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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Eine vergangene Welt

Der vier­zehn­jäh­ri­ge David kommt 1958 aus einer Klein­stadt der DDR nach West­ber­lin auf ein Inter­nat und ins Gym­na­si­um. Da sein Vater Pfar­rer ist, hat er kei­nen Platz auf der Erwei­ter­ten Ober­schu­le sei­ner Hei­mat­stadt erhal­ten. Im Heim leben nur Schü­ler aus der DDR. Die Lebens­be­din­gun­gen unter­schei­den sich nicht erheb­lich von den Zustän­den in den Inter­na­ten wo auch immer: Die älte­ren Schü­ler woh­nen in Zwei- oder Ein­bett­zim­mern und müs­sen für Ord­nung und Dis­zi­plin bei den Jün­ge­ren sorgen.

Nur die Stadt, der Ort ist beson­ders. Von einem Teil in den ande­ren gibt es stren­ge Kon­trol­len. Man darf sich nicht erwi­schen las­sen. Die Exi­stenz von Ost- und West­geld erschwert den All­tag. Die Jun­gen brau­chen West­geld, wenn sie sich ein­mal eine Erb­sen­sup­pe oder ein Getränk kau­fen wol­len. Sie ver­die­nen es sich mit dem Ver­kauf von Zei­tun­gen oder auf dem Ten­nis­platz. Der eine hat mehr Glück oder Geschick als der ande­re. Anson­sten ler­nen sie für die Schu­le, wo sie als Ost­deut­sche (den Begriff »Ossis« gab es noch nicht) eine Grup­pe für sich bil­den – wie auf einer Insel. Dani­el ver­sucht, Thea­ter­stücke zu schrei­ben und wird in der Thea­ter­grup­pe, die auf Latei­nisch agiert, aktiv. Es bleibt wenig Zeit für Stadt­bum­mel, aber die Auf­trit­te des Erweckungs­pre­di­gers Bil­ly Gra­ham und des Sän­gers Bill Haley lässt er sich nicht ent­ge­hen, ohne die Begei­ste­rung um ihn her­um zu ver­ste­hen. Dani­el kommt in Kon­takt mit einer Thea­ter­grup­pe und erlebt sein erstes Lie­bes­aben­teu­er. Doch das Abitur schafft er nicht mehr, denn der Mau­er­bau ver­hin­dert die Rück­kehr und das Blei­ben in West­ber­lin. Dani­el beginnt eine Buch­händ­ler­leh­re in Ost­ber­lin, wohin sei­ne Eltern mitt­ler­wei­le gezo­gen waren.

Kein spek­ta­ku­lä­res Leben, zumal Dani­el einen recht bra­ven Ein­druck macht. Unge­wöhn­lich, ja, fremd ist die Situa­ti­on. Getrennt von den Eltern, kaum Mög­lich­kei­ten zu Heim­rei­sen, die Grenz­kon­trol­len, die geteil­te Stadt.

Chri­stoph Hein, der als Jugend­li­cher das Schick­sal Dani­els teil­te, betä­tigt sich wie­der als Chro­nist, der dies­mal die auto­bio­gra­phi­sche Nähe zu sei­nem Prot­ago­ni­sten wohl nicht ver­leug­nen will. Eben weil alles so unspek­ta­ku­lär und doch fremd wirkt, ent­steht der Ein­druck einer ver­gan­ge­nen Welt, die heu­te kaum noch vor­stell­bar ist. Chri­stoph Hein erweckt sie zum Leben.

Chri­stoph Hein: Unterm Staub der Jah­re, Roman, 221 S., 24 €.