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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Noch eine starke Frau in Italien?

Nach dem »Wahl­streik« von Mil­lio­nen Wäh­lern in der Lom­bar­dei und im Lati­um am 12. Febru­ar, als über 60 Pro­zent der Berech­tig­ten den Wahl­ur­nen fern­ge­blie­ben waren, in noch grö­ße­rem Aus­maß als bei den Par­la­ments­wah­len im Sep­tem­ber 2022 (sie­he Ossietzky 5/​23), lagen nach einem wei­te­ren Sieg der Rech­ten in Mai­land und Rom Hoff­nungs­lo­sig­keit und Resi­gna­ti­on in der Luft. Plät­ze und Stra­ßen blie­ben leer – ganz im Gegen­satz zu Frankreich!

Dage­gen raff­te sich nur zwei Wochen spä­ter (26.2.) über eine Mil­li­on Bür­ger auf, um am Tag der soge­nann­ten Pri­mär­wah­len zur neu­en Füh­rung der Demo­kra­ten (PD), nach dem Rück­tritt ihres Chefs Enri­co Let­ta, frei­wil­lig ihre Stim­me ein­zu­brin­gen. Und stieß damit das Gesamt-Wahl­er­geb­nis um – ent­ge­gen allen Vor­her­sa­gen, bei denen der von der Mehr­heit der Par­tei­mit­glie­der als tra­di­tio­nell favo­ri­sier­te Ste­fa­no Bonac­ci­ni mit 54 Pro­zent vor­ne lag, vor der unkon­ven­tio­nel­len, radi­kal auf­tre­ten­den Elly Sch­lein (35 Pro­zent). Die­ses Ergeb­nis wur­de nun von außen umge­kehrt und Sch­lein mit einer Zustim­mung von 54 Pro­zent zur neu­en Par­tei­se­kre­tä­rin gewählt. Bei die­sen Pri­mär­wah­len konn­ten nicht nur Par­tei­ge­nos­sen, son­dern alle Voll­jäh­ri­gen im Lan­de abstim­men, die 2 € pro Per­son spen­de­ten. Es gaben zwar wesent­lich weni­ger Men­schen als bei frü­he­ren Gele­gen­hei­ten ihre Stim­me ab, Roma­no Pro­di wur­de einst noch von 3,5 Mio. zum Par­tei­chef gewählt. Aber das war auch noch ein ande­res Ita­li­en. Man geht jetzt davon aus, dass die Last­mi­nu­te-Wäh­ler vor allem zu jenen Lin­ken gehö­ren, die sich längst nicht mehr par­tei­po­li­tisch ver­tre­ten füh­len und doch der deso­la­ten Stim­mung in der tief gespal­te­nen Oppo­si­ti­on eine neue Per­spek­ti­ve auf Ver­än­de­rung geben woll­ten. Die jun­ge Euro­päe­rin Elly Sch­lein, die schon über 10-jäh­ri­ge Poli­tik­erfah­run­gen in Brüs­sel und in der Regio­nal­re­gie­rung der Emi­lia Roma­gna ver­fügt, als Stell­ver­tre­te­rin von Ste­fa­no Bonac­ci­ni, dem sie auf­grund sei­ner Haus­macht inzwi­schen das Prä­si­di­um antrug, muss nun aller­dings neue Wege fin­den, um die Mehr­heit der Demo­kra­ten mit ihren diver­sen Seil­schaf­ten hin­ter sich zu brin­gen, die gegen sie votier­te (46 Pro­zent für Bonac­ci­ni). Die Par­tei liegt eigent­lich am Boden, geschwächt durch unter­schied­li­che Inter­es­sen, Nar­ziss­men und poli­ti­sche Lee­re, und Sch­lein steht vor einer gro­ßen Auf­ga­be, die ihre 9 Vor­gän­ger in 15 Jah­ren nicht bewältigten.

Es gilt, die­ser Par­tei end­lich eine rea­le Funk­ti­on mit einem poli­ti­schen Pro­jekt zu geben, das die Mil­lio­nen Men­schen im Lan­de wie­der direkt anspre­chen kann, die sich frü­her ein­mal durch die KPI reprä­sen­tiert fühl­ten und danach poli­tisch hei­mat­los wur­den. Letz­te­res gilt prak­tisch für die Mehr­heit aller abhän­gig Arbei­ten­den in Ita­li­en, deren sozia­le und wirt­schaft­li­che Situa­ti­on in einer Wei­se ver­schlech­tert wur­de, die kaum ihres­glei­chen in der EU hat. Für die­sen neo­li­be­ra­len Abbau der Rech­te in den letz­ten Jahr­zehn­ten ist gera­de die PD in hohem Maße direkt mit­ver­ant­wort­lich: Die fol­gen­schwe­re Locke­rung der Arbeits­ge­setz­ge­bung durch den soge­nann­ten Jobs Act ging z. B. auf das Kon­to von Matteo Ren­zi, der dann über sei­nen anma­ßen­den Ver­such fiel, gleich auch die ita­lie­ni­sche Ver­fas­sung beschnei­den zu wol­len, die sich in ihrem ersten Arti­kel auf »die Arbeit« stützt. Die Liste der erfolg­ten Anpas­sun­gen an die von Brüs­sel for­cier­ten Spar-Maß­nah­men, die ins­ge­samt zum Nie­der­gang der Wirt­schaft führ­ten, wäre lang – doch Elly Sch­lein ist nun erklär­ter­ma­ßen ange­tre­ten, das Ruder her­um­zu­rei­ßen. Ob sie dem immer noch domi­nie­ren­den neo­li­be­ra­len Main­stream durch Bele­bung des sozia­len Kon­flik­tes Ein­halt bie­ten kann, steht dahin, bis­her wen­det sie sich vor allem gegen den Abbau zivi­ler Rech­te. Doch sie will der mit­te-lin­ken Mehr­heit im Lan­de wie­der eine hör­ba­re Stim­me und eine Chan­ce geben, die schlech­te rech­te Regie­rung von Gior­gia Melo­ni bei näch­ster Gele­gen­heit abzulösen.

Schon im näch­sten Jahr, bei der Euro­pa-Wahl, soll ein Zei­chen gesetzt und das Pro­jekt Melo­nis zu Fall gebracht wer­den, die EU über die Stär­kung der von ihr seit 2020 ange­führ­ten EKR-Frak­ti­on von rechts zu domi­nie­ren. Ent­spre­chen­de Kon­tak­te Melo­nis zu ihrem EVP-Kol­le­gen Man­fred Weber (CSU) und eine Annä­he­rung der bei­den Frak­tio­nen gibt es bereits. Das ist eine poli­ti­sche Her­aus­for­de­rung, die nicht allein bewäl­tigt wer­den kann, bei der vie­le Kräf­te von links mit­zie­hen müs­sen, nicht nur in Ita­li­en. Denn eine wesent­lich stär­ke­re Poli­ti­sie­rung der EU-Wah­len ist unab­ding­lich, wenn die über­all nied­ri­ge Wahl­be­tei­li­gung von nur etwa 50 Pro­zent über­wun­den wer­den soll. Die erklär­te Femi­ni­stin Sch­lein, die sich »für die Frau­en« ein­set­zen will, tritt einer Melo­ni gegen­über, die nicht nur »als Frau«, son­dern vor allem »als Chri­stin«, als »ita­lie­ni­sche Patrio­tin« und last, but not least, »als Sol­dat« auf­tritt. Gegen deren reak­tio­nä­ren Indi­vi­dua­lis­mus, der sich mit der rech­ten Prä­senz im Lan­de ver­stärkt hat, stellt Sch­lein eine kol­lek­ti­ve Per­spek­ti­ve, die auch auf die Ein­be­zie­hung der vie­len sozia­len Basis­be­we­gun­gen im Lan­de setzt. Zunächst sind die PD-Gre­mi­en auf loka­ler Ebe­ne gefor­dert, auch ent­schei­den­de Posten in Par­tei und Par­la­ment besetz­te Sch­lein ganz neu. Für ihre kla­ren Posi­tio­nie­run­gen hofft sie auf aus­rei­chen­de Unter­stüt­zung von ihren eige­nen, für sie neu­en Par­tei­ge­nos­sen – sie selbst ist ja erst seit kur­zem Mit­glied der PD. Erst in den kom­men­den Wochen und Mona­ten wird sich also abzeich­nen, ob es zu einem wei­ter­füh­ren­den Auf­bruch wirk­lich kommt. Nur Ein­zel­ne haben die PD bis­her wegen des durch Sch­lein ver­ur­sach­ten »Links­rut­sches« ver­las­sen, sie wer­den den Ter­zo Polo um Matteo Ren­zi und Enri­co Calen­da stär­ken, der sowie­so im Zwei­fel die Rech­te unter­stützt. Auch das künf­ti­ge poli­ti­sche Erbe von Ber­lus­co­nis For­za Ita­lia wird dort ver­han­delt wer­den, vor­aus­sicht­lich zwi­schen einer dann neu­en Par­tei der rech­ten Mit­te und der Par­tei Melonis.

Zu den gro­ßen The­men, die in Ita­li­en zur Bewäl­ti­gung anste­hen, gehö­ren an vor­der­ster Stel­le die gro­ßen Ungleich­hei­ten, die Mil­lio­nen Men­schen in Armut und an der Peri­phe­rie hal­ten, gespeist durch hohe Infla­ti­on und ein völ­lig unzu­rei­chen­des Lohn­ni­veau, bei extrem hoher Steu­er­hin­ter­zie­hung. Auch der skan­da­lö­se, wenn auch von der EU mit­be­ding­te Umgang mit zuneh­men­der Migra­ti­on aus Afri­ka, oder mit dem – gegen EU-Nor­men prak­ti­zier­ten – Abbau von Zivil­rech­ten und vie­les ande­re mehr trennt die Poli­tik von rechts und links. Dif­fe­ren­zen vor allem über sozia­le Maß­nah­men gibt es auch unter den Oppo­si­ti­ons­par­tei­en selbst: So steht die 5-Ster­ne-Bewe­gung von Giu­sep­pe Con­te mit ihrer Ver­tei­di­gung des von ihr ein­ge­führ­ten Bür­ger­gel­des, jenen maxi­mal ca. 500 € im Monat, die aber Mil­lio­nen vor abso­lu­ter Armut bewah­ren, bis­her links von der PD, ohne jedoch den Neo­li­be­ra­lis­mus als Gan­zes in Fra­ge zu stel­len. Nun macht Sch­lein mit vie­len eher radi­kal anmu­ten­den For­de­run­gen Con­te die­se Posi­ti­on gewis­ser­ma­ßen strei­tig, aber alles Kon­kur­renz­ge­ba­ren müs­sen bei­de ver­mei­den, viel­mehr in Zukunft pro­gram­ma­ti­sche Über­ein­künf­te ent­wickeln, die ihnen neu­en Zuspruch von Nicht­wäh­lern ver­schaf­fen und einen Wett­streit um ihre bis­he­ri­gen Wäh­ler ver­mei­den. Auch die klei­nen Par­tei­en der außer­par­la­men­ta­ri­schen Rest­lin­ken sind her­aus­ge­for­dert, sich ent­spre­chend einzubringen.

Der gra­vie­rend­ste Unter­schied zwi­schen PD und M5S besteht jedoch heu­te in ihrer Hal­tung zur mili­tä­ri­schen Unter­stüt­zung der Ukrai­ne durch den Westen. Solan­ge der Krieg währt, sind sozia­le Kämp­fe jedoch blockiert. Giu­sep­pe Con­te hat inzwi­schen mit sei­ner Füh­rung des M5S eine zuneh­mend kri­ti­sche Hal­tung zu den immer schwe­re­ren Waf­fen­lie­fe­run­gen der Nato-Län­der ein­ge­nom­men, denn nach einem Jahr mas­si­ver Zer­stö­run­gen und gro­ßer Men­schen­ver­lu­ste auf bei­den Sei­ten ist weder ein rea­li­sti­sches Kriegs­ziel vom Westen benannt, noch ist ein Aus­stiegs­ter­min abseh­bar. Die PD aber stand bis­her bei allen Abstim­mun­gen im ita­lie­ni­schen Par­la­ment fest zu den Nato-For­de­run­gen, nicht nur für die Ukrai­ne, son­dern für alle Kriegs­ge­bie­te welt­weit. Und Sch­lein unter­stützt die Hal­tung der Brüs­se­ler PSE, die inzwi­schen bei­des, mehr Waf­fen und mehr Diplo­ma­tie, for­dert. Doch fast alle lin­ken Kräf­te Euro­pas haben sich der Kriegs­lo­gik bis­her gebeugt und blockie­ren sich damit selbst. Das kommt fast über­all den Rech­ten zugu­te. Der für die neue Hoch­rü­stung nöti­ge finan­zi­el­le Auf­wand stößt in Ita­li­en beson­ders schnell an die engen Gren­zen der Erfor­der­nis­se selbst des abge­ma­ger­ten Wohl­fahrts­staa­tes. Auch der natio­na­le Ret­tungs­plan für den Wie­der­auf­bau nach der Covid-Zeit (PNRR) bie­tet kei­ne finan­zi­el­len Aus­we­ge, und die bis­he­ri­ge Spar­po­li­tik hat vie­le Kom­pe­ten­zen im öffent­li­chen Sek­tor abge­baut, die nun für die Aus­füh­rung vie­ler Pro­jek­te auf loka­ler Ebe­ne feh­len. Infor­ma­ti­on dar­über und Aus­tausch mit der betrof­fe­nen Bevöl­ke­rung feh­len fast ganz. Auch dar­in mani­fe­stiert sich die Ent­fer­nung zwi­schen Insti­tu­tio­nen und Wahl­bür­gern über­deut­lich. Melo­ni war nun wie­der in Brüs­sel vor­stel­lig, denn auch der Staats­haus­halt für 2024 gestal­tet sich mehr als schwie­rig, und über all dem schwebt schon bald wie­der das durch neue, von der EU-Kom­mis­si­on vor­ge­schla­ge­ne »unab­hän­gi­ge Steu­er­agen­tu­ren« nur abge­schwäch­te Damo­kles­schwert des beson­ders von Deutsch­land favo­ri­sier­ten Stabilitätspaktes.

Alle wis­sen: Die Zulas­sung zum inner cir­cle der Regie­rungs­ebe­ne ist in Ita­li­en, wie in allen EU- und Nato-Staa­ten, fest an die Ein­hal­tung der Brüs­se­ler For­de­run­gen zur Finanz­po­li­tik und zur Nato gebun­den. Das hat­te Mario Draghi Gior­gia Melo­ni näm­lich vor ihrem Regie­rungs­an­tritt klar­ge­macht, eben­so wie Elly Sch­leins Vor­gän­ger Enri­co Let­ta nun auch sei­ner Nachfolgerin.