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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Vor dem Gesetz

Demo­kra­tie! in dei­ner Nähe schwillt nun eine Keh­le und singt freudig,
Ma femme! für die Brut nach uns und aus uns,
Für jene, die hier wei­len und die noch kom­men werden.
 
Für dich von mir dies, O Demo­kra­tie, dir zu die­nen, ma femme!
Für dich, für dich zwit­sche­re ich die­se Lieder.
(Aus: Walt Whit­man, »Gras­blät­ter«, über­tra­gen von Jür­gen Brôcan)
Fast 60 Jah­re ist es her, dass Gün­ter Grass erst­mals sei­ne Stim­me für die Sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Par­tei Deutsch­lands, für Wil­ly Brandt und des­sen Poli­tik­an­ge­bot und gegen Kon­rad Ade­nau­er und den ver­kru­ste­ten CDU-Staat erhob. Damals star­te­te der Schrift­stel­ler sei­ne berühmt gewor­de­ne Rede­rei­se durch die Bun­des­re­pu­blik, für die er Walt Whit­mans Hym­nus in eine kla­re, grif­fi­ge For­mel goss: »Dich sin­ge ich, Demo­kra­tie: Es steht zur Wahl.«

Das war 1965. Heu­te, mehr als ein hal­bes Jahr­hun­dert spä­ter, düm­pelt eben­die­se Sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Par­tei wie in wind­stil­lem Was­ser in aktu­el­len Mei­nungs­um­fra­gen deut­lich hin­ter der CDU her und in eini­gen Umfra­gen sogar hin­ter der AfD, mit zwei Vor­sit­zen­den (m/​w), deren Namen das Gros des Wahl­volks wohl kaum buch­sta­bie­ren kann. Zwar stimmt immer noch die Mehr­heit der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger in den Lob­ge­sang auf die Demo­kra­tie ein, aber es sind deut­lich weni­ger gewor­den. Miss­tö­ne haben sich ein­ge­schli­chen, und die Strahl­kraft scheint ver­blasst. Und das nicht nur in Deutsch­land, son­dern über­all in Euro­pa. Eine inter­na­tio­na­le rech­te »Wer­te­ge­mein­schaft« hat sich herausgebildet.

Die Demo­kra­tie war das gro­ße Ver­spre­chen des Grund­ge­set­zes, mit Men­schen­rech­ten die Men­schen vor der Bar­ba­rei zu schüt­zen. Der Par­la­men­ta­ri­sche Rat ver­kün­de­te das Grund­ge­setz am 23. Mai 1949 und damit 101 Jah­re nach der Ver­ab­schie­dung der Pauls­kir­chen­ver­fas­sung, der ersten deutsch­land­wei­ten Ver­fas­sung. Einen Tag spä­ter trat das Grund­ge­setz in Kraft und gilt bis heu­te. »Das deut­sche Volk« habe sich die­ses Gesetz »kraft sei­ner ver­fas­sungs­ge­ben­den Gewalt«, »im Bewusst­sein sei­ner Ver­ant­wor­tung vor Gott und den Men­schen« gege­ben, heißt es dazu in der Prä­am­bel. Die wich­tig­sten Regeln für den Staat, für unser Zusam­men­le­ben und für jeg­li­chen gesell­schafts­po­li­ti­schen Dis­kurs waren damit vor­ge­ge­ben, zunächst jedoch nur als Pro­vi­so­ri­um für die west­li­chen Besat­zungs­zo­nen. Erst als am 3. Okto­ber 1990 um 0:00 Uhr der Eini­gungs­ver­trag in Kraft trat, galt das Grund­ge­setz für ganz Deutsch­land und somit auch für Meck­len­burg-Vor­pom­mern, Bran­den­burg, Sach­sen-Anhalt, Sach­sen, Thü­rin­gen und ganz Berlin.

Die Unan­tast­bar­keit der Men­schen­wür­de, die Frei­heit der Per­son, die Gleich­heit vor dem Gesetz, die Gleich­be­rech­ti­gung der Geschlech­ter, das Ver­bot der Dis­kri­mi­nie­rung, die Glau­bens-, Bekennt­nis-, Mei­nungs-, Pres­se- und Ver­samm­lungs­frei­heit: Das gilt jetzt für alle. Zumin­dest auf dem Papier, ant­wor­ten die Kritiker.

Höch­ste Zeit also, sag­te sich der Schrift­stel­ler und Jurist Georg M. Oswald, um das Grund­ge­setz auf den Prüf­stand zu stel­len. Immer­hin leben wir 70 Jah­re nach sei­ner Ver­kün­dung in einer ganz ande­ren Welt.

Oswald lud 38 Autorin­nen und Autoren ein, in lite­ra­ri­schen Essays den aktu­el­len Mei­nungs­stand dar­zu­stel­len, »die Ver­fas­sung für unse­re Zeit neu zu erklä­ren, anhand von Erzäh­lun­gen und Erfah­run­gen, juri­stisch abwä­gend und ger­ne auch schräg von außen blickend«: feuil­le­to­ni­stisch-poin­tiert, sub­jek­tiv, persönlich.

Der Ein­la­dung folg­ten Schrift­stel­le­rin­nen und Schrift­stel­ler wie Lars Brandt, Julia Franck, Anna Katha­ri­na Hahn, Micha­el Krü­ger, Sibyl­le Lewitschar­off, Eva Men­as­se, Teré­zia Mora, Mar­tin Mose­bach, Her­ta Mül­ler, Karl-Heinz Ott, Hans Plesch­in­ski und Fer­idun Zai­mo­g­lu. Mit dabei sind meh­re­re nam­haf­te Jour­na­li­stin­nen und Jour­na­li­sten sowie bekann­te Juri­sten wie Andre­as Voß­kuh­le, der frü­he­re Prä­si­dent des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts, und Udo Di Fabio, vor­mals Rich­ter am Bundesverfassungsgericht.

Susan­ne Baer, Rich­te­rin des Ersten Senats des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts, nimmt sich als erste Autorin die Prä­am­bel vor, die »guten Vor­sät­ze«. Wie wür­de man sie heu­te abfas­sen? Noch mit der For­mu­lie­rung vom »gesam­ten deut­schen Volk«, mit dem Bezug auf die »Ver­ant­wor­tung vor Gott« in einer weit­ge­hend säku­la­ren Gesell­schaft, mit dem Wunsch, ein »gleich­be­rech­tig­tes Glied in einem ver­ein­ten Euro­pa« zu sein und als sol­ches »dem Frie­den der Welt« zu die­nen? Baers Resü­mee wen­det sich direkt an die Lese­rin­nen und Leser: »Kom­pli­ziert. Anstren­gend, sich zu eini­gen auf einen Vor­spruch zu dem, was in einer Gesell­schaft gel­ten soll, was wir uns ver­spre­chen. (…) Die Prä­am­bel – sie stellt aktu­ell auch für Sie die Fra­ge: Wer spricht für wen, wovon gehen wir aus, wohin wol­len wir? Was also wol­len Sie, mit und für uns

Mei­ne Emp­feh­lung: Neh­men Sie sich doch ein­mal die Prä­am­bel vor. Was wür­den Sie anders oder neu formulieren?

Her­ta Mül­ler, Lite­ra­tur­no­bel­preis­trä­ge­rin des Jah­res 2009, eröff­net die Rei­he der Kom­men­ta­re mit ihrem Essay zu Arti­kel 1, dem Schutz der Men­schen­wür­de. 1949 habe die­ser Arti­kel »für mehr als nur für den Beginn einer frei­heit­lich demo­kra­ti­schen Gesell­schaft gestan­den«, mit dem Begriff Wür­de soll­te die Ableh­nung jeder Dik­ta­tur deut­lich aus­ge­spro­chen wer­den. »Das Wort Wür­de selbst erteil­te den Insti­tu­tio­nen der neu­en Demo­kra­tie den Auf­trag, die Hin­ter­las­sen­schaf­ten des Natio­nal­so­zia­lis­mus in der Gesetz­ge­bung und im All­tag der Behör­den zu besei­ti­gen.« Der hes­si­sche Gene­ral­staats­an­walt Fritz Bau­er ließ den Satz »Die Wür­de des Men­schen ist unan­tast­bar« an der Fas­sa­de des Gebäu­des der Staats­an­walt­schaft anbrin­gen – und muss­te selbst schon bald erle­ben, wie sei­ne eige­ne Wür­de ange­ta­stet wur­de und an den »Hin­ter­las­se­nen« des Natio­nal­so­zia­lis­mus in den Behör­den Arti­kel 1 des Grund­ge­set­zes schei­ter­te. Die Wür­de von Men­schen blieb im Nach­kriegs­deutsch­land antast­bar: die Wür­de der Sin­ti und Roma, der Homo­se­xu­el­len, der aus dem Exil Zurück­ge­kehr­ten. Ja sogar die Wür­de der Frau­en: Erst 1969 wur­de eine ver­hei­ra­te­te Frau als geschäfts­fä­hig angesehen.

Her­ta Mül­ler kam in Rumä­ni­en zur Welt und hat lan­ge Zeit »die Demo­kra­tie in West­eu­ro­pa nur aus der Fer­ne gese­hen«. Ein­dring­lich daher die Schil­de­rung ihres Lebens über drei­ein­halb Jahr­zehn­te – 1987 konn­te sie nach Ber­lin aus­rei­sen – in einem Land, das kei­ne Ver­fas­sung hat mit einem Arti­kel 1, der die Wür­de des Men­schen für unan­tast­bar erklärt. Und das kei­ne Frei­zü­gig­keit kennt.

»Alle Deut­schen genie­ßen Frei­zü­gig­keit im gan­zen Bun­des­ge­biet.« Die am 13. Mai die­ses Jah­res ver­stor­be­ne Schrift­stel­le­rin Sibyl­le Lewitschar­off hat­te sich Arti­kel 11 GG vor­ge­nom­men. Mit Frei­zü­gig­keit ist hier nicht das gemeint, was sich an lau­en Som­mer­aben­den an Amors Gesta­den abspie­len mag, son­dern dass Staats­bür­ger ihre Wohn- und Auf­ent­halts­or­te frei wech­seln kön­nen. Ein Recht, dass über Jahr­hun­der­te hin­weg in allen euro­päi­schen Län­dern für gro­ße Bevöl­ke­rungs­tei­le ein­ge­schränkt war, es sei denn, man war »vogel­frei«. Und da dies ein lite­ra­ri­scher Essay ist, gibt es einen Abste­cher zu der Novel­le Die drei gerech­ten Kamm­ma­cher von Gott­fried Kel­ler, einer Geschich­te über fah­ren­de Gesel­len (Stich­wort: Frei­zü­gig­keit), die an ein Hand­wer­ker­ehe­paar gera­ten, das sie über Strich und Faden aus­nutzt. Auch tritt der schwä­bi­sche Dich­ter Chri­sti­an Fried­rich Schub­art auf, der sich in der wei­ten Welt umse­hen will und daher in heim­li­chen Näch­ten Lan­des­gren­zen über­quert, ohne Geneh­mi­gung, ohne Papie­re. Zum Schluss kommt Lewitschar­off wie schon Her­ta Mül­ler auf die eige­ne Fami­lie zurück. Ihr Vater war Bul­ga­re, der ab 1936 in Wien und Tübin­gen Medi­zin stu­diert hat­te, »durch und durch ein Feind der Dik­ta­to­ren«. Nach Kriegs­en­de, er war noch unver­hei­ra­tet, ging er nach Sofia zurück, wohn­te bei einer Tan­te, die einen jun­gen, schwer­ver­letz­ten deut­schen Sol­da­ten pfleg­te wie ihren eige­nen im Krieg gefal­le­nen Sohn. Sie wur­de ver­ra­ten, bewaff­ne­te Män­ner stürm­ten die Woh­nung, erschos­sen den Feind in Uni­form, nah­men Tan­te und Nef­fen gefan­gen. Ab ins Gefäng­nis, aus dem der jun­ge Mann spä­ter gemein­sam mit einem ande­ren Insas­sen flie­hen konn­te. Lewitschar­off schil­dert, wie das fol­gen­de Exil und spä­ter die Aberken­nung der Staats­bür­ger­schaft und damit der Ver­lust der Frei­zü­gig­keit den Vater bis ans Lebens­en­de bedrückten.

Wei­ter zu Eva Men­as­se, die sich Arti­kel 10 vor­ge­nom­men hat: »Das Brief­ge­heim­nis sowie das Post- und Fern­mel­de­ge­heim­nis sind unver­letz­lich.« Und wie­der wird es zuerst lite­ra­risch, mit einem Lie­bes­brief, den die tsche­chi­sche Jour­na­li­stin Mile­na Jesens­ká 1938 geschrie­ben hat und der heu­te, abge­druckt in einem Buch, zu lesen steht. Klar, Brie­fe müs­sen in der Regel vor der Ver­öf­fent­li­chung frei­ge­ge­ben wer­den. »Aber in wel­cher Bezie­hung steht das eigent­lich zum gesetz­lich geschütz­ten Brief­ge­heim­nis«, sind Brie­fe doch »notier­te Zwie­ge­sprä­che, auf Papier gebann­te, ver­stoff­lich­te Pri­vat­sphä­re«? Und wie ist es heu­te, da »digi­ta­li­sier­te Kom­mu­ni­ka­ti­on fata­le Illu­sio­nen von Gleich­zei­tig­keit und Nähe erzeugt«? Men­as­se: »Ich wür­de so weit gehen zu sagen, dass das gute alte Brief­ge­heim­nis in der digi­ta­len Welt längst weit­ge­hend außer Kraft gesetzt ist.« Mile­na Jesens­ká übri­gens wur­de Jahr­zehn­te spä­ter berühmt, weil sie alle an sie gerich­te­ten Brie­fe Kaf­kas auf­be­wahrt und »den rich­ti­gen Men­schen über­ge­ben hat, als sich die Schlin­ge der Nazis zuzog«. Die Kom­mu­ni­stin und Wider­stands­kämp­fe­rin starb im Mai 1944 im Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Ravensbrück.

Ich been­de mei­ne Aus­wahl: 34 Kom­men­ta­re blei­ben zurück, war­ten dar­auf, von Ihnen gele­sen zu werden.

Dich sin­ge ich, Demo­kra­tie. Wir alle ste­hen »vor dem Gesetz«, jedoch befin­den wir uns nicht in der­sel­ben Situa­ti­on wie der »Mann vom Lan­de« in Kaf­kas Para­bel, eine Meta­pher, auf die eini­ge Autoren zurück­grei­fen. Wir müs­sen nicht einen Tür­hü­ter um Ein­tritt bit­ten, wir dür­fen durch das Tor, wir dür­fen zum Gesetz, wir dür­fen uns auf das Grund­ge­setz beru­fen und damit auf die Grund­la­ge unse­rer Demo­kra­tie. Aller­dings, an der Lebens­weis­heit, dass man »vor Gericht und auf hoher See in Got­tes Hand« ist, ist eben­so etwas dran wie an der Spruch­weis­heit, dass man vor Gericht drei Säcke brau­che: einen mit Papier, einen mit Geld und einen mit Geduld. Der Kaba­ret­tist Die­ter Hil­de­brandt hieb in die­sel­be Ker­be, als er spot­te­te, es hel­fe nichts, wenn man das Recht auf sei­ner Sei­te habe, aber nicht mit der Justiz rechne.

Den­noch, die­ses Kom­pen­di­um mit sei­nen erhel­len­den und ver­gnüg­li­chen Kom­men­ta­ren zum Grund­ge­setz beschreibt trotz aller kri­ti­schen Anmer­kun­gen eine Erfolgs­ge­schich­te: die unse­rer Demo­kra­tie. Daher dür­fen wir uns nicht damit zufrie­den­ge­ben, dass wir das Recht haben, »vor dem Gesetz« zu ste­hen. Wir müs­sen uns vor das Gesetz stel­len und die Demo­kra­tie ver­tei­di­gen, wo und wann immer sie gefähr­det ist.

 Georg M. Oswald (Hrsg.): Das Grund­ge­setz. Ein lite­ra­ri­scher Kom­men­tar, C.H. Beck, Mün­chen, 2022, 381 S., 25 €.