che Orga­ni­sa­tio­nen, die nie­der­schwel­li­ge, demo­kra­ti­sche Mit­wir­kungs- und Mit­ent­schei­dungs­mög­lich­kei­ten und damit Über­tra­gun­gen von »Unten« nach »Oben« ermög­li­chen, ist die Visi­on einer demo­kra­ti­schen, Klas­sen­gren­zen über­win­den­den Gesell­schaft nicht zu rea­li­sie­ren. »Mehr Demo­kra­ti­sie­rung wagen« muss also auch durch Druck von unten, in den gesell­schaft­li­chen Orga­ni­sa­tio­nen, Medi­en und Par­tei­en begin­nen, wie einst auch die 68er-Bewe­gung Wil­ly Brandt zu die­ser Losung inspi­riert haben dürf­te. Dabei las­sen sich Demo­kra­ti­sie­rungs­pro­zes­se nur inso­weit vor­an­trei­ben, wenn bereits Eman­zi­pa­ti­ons­be­we­gun­gen und prak­ti­sche Lösungs­an­sät­ze zum Abbau von Klas­sen­un­ter­schie­den und öko­lo­gi­scher Kri­se tra­diert und in die Wege gelei­tet sind. Anson­sten lau­fen sol­che Bemü­hun­gen Gefahr, sich in mora­li­sie­ren­dem Wunsch­den­ken von Par­tei­pro­gram­men und Wahl­ver­spre­chen in Luft auf­zu­lö­sen. Sie hin­ter­las­sen so nur poli­ti­sche Ent­täu­schun­gen, Fru­stra­ti­on und Ent­po­li­ti­sie­rung. Sowohl das stän­di­ge Bewusst­ma­chen der genann­ten gesell­schafts­po­li­ti­schen Fern­zie­le und Wer­te als auch die Defi­ni­ti­on der aktu­ell »näch­sten Schrit­te«, um die­se Zukunfts­vi­sio­nen im All­tag durch­zu­set­zen, sind glei­cher­ma­ßen unver­zicht­ba­re Moti­va­tio­nen für erfolg­rei­che demo­kra­ti­sche Mas­sen­be­we­gun­gen. Fehlt eine sol­che glaub­wür­di­ge, d. h. auch per­so­nell und medi­al über­zeu­gend kom­mu­ni­zier­te Dop­pel­stra­te­gie der lei­den­schaft­li­chen Ver­mitt­lung des Zusam­men­hangs von Gegen­warts- und Zukunfts­in­ter­es­sen bei der Zurück­drän­gung sozia­ler Spal­tung und öko­lo­gi­scher Kri­se, brau­chen sich Par­tei­en und Orga­ni­sa­tio­nen nicht zu wun­dern, wenn ihnen Mit­glie­der und Wäh­ler weg­lau­fen, sich ent­so­li­da­ri­sie­ren bzw. sich in ihre »Fil­ter­bla­sen« ein­kap­seln. Das ist eine all­ge­mein­gül­ti­ge geschicht­li­che Erfah­rung, die für Sozi­al­de­mo­kra­ten, Grü­ne und Lin­ke glei­cher­ma­ßen zutrifft: Wenn pro­gram­ma­ti­sche Ver­spre­chun­gen und ent­spre­chen­de poli­ti­sche Maß­nah­men nicht ver­knüpft und im All­tag für vie­le Men­schen als neue Lebens­chan­cen erleb­bar sind, ver­lie­ren alle genann­ten poli­ti­schen Strö­mun­gen an demo­kra­ti­sie­ren­der Iden­ti­fi­ka­ti­ons- und Durch­set­zungs­kraft. Mehr Demo­kra­tie wagen, kann nur gelin­gen, wenn immer mehr Demo­kra­ten Mut und Kom­pe­tenz ent­wickeln, die lebens­be­droh­li­che Aus­beu­tung von Men­schen und Natur zurückzudrängen.