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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Volkes Schule

Die Stadt lag im Licht eines son­ni­gen Dezem­ber­ta­ges und lock­te. Aller­dings nicht mich. Ich woll­te nicht, woll­te nicht raus aus der Zoll­stel­le am Esse­ner Haupt­bahn­hof, wo ich arbei­te­te. Mei­ne Kol­le­gen tipp­ten sich an die Stirn. Der hat mal wie­der sei­ne Marot­ten, sag­ten sie. Wir schrie­ben die sieb­zi­ger Jah­re des 20. Jahr­hun­derts. Die Neu­zeit. Man­che spra­chen von der Post­mo­der­ne. Das sag­te mir damals nichts. Was mich beschäf­tig­te, war weni­ger mei­ne Arbeit als ein Erlass mei­nes ober­sten Dienst­herrn, des Bun­des­fi­nanz­mi­ni­sters Hel­mut Schmidt. Lud­wig Erhard, der ehe­ma­li­ge Wirt­schafts­mi­ni­ster und zwei­te Kanz­ler, angeb­li­cher Erfin­der des Wirt­schafts­wun­ders, hat­te sei­ner­zeit die Wirt­schaft der jun­gen Bun­des­re­pu­blik mit Hil­fe der US-Ame­ri­ka­ner ange­kur­belt. Genau­er gesagt: mit deren Geld. Getreu den Maxi­men Lud­wig Erhards woll­ten natür­lich auch sei­ne Nach­fol­ger gern künst­lich die Wirt­schaft in Gang hal­ten. So ließ sich Finanz­mi­ni­ster Hel­mut Schmidt etwas ein­fal­len: einen frei­en Nach­mit­tag für die Beam­ten. Nicht, um zu Hau­se bei der Fami­lie zu sein oder Sport zu trei­ben. Das nicht. Man muss­te ein­kau­fen gehen. Es ging ums Geschäft, um die Wirt­schaft. Nicht um Demo­kra­tie, um demo­kra­ti­sche Rege­lun­gen, um die ich mich als Gewerk­schaf­ter und Mit­glied des Per­so­nal­ra­tes bemüh­te. Das Weih­nachts­ge­schäft soll­te belebt wer­den. Ich woll­te das schon allein nicht, weil es ange­ord­net wor­den war. Ich hat­te außer­dem mit Weih­nach­ten nichts am Hut, daher auch kei­nen Grund, des­halb ein­kau­fen zu gehen. Die Kol­le­gen, die mich für ziem­lich blöd hiel­ten, mein­ten, ich müs­se ja nichts kau­fen. Es sei nicht erfor­der­lich, Quit­tun­gen vor­zu­wei­sen. Ich kön­ne mir doch einen schö­nen Tag machen. Wie sie auch. Sie hat­ten näm­lich schon längst alle Weih­nachts­ge­schen­ke bei­sam­men. Ich pro­pa­gie­re den ein­kaufs­frei­en Nach­mit­tag, hat­te ich geblö­delt, dann aber mei­nen Vor­ge­setz­ten ange­ru­fen und gesagt, ich wür­de auf den frei­en Nach­mit­tag ver­zich­ten. Aus Prin­zip. Der war über­rascht. Was denn der Quatsch sol­le? Ich sei der Ein­zi­ge, der Schwie­rig­kei­ten mache. Ich wol­le nichts kau­fen, erwi­der­te ich, ich brauch­te nichts zu kau­fen, und außer­dem fän­de ich das gegen­über den Steu­er­zah­lern unver­ant­wort­lich, den Beam­ten dafür frei­zu­ge­ben. Das koste doch Mil­lio­nen aus dem Steu­er­säckel. Der Vor­ge­setz­te hat­te ver­dutzt geschwie­gen und gesagt, er wür­de noch­mal anru­fen. Das tat er nach einer Stun­de. Wahr­schein­lich hat­te er sich Rücken­deckung bei sei­nem Vor­ge­setz­ten geholt. Ich müs­se ein­kau­fen gehen, das sei eine dienst­li­che Anord­nung, die käme von ganz oben, der wür­de er sich anschlie­ßen, und ich hät­te sie zu befol­gen. Ich wür­de aber lie­ber arbei­ten, hat­te ich geant­wor­tet. Dann krieg­te ich das schrift­lich, hat­te er ange­droht. Ich bat darum.

Einen Tag spä­ter hat­te ich die schrift­li­che Dienst­an­wei­sung auf dem Tisch, mit der Andro­hung dis­zi­pli­na­ri­scher Kon­se­quen­zen bei Nicht­be­fol­gung. Die Kol­le­gen feix­ten. Das war für sie span­nend. Mal sehen, in wel­che Schei­ße ich mich da rein­rei­ten wür­de. Ich über­leg­te drei Tage lang. Dann kam der erwähn­te son­ni­ge Win­ter­tag. Ich blick­te durch die ver­schmutz­ten Schei­ben der klei­nen Dienst­stel­le nach drau­ßen. Die Son­ne lock­te. Über uns don­ner­ten die Züge durch den Haupt­bahn­hof und lie­ßen mich an Urlaub und Frei­heit den­ken. Zufrie­den war ich in die­sem Behör­den­ap­pa­rat, der dem Bun­des­fi­nanz­mi­ni­ster unter­stand, schon lan­ge nicht mehr. Aber was tun? Wie unter Zwang zog ich mei­ne Jacke an, sag­te tschüss und trat vor die Tür.

Gegen­über dem Haupt­bahn­hof liegt das Hotel Han­dels­hof mit sei­nem rie­si­gen Schrift­zug Essen, die Ein­kaufs­stadt auf dem Dach. Sic!, dach­te ich. Gera­de­aus erblick­te ich den Wil­ly-Brandt-Platz, der frü­her Kett­wi­ger Tor hieß, und konn­te die Kett­wi­ger Stra­ße hin­un­ter­schau­en, Essens fuß­läu­fi­ge Ein­kaufs­zo­ne, die erste in der Bun­des­re­pu­blik über­haupt. Ich las Schil­der wie Peek und Clop­pen­burg, Kar­stadt, Hören und Lesen, Tabak Höing, Licht­burg, C & A. Men­schen ström­ten in die Stra­ße hin­ein, ande­re kamen mit Ein­kaufs­tü­ten in bei­den Hän­den zurück. Nach links ging es durch die Hache­stra­ße an der Haupt­post vor­bei zur Zen­tral­bi­blio­thek in der Hin­den­burg­stra­ße. Ein Ziel, das ich häu­fig ansteu­er­te. Nach rechts ver­lief die Hol­le­straße, an deren Ende lin­ker­hand die Volks­hoch­schu­le lag. Ein Wasch­be­ton­bau in ver­schach­tel­ten kubi­schen Bau­tei­len, der Anfang der Sieb­zi­ger modern gewe­sen war, eben­so wie die Erfin­dung der Volks­hoch­schu­len. Ich hat­te dort schon Abend­ver­an­stal­tun­gen besucht, unter ande­rem Lesun­gen. Auch Wei­ter­bil­dungs­kur­se konn­te man belegen.

Ich ging nach rechts, zur Volks­bil­dungs­an­stalt, und schrieb mich für einen Deutsch- und einen Geschichts­kurs ein. Ein wei­te­res Fach, ich wähl­te Musik, woll­te ich selbst zu Hau­se beackern. Ich konn­te Kla­vier spie­len, die Theo­rie wür­de ich nach­le­sen. For­mu­la­re für die Anmel­dung zur Begab­ten­son­der­prü­fung für das Lehr­amt an Schu­len in Nord­rhein-West­fa­len wur­den mir mitgegeben.

Als ich die Hol­le­straße ent­lang zum Kett­wi­ger Tor zurück­kam, war es noch nicht Fei­er­abend­zeit. Ich betrat die klei­ne Knei­pe Later­ne gegen­über dem Haupt­bahn­hof und geneh­mig­te mir ein Sie­ger­pils. Denn wie ein Sie­ger kam ich mir vor. Doch die­ser »Sieg« koste­te es eini­ges an Schweiß. Die bei­den Kur­se fan­den diens­tags und don­ners­tags von 19 bis 22 Uhr statt. Ein ganz schö­ner Schlauch nach einem vol­len Arbeits­tag. An den Wochen­en­den hat­ten wir genü­gend zu tun mit Schul­ar­bei­ten. Es war fast wie frü­her. Ich ging wie­der »zur Schu­le«. Die Mühe wur­de auf­ge­wo­gen durch die inter­es­san­ten Men­schen, die ich ken­nen­lern­te. Die Kurs­lei­te­rin für Deutsch, eine Gym­na­si­al­leh­re­rin, und der Kurs­lei­ter für Geschich­te, ein Dozent der noch nagel­neu­en Gesamt­hoch­schu­le Essen, boten Ein­blicke und Erkennt­nis­se, die uns in der Schul­zeit ver­wehrt wor­den waren. Das war höchst span­nend. Die Mit­strei­ter setz­ten sich aus Leu­ten ver­schie­de­ner Beru­fe zusam­men, die alle viel erzäh­len konn­ten und etwas Neu­es vor­hat­ten. Wie ich.

Am span­nend­sten waren die Pau­sen, die wir in der Kan­ti­ne ver­brach­ten. Ein rela­tiv offe­ner Raum auf einer Empo­re des gro­ßen Saa­les, wo Bier, Kakao, Cap­puc­ci­no, beleg­te Bröt­chen und kal­te Bulet­ten ver­kauft wur­den. Auch einen gro­ßen run­den Tisch gab es dort, an dem ich zusam­men mit einem Fach­be­reichs­lei­ter der VHS den zwei­ten Esse­ner Lite­ra­tur­stamm­tisch grün­de­te. Aber das war viel spä­ter. Vor­erst hock­ten wir in den Pau­sen in der Kan­ti­ne und quatsch­ten über Gott und die Welt. Vor allem über Poli­tik. Damals woll­te ich, wenn ich ein­mal unzu­rech­nungs­fä­hi­ger Rent­ner sein wür­de, so drück­te ich mich aus, Franz-Josef Strauß erschie­ßen, den ich für alles, nur nicht für einen Demo­kra­ten, hielt. Die ande­ren bewun­der­ten mich. Es war aber eine siche­re Sache: Wenn ich so alt sein wür­de, wie Strauß nie gewor­den ist, wäre er nor­ma­ler­wei­se nicht mehr unter den Sterb­li­chen gewe­sen. Er erstick­te, wie es hieß, stock­be­sof­fen am Erbro­che­nen bei einem Jagdausflug.

Irgend­wann beschlos­sen wir, kei­ne Pau­se mehr zu machen, son­dern den Unter­richt am Ende zu kür­zen. Eini­ge woll­ten lie­ber eher nach Hau­se, da der näch­ste Tag für sie früh anfing. Der Rest, der har­te Kern, wie ich zu sagen pfleg­te, steu­er­te dann nach Schluss der Kur­se die Kan­ti­ne an. Der Sprach­ge­brauch war eben­falls moder­ni­siert wor­den. Es hieß nicht mehr Kan­ti­ne, son­dern Café­te­ria. Natür­lich ist die­ses Wort für Men­schen im Ruhr­ge­biet viel zu kom­pli­ziert und zu lang. So hieß es kur­zer­hand Café­te, was der Sache einen fran­zö­si­schen Touch gab. Es hät­te durch­aus öfter sehr spät wer­den kön­nen, wenn nicht das Per­so­nal gewe­sen wäre. Die Damen woll­ten um 22.30 Uhr Schluss machen. Sie hat­ten ein Recht dar­auf. Wir ver­stan­den das. Es pass­te uns aber über­haupt nicht. Schließ­lich fan­den wir einen Kom­pro­miss: die iri­sche Lösung. Kurz vor Tores­schluss order­ten wir noch ordent­lich, die Damen lie­ßen die Roll­la­den pünkt­lich her­un­ter, und wir ver­spra­chen, die lee­ren Glä­ser und Tel­ler auf die The­ke zu stel­len, wo sie am näch­sten Tag abge­räumt wer­den konn­ten. Um 23.30 Uhr war dann end­gül­tig Schluss, der Haus­mei­ster erschien und warf uns raus. Die Bil­dungs­an­stalt für das Volk wur­de abge­schlos­sen. Das Volk muss­te schla­fen gehen, am näch­sten Tag wie­der gesund und mun­ter und ein­satz­fä­hig sein.

Um es kurz zu machen: Die Kur­se waren nütz­lich, vie­le von uns bestan­den die Prü­fung, die zum Stu­di­um berech­tig­te. Vor allem in Musik beein­druck­ten mei­ne dilet­tan­ti­schen Impro­vi­sa­tio­nen die bei­den Prü­fer sehr. Aller­dings wähl­te ich als Stu­di­en­fä­cher lie­ber Ger­ma­ni­stik und Geschich­te. Ich spar­te noch fünf Jah­re und kün­dig­te dann im Alter von 40 Jah­ren mei­nen Beam­ten­job, der mir dau­er­haf­te Sicher­heit ver­sprach (lebens­läng­lich, pfleg­te ich zu sagen). Von vie­len wur­de ich für ver­rückt erklärt. Man gibt doch nicht einen solch siche­ren Job auf! Einen guten Ver­dienst – und dage­gen? Das Nichts?

Das Stu­di­um bot mir viel und mach­te Spaß. Vor allem lern­te ich Men­schen aus Berei­chen ken­nen, die mir vor­her ver­schlos­sen geblie­ben waren. Ich lern­te auch, was unter Post­mo­der­ne zu ver­ste­hen war. Neben­her arbei­te­te ich jour­na­li­stisch und ver­dien­te damit sogar Geld. Ich war glück­lich. Nach bestan­de­nem Staats­examen erfüll­te ich mir einen lang­ersehn­ten Traum: Mei­ne Frau (die eben­falls ihre Arbeits­stel­le kün­dig­te) und ich kauf­ten einen alten VW-Cam­ping­bus und mach­ten uns für ein Jahr aus dem Staub, auf eine Rei­se durch West­eu­ro­pa, die von Jüt­land über Frank­reich und Spa­ni­en bis Por­tu­gal und dann in die Pro­vence führ­te. Danach war alles anders. Wir hat­ten Blut geleckt, was gewis­se Frei­hei­ten betraf. In nor­ma­le Jobs zurück? Das ging nicht mehr. Wir gelang­ten in die Kunst- und Kul­tur­sze­ne, was schließ­lich mit beruf­li­cher Selb­stän­dig­keit ende­te. Wir waren glück­lich. Im Nach­hin­ein ließ sich sagen, dass die Ent­schei­dung rich­tig war. Doch wann und wo war sie gefallen?

Immer wie­der schiebt sich die­ser Wasch­be­ton­bau mit sei­nen ver­schach­tel­ten kubi­schen Bau­tei­len vor mein gei­sti­ges Auge, vor allem aber die Café­te, die­ser rela­tiv offe­ne Raum auf einer Empo­re des gro­ßen Saa­les. Spä­ter, als ich mich oft mit der ört­li­chen Grup­pe des Bun­des für Umwelt und Natur­schutz dort traf und mit dem Lite­ra­tur­stamm­tisch, zog es mich nach den Pflicht­übun­gen stets in die Café­te, die von ande­ren als scheuß­lich bezeich­net wur­de. Die ande­ren – ande­re ande­re als damals – woll­ten lie­ber eine der umlie­gen­den Knei­pen auf­su­chen. Manch­mal schaff­te ich es, die Leu­te zu über­re­den. Sie ver­stan­den nicht, was ich an die­sem Ort gefres­sen hat­te. Sie konn­ten es nicht ver­ste­hen – und ich woll­te es nicht erklä­ren. Mir zog es das Herz zusam­men, wenn ich mir ein Bier dort bestell­te. Und es war mir sehr ver­traut, wenn die Bedie­nung – längst waren es ande­re Damen – pünkt­lich die Roll­lä­den her­un­ter­las­sen wollte.

Inzwi­schen hat sich gewal­tig etwas geän­dert. Die Volks­hoch­schu­le ist in einen moder­nen Bau in der Stadt­mit­te umge­zo­gen, die alte Atmo­sphä­re ist dahin. Obwohl es sich bei der alten VHS um ein Filet­grund­stück han­deln soll, hat sich bis­her kein Inve­stor dafür inter­es­siert. Der Bau steht noch und ver­fällt. Die frü­her ein­mal hel­le Fas­sa­de sieht dun­kel und ver­schmutzt aus. Die­ser Wasch­be­ton­bau mit sei­nen ver­schach­tel­ten kubi­schen Bau­tei­len macht heu­te einen trau­ri­gen Ein­druck. Auf der einen Sei­te neben dem Ein­gang sind die Mau­ern wild besprüht, auf der ande­ren Sei­te durf­te ein Künst­ler sich aus­to­ben. Bun­te Licht­blicke. Ob sie noch da ist, die Café­te? Ich sehe sie vor mir, ja, ich rie­che den Duft des Cap­puc­ci­nos und der Bröt­chen. Den Duft der Frei­heit und der Demokratie.