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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Meine 75 Friedensjahre

Als ich am 24. Dezem­ber 1947 in Düs­sel­dorf zur Welt kam, war Gün­ter Rexi­li­us (»Mei­ne acht­zig Kriegs­jah­re«, Ossietzky 7/​2023) bereits kurz vor sei­nem fünf­ten Geburts­tag. Damals gab es die DDR noch nicht, die er als »sozia­li­sti­sche Auf­bruch­stim­mung, glück­li­che Kind­heits­jah­re, ein fried­li­ches, für Kin­der in jeder Hin­sicht berei­chern­des Leben« beschreibt, bis dann 1958, mit der Flucht nach West­deutsch­land, »der Krieg ganz prak­tisch in mein Leben (trat)«.

Der 15jährige Gün­ter spürt eine ihm »bis dahin unbe­kann­te Emp­fin­dung«, die er »sozia­le Käl­te« nennt. Ich dage­gen, als damals 10jähriger Ein­ge­bo­re­ner des »Westens«, spür­te, dass es für Nach­kom­men des Pro­le­ta­ri­ats Erschwer­nis­se gab bei der Erlan­gung höhe­rer Bil­dung und dass die­se Erschwer­nis­se in den fol­gen­den Jah­ren abge­baut wur­den. In NRW koste­te das Gym­na­si­um 1958 noch Schul­geld. Also ging ich auf eine Real­schu­le, für die die Schul­geld­pflicht ent­fal­len war, und nach deren Abschluss auf ein damals neu gegrün­de­tes Gym­na­si­um in Auf­bau­form für Real­schul­ab­sol­ven­ten. Was ich für die­sen Weg nicht brauch­te, war eine spe­zi­el­le Gesinnung.

Frei­lich kann man nicht behaup­ten, dass so ein Kin­der­le­ben im Westen frei von Erleb­nis­sen des Krie­ges gewe­sen wäre. Wir spiel­ten in Rui­nen und Bom­ben­trich­tern. Wir leb­ten in Behelfs­woh­nun­gen, zu denen man einen Stall umge­baut hat­te, und beher­berg­ten von Zeit zu Zeit dar­in auch noch die nach und nach der DDR ent­flie­hen­den Tei­le der Her­kunfts­fa­mi­lie mei­ner Mut­ter. Und wir hiel­ten Ver­bin­dung »nach drü­ben«. Bis 1961 fan­den regel­mä­ßig Besu­che unse­rer Ver­wand­ten aus der DDR und Gegen­be­su­che von uns in Mag­de­burg statt. Bei die­sen Besu­chen kam der Krieg uns näher: bei den Kon­trol­len im Inter­zo­nen­zug. Bei den Gesprä­chen der Erwach­se­nen lern­ten wir Kin­der, dass poli­ti­sche Wit­ze oder Anzüg­lich­kei­ten gefähr­lich wer­den könn­ten. Und natür­lich wuss­ten wir um die Nie­der­schla­gung eines Streiks mit mili­tä­ri­scher Gewalt am 17. Juni 1953 in Ost­ber­lin, um die Block­kon­fron­ta­ti­on und die Auf­rü­stung bei­der­seits der Elbe und das blu­ti­ge Ende des Auf­stan­des in Ungarn 1956. Alle die­se Ereig­nis­se, spä­ter auch der Bau der Ber­li­ner Mau­er 1961, die Inva­si­on der Tsche­cho­slo­wa­kei zur Zer­schla­gung des Pra­ger Früh­lings 1968 wie der Viet­nam­krieg und die ewi­gen Berich­te über Atom­waf­fen­ver­su­che, erga­ben für Kin­der und Jugend­li­che im Westen das Gefühl einer laten­ten Bedro­hung eines real exi­stie­ren­den Friedens.

Als Kind des Westens spür­te ich eine Zunah­me die­ses Bedro­hungs­ge­fühls bei Kon­tak­ten in den Osten. In mei­ner Hei­mat fühl­te ich »das in jeder Hin­sicht berei­chern­de Leben«, das Kin­der füh­ren kön­nen, die nicht direkt Gewalt, Hun­ger und dro­hen­den Tod erfah­ren müssen.

1966, als der 23jährige Psy­cho­lo­gie­stu­dent Gün­ter Rexi­li­us »zum aka­de­mi­schen Mit­glied der gesell­schaft­li­chen Klas­se (wur­de), deren Auf­ga­be dar­in besteht, die­ses krie­ge­ri­sche Ver­steck­spiel (der Ver­schleie­rung des Krie­ges der da oben gegen die da unten) zu orga­ni­sie­ren«, mach­te ich mein Abitur. Zwar durf­te ich als damals »Min­der­jäh­ri­ger« noch nicht wäh­len, aber die BRD hol­te mich als Wehr­pflich­ti­gen in ihre Armee. Mein Vater (Jg. 1923, Kriegs­teil­neh­mer, Metall­ar­bei­ter, SPD- und IG-Metall-Mit­glied) ver­bot mir die Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rung. Mei­ne begrün­de­ten Auf­fas­sun­gen, dass ein Krieg in Mit­tel­eu­ro­pa auf deut­schem Boden für alle Par­tei­en abso­lut aus­sichts­los wäre und dass die Bun­des­wehr als Teil der Nato Instru­ment einer aggres­si­ven Roll­back-Stra­te­gie sei, wur­den in der Grund­aus­bil­dung so gründ­lich bestä­tigt, dass ich mich über das väter­li­che Ver­bot hin­weg­setz­te und aus der Bun­des­wehr her­aus ver­wei­ger­te. Das war zwar nicht ganz ein­fach, aber anders als in der DDR immer­hin mög­lich. Es folg­te der zivi­le Ersatz­dienst und spä­ter das Medi­zin­stu­di­um, trotz der Ver­wei­ge­rung ohne Ein­schrän­kun­gen, Gesin­nungs­prü­fung oder Parteimitgliedschaft.

In die Zeit des Stu­di­ums fal­len auch mei­ne Ver­su­che, Gefal­len am real exi­stie­ren­den Sozia­lis­mus zu fin­den. Wo schon aus pazi­fi­sti­scher Sicht­wei­se die hoch­ge­rü­ste­ten War­schau­er Pakt Staa­ten, ein­schließ­lich der DDR, als Sym­pa­thie­trä­ger aus­fie­len, war die preu­ßisch gefärb­te NVA so unsym­pa­thisch wie die Wehr­machts­tra­di­ti­on der Bun­des­wehr. Im gesell­schaft­li­chen Leben war mir die braun-rote Bon­zo­kra­tie nicht lie­ber als das braun-schwar­ze Spie­ßer­tum der BRD.

Aber der Viet­nam­krieg, die Gewalt in Mit­tel- und Süd­ame­ri­ka, die Befrei­ungs­be­we­gun­gen im kolo­ni­sier­ten Afri­ka und die zuneh­men­de Erkennt­nis, dass unser Wohl­stand nicht nur unge­recht ver­teilt ist, son­dern auch dem kolo­ni­al unter­drück­ten Süden abge­presst wird, ver­lang­ten nach Ände­run­gen. So mün­de­ten die anti­im­pe­ria­li­stisch-inter­na­tio­na­li­sti­schen Demon­stra­tio­nen in mar­xi­sti­sche Schu­lungs­zir­kel, in die Ver­su­che, sich gegen das bestehen­de Par­tei­en­spek­trum für sozia­le Umbrü­che zu orga­ni­sie­ren. Mit dem Bei­spiel der chi­ne­si­schen Kul­tur­re­vo­lu­ti­on soll­te ein Neu­be­ginn einer kom­mu­ni­sti­schen Bewe­gung zur Umge­stal­tung der Gesell­schaft ver­sucht wer­den. Dabei kam der Pazi­fis­mus schnell unter die Räder. Der Ver­such, die Geschich­te der Kom­in­tern ein zwei­tes Mal zum Leben zu erwecken, ende­te als Far­ce von riva­li­sie­ren­den, dog­ma­ti­schen K-Grup­pen in der Kon­kur­renz mit der DDR-treu­en DKP und der blu­ti­gen Vari­an­te der Despe­ra­dos von der RAF. Die Staats­ge­walt ließ sich nicht lum­pen und lang­te voll zu. Schon die Wie­der­be­waff­nung war (im Westen!) nur gegen erheb­li­chen Wider­stand der Bevöl­ke­rung und mit Taschen­spie­ler­tricks der Ade­nau­er-Regie­rung mög­lich gewe­sen. Jetzt wur­de die Pro­test­be­we­gung der Jugend, beson­ders der aka­de­mi­schen, abge­straft. Die Anti-Atom­kraft-Bewe­gung wur­de mit der glei­chen Poli­zei­ge­walt und juri­sti­scher Ver­fol­gung bekämpft wie die Friedensbewegung.

Die Berufs­ver­bo­te, die »wie eine explo­die­ren­de Gra­na­te in mei­ne (Rexi­li­us›) Lebens­pla­nung eindrang«(en), tra­fen die Aka­de­mi­ker. Auch ich lan­de­te nach mei­nem Examen auf einer schwar­zen Liste für ange­stell­te Ärz­te in der nähe­ren Umge­bung. Aber die Ver­bo­te waren weder uner­wart­bar noch wirk­lich lebens­be­droh­lich, und sie hat­ten kei­ne all­zu lan­ge Halb­werts­zeit. Vor allem aber wirk­ten sie nicht letal auf die sich neu orga­ni­sie­ren­de sozia­le und öko­lo­gi­sche Bewe­gung. Die neue Oppo­si­ti­on erlaub­te mir eine rasche Rück­be­sin­nung auf pazi­fi­sti­sche Grund­über­zeu­gun­gen und eine Mit­glied­schaft bei Grü­nen (bis zum Koso­vo-Krieg) und der IPPNW.

So wahr es ist, dass die­se Gesell­schaft nach innen und außen auf Aus­beu­tung auf­ge­baut ist, so aber­wit­zig ist es doch auch, als Schluss­fol­ge­rung den Unter­schied von Krieg und Frie­den ver­bal ein­zu­eb­nen. Die Unfried­lich­keit der Gesell­schaft kann nicht gleich­ge­setzt wer­den mit Bom­ben­an­grif­fen, auch wenn sie sol­che zum Ergeb­nis haben kann. Ich bin sehr froh dar­über, dass ich seit 1947 von Kriegs­hand­lun­gen ver­schont geblie­ben bin, und will alle fried­li­chen Mit­tel nut­zen, damit das so bleibt. Dass die Geschich­te eine Geschich­te von Klas­sen­kämp­fen ist, war der zutref­fend im Kom­mu­ni­sti­schen Mani­fest for­mu­lier­te Befund. Um die­se Klas­sen­kämp­fe zu been­den, müs­sen die Klas­sen abge­schafft wer­den. Die Wege der Sowjet­uni­on, der DDR, aber auch Chi­nas haben sich als Irr­we­ge erwie­sen. Die Wege des »gerech­ten Krie­ges« und der »gewalt­sa­men Revo­lu­ti­on« füh­ren immer nur zu neu­en Krie­gen und zur ver­än­der­ten Gewaltherrschaft.

Der Krieg in der Ukrai­ne ist, unab­hän­gig von sei­ner Vor­ge­schich­te, ein rus­si­sches Ver­bre­chen. Die Vor­ge­schich­te, die den Auf­bau von Span­nun­gen und Kon­flik­ten im Wech­sel­spiel zwi­schen Russ­land und der Nato erhellt, zeigt, dass die­ser Krieg kei­nes­falls unver­meid­lich war. Krie­ge bre­chen nicht aus, son­dern sie wer­den begon­nen und müs­sen auch been­det wer­den. Wirt­schaft­li­che Inter­es­sen, neo­ko­lo­nia­le Aus­beu­tung, eth­ni­sche Kon­flik­te – alles geschenkt. Nichts davon ist ewig, aber nichts davon wird auch durch Krieg besei­tigt. Die Unter­schei­dung von einem »per­ma­nen­ten Beu­te­zug«, der sich »kolo­nia­li­stisch nach Osten aus­zu­brei­ten« ver­sucht, gegen den »Schutz eines eige­nen olig­ar­chen­ge­stütz­ten Systems der gesell­schaft­li­chen Ungleich­heit«, das Putin gegen »die Hoff­nun­gen der öko­no­mi­schen und poli­ti­schen Frei­beu­ter auf eine schnel­le und pro­fi­ta­ble Erobe­rung« »ver­rie­gelt« hat, ver­wischt die Gleich­ar­tig­keit der Syste­me, die sich in Ost und West eta­bliert haben, und trägt so weder zur Erhel­lung der Kriegs­grün­de noch der Wege zum Frie­den bei.

Der Krieg ist ein Ver­bre­chen und im Krieg gesche­hen immer Ver­bre­chen. Der Kon­junk­tiv »soll­te es Kriegs­ver­bre­chen gege­ben haben« führt in die Irre einer Rela­ti­vie­rung von Ver­bre­chen, weil sie nicht inter­na­tio­nal gleich­be­han­delt wer­den. Um das zu errei­chen, müs­sen die Zivil­ge­sell­schaf­ten aller Län­der noch vie­le dicke Bret­ter boh­ren. Von der Stär­kung der UN über den Atom­waf­fen­ver­bots­ver­trag und die Aner­ken­nung der inter­na­tio­na­len Gerichts­bar­keit bis hin zu Waf­fen­still­stand und Frie­dens­ver­hand­lun­gen für die und mit der Ukrai­ne ist das ein lan­ger Weg.

In dem Glas­haus sit­zen nicht nur Nord­ame­ri­ka­ner und Euro­pä­er, son­dern auch Rus­sen. Die Trüm­mer die­ses Glas­hau­ses wür­den die gan­ze Welt unter sich begra­ben. Des­halb wer­de ich mich auch mit 75 Jah­ren wei­ter für Frie­den ein­set­zen und eine Wirk­lich­keit wert­schät­zen, in der kei­ne Rake­ten einschlagen.