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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Wie die Demokratie gezähmt wurde

Der genia­le Vor­schlag kam von SPD-Innen­mi­ni­ste­rin Nan­cy Faeser: Die Bun­des­tags­wah­len sol­len künf­tig nur noch alle fünf Jah­re statt­fin­den. Als demo­kra­ti­sche Kom­pen­sa­ti­on soll man im Gegen­zug schon ab 16 Jah­ren wäh­len dür­fen. Der lästi­ge Gang zur Urne bleibt einem dann ein Jahr län­ger erspart, in den mei­sten Bun­des­län­dern ist das ohne­hin schon der Fall. Sol­che Baste­lei­en am Wahl­recht haben Tradition.

Im deut­schen Kai­ser­reich gab es neben den Reichs­tags­wah­len in jedem Teil­staat, fast alles kon­sti­tu­tio­nel­le Mon­ar­chien, eige­ne Wah­len mit eigen­stän­di­ger Wahl­ge­setz­ge­bung. Das domi­nan­te Preu­ßen mit sei­nem Drei­klas­sen-Wahl­recht hat­te ein für heu­ti­ge Ver­hält­nis­se arg plum­pes System erson­nen, um das zar­te Pflänz­chen Demo­kra­tie klein zu hal­ten. Die Wäh­ler­stim­men wur­den unter­schied­lich gewich­tet. Drei Steu­er­klas­sen sorg­ten dafür, dass die Steu­er­lei­stung des Wäh­lers dar­über bestimm­te, wie viel sei­ne Stim­me wert war. Wer wenig oder gar kei­ne Steu­ern zahl­te, des­sen Stim­me zähl­te daher bei der Wahl auch weni­ger. Zudem war die Wahl für die drit­te Klas­se nicht geheim. Die Wahl­be­tei­li­gung war daher vor allem in der unte­ren Klas­se gering, was ja auch der Sinn der Sache war. Dazu kam, dass die Wah­len unter der Woche statt­fan­den, was für die arbei­ten­de Bevöl­ke­rung ein zusätz­li­ches Hin­der­nis war, eben­so wie die wei­ten Wege, die die Land­be­völ­ke­rung zurück­le­gen muss­te, um das näch­ste Wahl­lo­kal zu erreichen.

In den »moder­nen Demo­kra­tien« von heu­te wer­den raf­fi­nier­te­re Metho­den ange­wen­det, um den Wäh­ler­wil­len in geneh­me Bah­nen zu len­ken. Fast alle Län­der haben soge­nann­te »Sperr­klau­seln«, die einen bestimm­ten Pro­zent­satz der Wäh­ler­stim­men unter den Tisch fal­len las­sen. In Deutsch­land ist das die berüch­tig­te »Fünf-Pro­zent-Hür­de«. Aber es geht noch bes­ser: In der Tür­kei lag die Sperr­klau­sel bei den Wah­len bis vor kur­zem bei 10 Pro­zent, jetzt immer noch bei stol­zen 7 Pro­zent. Bei der Euro­pa­wahl hin­ge­gen liegt sie bei sehr demo­kra­tie­freund­li­chen 0,5 Pro­zent, was wohl dem Umstand geschul­det ist, dass die euro­päi­schen Par­la­men­ta­ri­er zwar sehr gut bezahlt wer­den, aber die wah­re Macht ohne­hin bei den Regie­rungs­chefs liegt. Doch auch hier ist die der­zei­ti­ge Regie­rung bestrebt, die Hür­de auf wenig­stens zwei Pro­zent zu erhö­hen, ver­mut­lich wegen der stö­ren­den Sati­re­par­tei »Die Par­tei« des Mar­tin Sonneborn.

Natür­lich darf heu­te jeder wäh­len gehen, offi­zi­ell wird dafür sogar hef­tig gewor­ben. Den­noch sinkt die Wahl­be­tei­li­gung fast ste­tig, weil gera­de die­je­ni­gen, die den unte­ren Klas­sen ange­hö­ren, sich nicht mehr ange­spro­chen füh­len. Womit wir wie­der beim preu­ßi­schen Klas­sen­wahl­recht wären, dies­mal frei­lich ganz ohne gesetz­ge­be­ri­sche Maß­nah­me. Kro­ko­dils­trä­nen über die nied­ri­ge Wahl­be­tei­li­gung dür­fen nicht dar­über hin­weg­täu­schen, dass ein­fluss­rei­che Grup­pen und die mei­sten Abge­ord­ne­ten ein Inter­es­se dar­an haben‚ »die Men­schen drau­ßen im Lan­de« auf Distanz zu halten.

In eini­gen Län­dern gibt es eine Art Ping-Pong-Demo­kra­tie. Es exi­stie­ren dann wie in den USA fak­tisch nur noch zwei Par­tei­en, die sich mehr oder weni­ger regel­mä­ßig mit dem Regie­ren abwech­seln und deren Pro­gram­ma­tik bis auf Klei­nig­kei­ten wie Abtrei­bungs­ver­bot oder Waf­fen­be­sitz nahe­zu iden­tisch ist. In Eng­land wird bei den näch­sten Wah­len sehr wahr­schein­lich die Labour Par­ty gewin­nen, was aber für die Mas­se der Bri­ten kei­ner­lei Bedeu­tung haben wird. Den »Links­extre­mi­sten« Jere­my Cor­byn hat man gera­de noch recht­zei­tig gegen den harm­lo­sen Keir Star­mer aus­ge­wech­selt, nichts wird sich ändern. Was pas­siert, wenn das Wahl­volk noch nicht ganz in die Resi­gna­ti­on ver­sun­ken ist, konn­te man die­ses Jahr in Frank­reich beob­ach­ten: Mit dem Arti­kel 49.3 kann das Par­la­ment not­falls umgan­gen wer­den, sodass Macron sei­ne Ren­ten­re­form wie einst Lud­wig XIV. per Dekret durch­set­zen konn­te. Der enga­gier­te Wahl­bür­ger darf zwar eine Demon­stra­ti­on anmel­den und pro­te­stie­ren, aber die Pro­test­zü­ge wer­den zuneh­mend von zahl­rei­chen schwer­be­waff­ne­ten Poli­zi­sten beglei­te­tet, damit jedem klar wird: Mehr als Ritua­le wer­den nicht geduldet.

Auch die Debat­ten in den Par­la­men­ten sind weit­ge­hend zu Ritua­len erstarrt, die Abge­ord­ne­ten und Funk­ti­ons­trä­ger sind mit­tel­mä­ßi­ge Dar­stel­ler in einem Stück, das sich Demo­kra­tie nennt. Wen wun­dert es, dass man fol­ge­rich­tig ger­ne auf Schau­spie­ler zurück­greift, die sich im Rol­len­spiel aus­ken­nen. Ronald Rea­gan, Arnold Schwar­zen­eg­ger, Boris John­son (frü­her ein Lai­en­schau­spie­ler) und Wolo­dym­yr Selen­skyj beherr­schen ihr Metier und wis­sen, wie man die Bür­ger beein­drucken kann. Insze­nier­te Poli­tik gab es zwar schon frü­her, aber heu­te wir­ken Heer­scha­ren gut bezahl­ter Spe­zia­li­sten dar­an mit. Poli­ti­ker wer­den pro­fes­sio­nell in Sze­ne gesetzt, rhe­to­risch geschult und die äuße­re Erschei­nung durch Sty­li­sten per­fek­tio­niert. Wie schon im alten Preu­ßen kom­men die wenig­sten Poli­ti­ker und Abge­ord­ne­te aus der »drit­ten Klas­se«, das Drei­klas­sen­wahl­recht ist klamm­heim­lich wie­der auf­er­stan­den, dank einer völ­lig des­il­lu­sio­nier­ten Wäh­ler­schaft, die ent­we­der das ver­meint­lich klein­ste Übel wählt, sich mit der Wahl von Rechts­extre­men rächt, für Par­tei­en stimmt, die unter die Quo­te fal­len oder aber immer häu­fi­ger zuhau­se bleibt. Der Medi­en­for­scher Wolf­gang Koschnick schreibt in sei­nem Buch »Eine Demo­kra­tie haben wir schon lan­ge nicht mehr: Abschied von einer Illu­si­on« (Frank­furt 2017): »Wahl­kämp­fe die­nen nicht mehr dazu, die Wäh­ler zwi­schen Alter­na­ti­ven ent­schei­den zu las­sen. Sie sind nichts als pro­fes­sio­nell insze­nier­te Spie­le, für die Par­tei­füh­run­gen aus­ge­such­te poli­ti­sche The­men auf­be­rei­tet haben, die sie für die Bevöl­ke­rung von PR-Exper­ten auf thea­tra­li­sche Wei­se in Sze­ne set­zen las­sen. Wah­len die­nen nur noch dazu, den demo­kra­ti­schen Schein zu wah­ren. Ent­schei­dun­gen fal­len andernorts.«

Durch den Ukrai­ne­krieg tobt ein neu­er »kal­ter Krieg« zwi­schen den Syste­men, der demo­kra­ti­sche Wer­te­we­sten gegen die tota­li­tä­ren Staa­ten im Osten. Die west­li­chen Demo­kra­tien rüsten auf, nicht nur mili­tä­risch. Die poli­ti­schen Syste­me rüsten auch gegen den inne­ren Feind, Bür­ger­rech­te wer­den beschnit­ten, Über­wa­chungs­sy­ste­me wer­den aus­ge­baut. Und so nähert man sich klamm­heim­lich jenen Syste­men an, die man so eif­rig kri­ti­siert. Aber eigent­lich geht es um die Macht­er­hal­tung der herr­schen­den Grup­pen, um Pri­vi­le­gi­en, um viel Geld. Ein neu­er Adel hat die Gesell­schaf­ten refeu­da­li­siert, die heu­ti­ge Nobles­se ist kaum mehr durch edle Geburt ent­stan­den, son­dern durch Anhäu­fung von Reich­tü­mern, deren Her­kunft kei­ne Rol­le spielt. Selbst die kom­mu­ni­sti­sche Par­tei Chi­nas ist – nüch­tern betrach­tet – eine Art neu­er Adel, die kom­mu­ni­sti­schen Idea­le sind weit­ge­hend zur Lit­ur­gie ver­kom­men. Was frü­her die Reli­gi­on absi­cher­te, ist heu­te ein von den herr­schen­den Klas­sen defi­nier­tes poli­ti­sches System, zu dem es sich zu beken­nen gilt.

Auch in Deutsch­land wird das poli­ti­sche System ent­spre­chend nach­ju­stiert, wenn Herr­schafts­an­sprü­che gefähr­det sind. Koschnick spricht von einem »olig­ar­chi­schen Feu­dal­sy­stem«, wel­ches de fac­to von »pri­vi­le­gier­ten Wirt­schafts­eli­ten« kon­trol­liert wird. Die indi­sche Publi­zi­stin Arund­ha­ti Roy prä­zi­siert: »In Län­dern der ersten Welt wur­den die demo­kra­ti­schen Mecha­nis­men wirk­sam unter­wan­dert. Poli­ti­ker, Medi­en­za­ren, Rich­ter, mäch­ti­ge Kon­zern-Lob­bys und Regie­rungs­be­am­te pfle­gen unter­ein­an­der dis­kre­te, cle­ver ver­zahn­te wech­sel­sei­ti­ge Bezie­hun­gen und unter­mi­nie­ren dadurch die late­ra­le Balan­ce der Gewal­ten­tei­lung zwi­schen Ver­fas­sung, Gerich­ten, Par­la­ment, Regie­rung und den unab­hän­gi­gen Medi­en als struk­tu­rel­ler Basis der par­la­men­ta­ri­schen Demo­kra­tie. Zuneh­mend wird bei die­ser Ver­zah­nung auf Sub­ti­li­tät oder sorg­fäl­tig erdach­te Ver­schleie­rung verzichtet.«

Die Par­la­men­ta­ri­er in den west­li­chen Demo­kra­tien gehö­ren fast durch­weg jener Schicht an, die man Bes­ser­ver­die­nen­de nennt. Beson­ders krass mani­fe­stiert sich das im US-Kon­gress, dort sind 268 von 534 Abge­ord­ne­ten Mil­lio­nä­re. Im deut­schen Bun­des­tag hält sich die Zahl der Mil­lio­nä­re in Gren­zen, aber wer ein­mal Mit­glied des Hohen Hau­ses gewor­den ist, kann sich über üppi­ge Zuwen­dun­gen und Pri­vi­le­gi­en freu­en. Es ist daher nicht ver­wun­der­lich, dass sich die mei­sten Abge­ord­ne­ten strikt an den Leit­li­ni­en der ent­spre­chen­den Par­tei­gre­mi­en ori­en­tie­ren, selbst wenn sie zuvor eine eige­ne Mei­nung hat­ten. Ohne die Par­tei geht nichts, der Frak­ti­ons­zwang dis­zi­pli­niert den Abweich­ler, der weiß, dass er bei der näch­sten Wahl viel­leicht nicht mehr auf­ge­stellt wird.

Der wich­tig­ste Ort im Par­la­ment ist ohne­hin nicht der Ple­nar­saal, der bei Berich­ten im Fern­se­hen so oft durch die vie­len lee­ren Sit­ze beein­druckt. Es ist viel­mehr jene Wan­del­hal­le, die in angel­säch­si­schen Par­la­men­ten tra­di­tio­nell als »Lob­by« bezeich­net wird. Hier tref­fen sich die wirk­lich Ein­fluss­rei­chen mit den Volks­ver­tre­tern, um ihre Inter­es­sen durch­zu­set­zen, wobei heut­zu­ta­ge es für die mäch­ti­gen Influen­cer kei­ner Wan­del­hal­le mehr bedarf.

»Es muss demo­kra­tisch aus­se­hen, aber wir müs­sen alles in der Hand haben.« Das Zitat soll von Wal­ter Ulb­richt stam­men, aber für die kor­rum­pier­ten Demo­kra­tien gilt der Satz genauso.

Im Grun­de hat sich seit dem Ende des preu­ßi­schen König­reichs und des­sen Wahl­sy­stem gar nicht so viel geän­dert. Die Par­la­men­ta­ri­er sind damals wie heu­te eine Eli­te, die sich für den Groß­teil ihres Wahl­vol­kes nicht inter­es­siert. Noch ein­mal Wolf­gang Koschnick: »Es ist eine poli­ti­sche Kaste mit eige­nen Gewohn­hei­ten, Res­sour­cen, Inter­es­sen und kla­rer Abgren­zung vom Rest der Bevöl­ke­rung. Sie dient auch nicht der Mehr­heit der Bevöl­ke­rung, son­dern nur der ver­schwin­dend klei­nen Min­der­heit der Rei­chen und Super­rei­chen. Sie sind die wil­li­gen Hel­fer und Hel­fers­hel­fer des Kapi­tals. Und so herrscht allent­hal­ben ein merk­wür­di­ger Gegen­satz: Alle Men­schen lie­ben die Demo­kra­tie als Prin­zip und Ide­al. Aber über den demo­kra­ti­schen All­tag sind sie ent­setzt, ja angewidert.«