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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Versunken im Fluss ohne Wiederkehr

Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit. Seit Wil­helm Tell ist die­ser Satz sprich­wört­li­ches All­ge­mein­gut, dank Thea­ter­büh­ne und Deutsch­un­ter­richt. Manch­mal jedoch nimmt das Alte einen stil­len Abschied, der ganz all­mäh­lich daher­kommt. Doch eines Mor­gens rei­ben wir uns urplötz­lich die Augen und müs­sen erken­nen, dass das Gewohn­te ver­schwun­den ist, ver­sun­ken im River of No Return: das bis­he­ri­ge Umfeld, die bis­he­ri­ge Lebens­wei­se, die bis­he­ri­ge Art, zu arbei­ten, die Sit­ten und Gebräu­che im Jah­res­kreis, die bis­her gül­ti­gen Wer­te. Die Welt um uns her­um ist eine ande­re geworden.

Ewald Frie, Pro­fes­sor für Neue­re Geschich­te an der Uni­ver­si­tät Tübin­gen und Ordent­li­ches Mit­glied der Hei­del­ber­ger Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten, hat solch einen stil­len Abschied pro­to­kol­liert, und zwar am Bei­spiel sei­ner eige­nen Fami­lie: den Wan­del der Land­wirt­schaft und der bäu­er­li­chen Lebens­wei­se in den letz­ten 70 Jah­ren. Dass der Histo­ri­ker dabei im Indi­vi­du­el­len das All­ge­mei­ne auf­schei­nen lässt, gibt dem Buch Ein Hof und elf Geschwi­ster sei­nen beson­de­ren Reiz.

Gebo­ren wur­de Frie 1962 als neun­tes von elf Kin­dern einer katho­li­schen Bau­ern­fa­mi­lie im Mün­ster­land. Das älte­ste Kind, der spä­te­re Hof­er­be, kam 1944 zur Welt, das jüng­ste, ein Mäd­chen, 1969, fast eine Gene­ra­ti­on danach. Dazwi­schen lie­gen nicht nur 25 Jah­re, son­dern schier Wel­ten, in denen in der Bun­des­re­pu­blik die bäu­er­li­che Land­wirt­schaft ein letz­tes Mal Pracht und Macht in altem Stil ent­fal­ten konn­te, bevor sie end­gül­tig versank.

Albert Ein­stein soll ein­mal gesagt haben, ich las es in einem SF-Roman, wir ähnel­ten Leu­ten in einem Boot ohne Ruder, das einen gewun­de­nen Fluss hin­ab­treibt. Rings­um wür­den wir nur die Gegen­wart wahr­neh­men, sonst wei­ter nichts. Die Ver­gan­gen­heit in den Kur­ven und Bie­gun­gen hin­ter uns ver­möch­ten wir nicht mehr zu sehen. Aber sie sei dort vorhanden.

Um die­se Ver­gan­gen­heit wahr­zu­neh­men, brau­che es Histo­ri­ker, die auf­zei­gen, »dass unse­re Gegen­warts­lo­gik nicht die all­ge­mein­ver­bind­li­che ist«, sag­te Frie in einem Inter­view. Gin­gen wir ein oder zwei Gene­ra­tio­nen zurück, dann stie­ßen wir auf ganz ande­re Logi­ken. Und wenn wir die­se Logi­ken ver­stün­den, wür­den wir über­haupt erst fest­stel­len kön­nen, wie über­ra­schend die Logi­ken sind, mit denen wir heu­te leben.

Frie blickt mit sei­ner pro­fes­sio­nel­len Kom­pe­tenz als Histo­ri­ker auf Geschwi­ster und sich selbst und auf den einst pracht­vol­len Bau­ern­hof der Eltern mit all den viel­fach prä­mi­ier­ten Kühen und Rin­dern, mit sei­nen Schwei­nen und Hüh­nern. Er erzählt die gemein­sa­me Geschich­te aus tran­skri­bier­ten Inter­views, die er im Som­mer 2020 geführt hat. Da alle Geschwi­ster noch leben, hat er eine Rund­rei­se zu ihnen unter­nom­men, mit den Brü­dern und Schwe­stern jeweils einen Tag ver­bracht und leit­fa­den­ge­stütz­te Inter­views geführt. Im Buch hat er die Vor­na­men ver­än­dert: »So kön­nen sie nicht gegoo­gelt werden.«

»Mei­ne Geschwi­ster und ich erin­nern uns zwar nicht im Modus von ›Frü­her war alles bes­ser!‹. Aber unse­re Erzäh­lun­gen fol­gen auch einer Logik: ›Wie war das mög­lich?‹, fra­gen wir, oder: ›Wie wur­de ich trotz­dem Ich?‹ Doch die Logi­ken machen die Erzäh­lun­gen nicht wert­los. Sie wei­sen hin auf den Wan­del von Nor­men und Gewohn­hei­ten. Und die ver­ar­bei­te­ten Gescheh­nis­se, Momen­te des Arbei­tens und des Außer­all­täg­li­chen, des Streits und der Ver­söh­nung, wei­sen hin auf Lebens­wel­ten, die auf- und unter­ge­gan­gen sind.«

Die Logik der 1950er und 1960er Jah­re basier­te auf Tra­di­ti­on, auf dem Über­lie­fer­ten, das in die dama­li­ge Gegen­wart aus ver­gan­ge­nen Gene­ra­tio­nen hin­ein­ge­wach­sen war. Sie hat­te Bestand bis zum Anbruch des Zeit­al­ters der Trak­to­ren, der Melk­ma­schi­nen, der Heu­wen­der und der Mäh­ma­schi­nen, Gerät­schaf­ten, die das bäu­er­li­che Leben umkrem­pel­ten – bis die Bau­ern mit dem all­ge­mei­nen Wan­del der öko­no­mi­schen und sozia­len Ver­hält­nis­se dann auch ihre Macht, ihre gesell­schaft­li­che Bedeu­tung und ihr Anse­hen auf dem Lan­de ver­lo­ren. Die Bau­ern­schaft stell­te ab irgend­wann nicht mehr wie selbst­ver­ständ­lich den Bür­ger­mei­ster und bil­de­te auch nicht mehr die Mehr­heit im Gemeinderat.

Vom Hof Frie bis zum näch­sten Hof waren es 150 Meter, bis zum über­näch­sten 300 Meter, bis zum Dorf mit der katho­li­schen Kir­che zwei Kilo­me­ter, bis zur näch­sten Klein­stadt mit Jun­gen­re­al­schu­le und Gym­na­si­um 15 Kilo­me­ter, bis zur Klein­stadt mit der land­wirt­schaft­li­chen Real­schu­le 20 Kilo­me­ter, und nach Mün­ster, der Stadt mit der Land­wirt­schafts­kam­mer, dem Zucht­vieh­markt, der Kreis­ver­wal­tung »und allen Schul­for­men und Geschäf­ten, die wir uns über­haupt vor­stel­len konn­ten«, waren es 25 Kilo­me­ter. In die Städ­te fuh­ren Bus­se, aller­dings sehr unregelmäßig.

Die­se räum­li­che Situa­ti­on bedeu­te­te für die Frie-Kin­der, »dass wir unter uns waren«. Nach­bars­kin­der »waren so weit ent­fernt, dass wir sie nicht zufäl­lig tra­fen«. Trotz der nur zwei Kilo­me­ter Ent­fer­nung war das Dorf weit weg. »Die mei­sten von uns nah­men es erst bei der Ein­schu­lung als Lebens­raum wahr. Um ins Dorf zu fah­ren, muss­te es Grün­de geben. Das Dorf war ein Ort der klei­nen Leu­te, zu denen Bau­ern­fa­mi­li­en wie wir nicht zählten.«

Die elf Geschwi­ster haben den Wan­del erlebt und sich für das Buch erin­nert, »den Wan­del von Fami­lie und Bau­ern­ge­sell­schaft, von Arbeit und Fest, von Katho­li­zis­mus und All­tags­re­li­gio­si­tät, von Essen und Trin­ken, von Spiel und Schu­le«. Eben­so den Wan­del der Rol­le der Bäue­rin hin zur Mana­ge­rin der Haus­wirt­schaft und der Rol­le der Töch­ter, die ande­re Beru­fe anstreb­ten und kei­nen Bau­ern mehr hei­ra­ten wollten.

Ich betrat das Buch wie ein Land, das ich gekannt habe, in fer­ner, fer­ner Ver­gan­gen­heit. Die Par­al­le­len waren zu offen­sicht­lich. Auch ich habe die Abge­schie­den­heit der dörf­li­chen Lage gekannt, die fast unüber­wind­ba­ren räum­li­chen Ent­fer­nun­gen zu einer Zeit, als noch kei­ne Bus­se fuh­ren und die Stra­ßen unge­teert waren. Der Pflicht­be­such der evan­ge­li­schen Kir­che – wir waren die ein­zi­ge pro­te­stan­ti­sche Fami­lie in dem katho­li­schen Dorf – führ­te durch Feld und Wald und über einen Berg. Im Win­ter wur­de er auf Ski­ern bewäl­tigt. Auch die Katho­li­ken hat­ten bis zu ihrer Kir­che in einem Nach­bar­ort drei Kilo­me­ter zurück­zu­le­gen. Wenn Ver­wand­ten­be­su­che in nicht all­zu fer­ne Ort­schaf­ten unter­nom­men wur­den, waren dies mei­stens Tages­aus­flü­ge zu Fuß, manch­mal inklu­si­ve einer Übernachtung.

Die Ent­fer­nun­gen zum näch­sten Ort, zu der Klein­stadt mit Real­schu­le oder der Stadt mit dem Sitz der Kreis­ver­wal­tung oder erst recht zur Stadt mit dem Gym­na­si­um ver­grö­ßer­ten sich wie bei Frie. Jah­re­lang stand ich um 5:30 Uhr auf, stieg auf mein Fahr­rad, um bei Wind und Wet­ter, bei Nacht und Nebel und Schnee ganz allein – ich war anfangs der ein­zi­ge Gym­na­si­ast aus dem Dorf – zum sie­ben, acht Kilo­me­ter ent­fern­ten Bahn­hof zu radeln. Von dort war es noch ein­mal eine halb­stün­di­ge Bahn­fahrt bis zur Gym­na­si­al­stadt, wo nach der Ankunft noch ein Fuß­weg auf mich war­te­te, so dass es bald 8 Uhr schlug, wenn ich im Klas­sen­raum ankam. Und wenn die Fahr­rad­ket­te abge­sprun­gen war oder ein Rei­fen platt wur­de und ich einen Zug spä­ter kam, hat­te kein Leh­rer Ver­ständ­nis für den Fahr­schü­ler, wie wir Aus­wär­ti­ge genannt wurden.

In unse­rem Dorf hat­ten die Bau­ern das Sagen. Kin­der arbei­te­ten vor allem zur Ern­te­zeit auf ihren Fel­dern, in ihren Scheu­nen, hal­fen beim Getrei­de­dre­schen. Dies alles für Natu­ra­li­en. Frau­en eben­falls, manch­mal auch als Mäg­de in der Haus­wirt­schaft. Ab und an setz­te es für uns Kin­der einen Peit­schen­hieb, zum Ansporn, wie es hieß. Aber wir durf­ten auch auf Acker­gäu­len rei­ten oder hoch vom Heu­wa­gen aus winken.

Doch all­mäh­lich ver­än­der­te sich auch bei uns die Welt. Die Män­ner und die jun­gen Bur­schen arbei­te­ten nicht mehr als Holz­fäl­ler in den Wäl­dern, ver­ding­ten sich auch nicht mehr in der Land­wirt­schaft oder zu Gele­gen­heits­ar­bei­ten. Mit der neu­en Bus­li­nie, die die Dör­fer ver­band und zu den Städ­ten und Bahn­hö­fen führ­te, mit Motor­rä­dern und den ersten Autos kam eine neue Mobi­li­tät auf. Bis­her fast ver­schlos­se­ne Gegen­den wur­den mühe­lo­ser erreicht, so die Berg­wer­ke und die Koks­hüt­te im Saar­land oder der zehn Kilo­me­ter ent­fern­te Trup­pen­übungs­platz mit sei­nen viel­fäl­ti­gen Beschäf­ti­gungs­mög­lich­kei­ten. Oder Orte mit boo­men­den über­re­gio­nal täti­gen Indu­strie- und Hand­werks­be­trie­ben. Fabri­ken und Auto­bau­er wei­te­ten auf der Suche nach Arbeits­kräf­ten ihr Ein­zugs­ge­biet aus und boten finan­zi­el­le Anrei­ze, die den bis­he­ri­gen dörf­li­chen Hori­zont sprengten.

Mit dem Aus­bau der Ver­wal­tung auf Amts- und Kreis­ebe­ne wur­de auch der Öffent­li­che Dienst zu einem attrak­ti­ven Arbeit­ge­ber, gern für jun­ge Frau­en in den Büros. Neue Bil­dungs­an­ge­bo­te und finan­zi­el­le För­de­run­gen kamen auch der dörf­li­chen Jugend zugu­te, und längst war ich nicht mehr der ein­zi­ge Gym­na­si­ast aus der Gegend. Auf den Dör­fern war inzwi­schen eben­falls das Maschi­nen­zeit­al­ter ange­bro­chen, den­noch war die Domi­nanz der Bau­ern­schaft auch in mei­ner Hei­mat in den 1960er Jah­ren vor­bei. Nach und nach gaben die ört­li­chen Bau­ern auf, sei es aus öko­no­mi­schen oder aus Alters­grün­den, sei es, weil sie kei­nen Erben oder kei­nen Nach­fol­ger hat­ten. Schließ­lich hiel­ten nur noch soge­nann­te Aus­sied­ler­be­trie­be außer­halb des Dor­fes die bäu­er­li­che Fah­ne hoch.

Allein der Katho­li­zis­mus blieb eine Kon­stan­te, präg­te wei­ter­hin die Gemein­den mit sei­nen Pro­zes­sio­nen und Lita­nei­en, mit sei­nen Gebo­ten und Ver­bo­ten und griff tief in das Leben der Men­schen ein, zum Bei­spiel am 25. Juli 1968 mit Hum­a­nae Vitae, der Anti-Pil­len-Enzy­kli­ka von Papst Paul VI. In ste­ter Regel­mä­ßig­keit erfolg­ten auch wei­ter­hin die Auf­ru­fe des für das Bis­tum zustän­di­gen Bischofs und der katho­li­schen Pasto­ren, CDU zu wählen.

Mün­ster­land war halt über­all. Das macht das Buch von Ewald Frie glei­cher­ma­ßen span­nend und aufschlussreich.

Ewald Frie: Ein Hof und elf Geschwi­ster – Der stil­le Abschied von der bäu­er­li­chen Land­wirt­schaft, C.H. Beck, Mün­chen 2023, 191 S., 23 €. – Aktu­el­le Aspek­te zur Lage der Land­wirt­schaft fin­den sich in frü­he­ren Ossietzky-Aus­ga­ben aus der Feder von Rüdi­ger Dam­mann: SOLAWI: Mit-Bau­ern gesucht (15/​2021), Irr­we­ge der EU-Agrar­po­li­tik (10/​2021), Näh­ren­de Geschäf­te (8/​2021), Bau­ern­op­fer: Kapi­ta­lis­mus tötet (5/​2021).