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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Lebensfahrten, Lebenslieder

Gedich­te sind, wie es der Klap­pen­text die­ses Buches ver­heißt, »Fen­ster in inne­re, nahe und fer­ne Wel­ten.« Der Anspruch wird völ­lig zu Recht erho­ben, das erweist sich beim Lesen. Die Autorin beherrscht die Kunst, in ihren Gedich­ten die­je­ni­gen, die sich dar­auf ein­las­sen, auf eine Lebens­fahrt mit­zu­neh­men, auf ihre Lebens­fahrt. Gemein­sam ist man unter­wegs, gemein­sam durch­streift man die Welt, erlebt, erlei­det und genießt sie. Lesen als Akt der Gemein­schaft –das ist ein Impe­tus des Buches, der Lob verdient.

Der beson­de­re Reiz der Lebens­fahrt im Buch besteht dar­in, dass sie in der Frem­de beginnt und gewis­ser­ma­ßen in der inner­sten Hei­mat, ein­fa­cher: bei sich selbst, endet.

Doch zuerst ist man »Auf Kara­wa­nen­stra­ßen unter­wegs«: Zypern, Arme­ni­en, Berg­ka­ra­bach und Ban­ja Luka sind Sta­tio­nen. Wäh­rend man noch auf dem Weg durch die Kara­wan­se­rei »Läden mit Kör­ben aus Wei­zen­stroh /​ anti­ken Öllämp­chen und Mok­ka­kan­nen« betritt, sich die dort feil­ge­bo­te­nen »Minia­tur­tep­pi­che als Lese­zei­chen« vor­stellt, umweht wird von wun­der­sa­men Gerü­chen und gro­ßer Fried­sam­keit – erschei­nen plötz­lich: »Mia aus Kiew«, »Ihor aus Char­kiw« und »Igor aus Wol­go­grad« und mit ihnen der unbe­greif­li­che Wahn­witz eines grau­sa­men Krie­ges. In drei Ver­sen, Moment­auf­neh­men gleich­sam, steigt er lapi­dar und des­we­gen beson­ders ein­dring­lich vor uns auf. Des Tra­kl-Anklangs in einer Art Zusatz, »dass kei­ne wei­te­re Nacht ster­ben­de Kin­der und Krie­ger umfan­ge«, hät­te es wohl gar nicht bedurft.

Die Lebens­fahrt führt wei­ter zur Stra­ße von Mes­si­na, zu Skyl­la und Cha­ryb­dis und zum Strom­bo­li. Lite­ra­tur­be­haf­te­tes, Sym­bol­träch­ti­ges wird zu ganz Eige­nem ver­wan­delt, sodass wirk­lich ein Zwie­ge­spräch ent­steht. Und das ist, wie man weiß, auf Rei­sen von enor­mer Wichtigkeit.

Wich­tig ist es auch in der Situa­ti­on des Ein­ge­sperrt­seins: Die »wei­ßen Häu­ser von Mes­si­na« tau­chen am Fan­ta­sie­ho­ri­zont auf, wäh­rend das lyri­sche Ich wie aus einer Zel­le spricht: »Mein Gefäng­nis /​ hat zwei Zim­mer und Bal­kon mit Vogel­haus, /​ Fen­ster und sogar einen Hof /​ mit Bäu­men – halb kahl, halb grün, /​ eine Stra­ße zum Aldi und eine zum Park …«

Wir alle haben die­se »Gefäng­nis­se« in den Pan­de­mie­jah­ren, den Ver­lust an akti­vem Leben ken­nen­ge­lernt. Die Autorin hat den Mut, von »gestohlene[n] Jahre[n]« zu spre­chen. So wird der »Oster­spa­zier­gang 2021« zu einem Gang durch das Zim­mer: »auf und ab, ab und auf, ab, ab, ab«. Es sind die ein­fa­chen sprach­li­chen Mit­tel, die bei Rena­te Satt­ler oft die deut­lich­ste Wir­kung ent­ste­hen lassen.

Wei­te­re Rei­se­sta­tio­nen sind etwa die Ost­see­kü­ste, der Harz, die Umge­bung Mag­de­burgs. Im ver­meint­li­chen Nah­be­reich wird hier aber wie­der die Welt sicht­bar, mit all den Ein­bu­ßen, die wir gern als Gewin­ne tar­nen. Es ste­hen heu­te Häu­ser mit Gär­ten dort, wo einst eine Bahn­tras­se war. Aber die Reb­hüh­ner, die mit ihrem plötz­li­chen Auf­flie­gen auch ein Erschrecken, ein Inne­hal­ten bewir­ken konn­ten, gibt es nicht mehr. »Reb­hüh­ner« ist ein wie erzählt wir­ken­des, sehr kur­zes Gedicht, aber gera­de das erzeugt eine Wucht, die sei­nen Wor­ten etwas wie Kleb­kraft ver­leiht. Über­haupt sind die kur­zen Tex­te in die­sem Band die deut­lich­sten, ihnen kann man wirk­lich kein Wort mehr wegnehmen.

Tie­re und Pflan­zen – damit lebt Rena­te Satt­ler, dar­auf bezieht sie sich, mit ihnen spricht sie, und sie erhält Ant­wor­ten von ihnen. Sie ist ihre Advo­ka­tin, wo immer es nötig ist, sie zu ver­tei­di­gen. Ihren dafür geschärf­ten Sinn ver­dankt sie gewiss auch ihren Kennt­nis­sen indi­ge­ner Völ­ker, ihrer Mythen und Gebräu­che. Sie hat­ten und haben in der Autorin eine wache und enga­gier­te Für­spre­che­rin. Im vor­lie­gen­den Band bezieht sie sich im Gedicht­zy­klus »Gebe­te an Groß­mutter Mond« auf einen Schöp­fungs­my­thos der Iro­ke­sen. Groß­mutter Mond ist die Him­mels­frau. Sie leh­ne sich, teilt die Schrift­stel­le­rin mit, an den von ihr erfah­re­nen Umgang von Mohawk-Frau­en mit Groß­mutter Mond an. Die Gebe­te umfah­ren wie­der die Welt, bit­ten für Hun­gern­de und Ver­wun­de­te, um dann, in einem der ergrei­fend­sten Tex­te des Ban­des, zu einer per­sön­li­chen Bit­te zu wer­den, her­vor­bre­chend aus dem Wis­sen um die eige­ne Zer­brech­lich­keit und End­lich­keit: »Sag, dass es nicht mein letz­ter Herbst sei.« Denn noch sei­en nicht alle Geschich­ten erzählt. Wem fie­le hier nicht Höl­der­lins Dich­tung »An die Par­zen« ein?

Die Lebens­fahr­ten beschrei­ben­den Gedich­te enden sozu­sa­gen vor der Haus­tür: Ein Mäd­chen schnallt sich Rol­ler­ska­ter an, ihre Weih­nachts­ge­schen­ke, und rollt davon, der Son­ne zu; der Weih­nachts­markt lockt mit den bana­len und doch herr­li­chen Genüssen

Es sind Lie­der des Lebens, die den Band beschlie­ßen und einen wohl­tu­en­den Opti­mis­mus zurück­las­sen. Und was beschreibt einen Neu­be­ginn bes­ser als ein Spa­zier­gang am Neu­jahrs­mor­gen? Im Him­mels­rot, am Fluss ent­lang mit sei­nen schnee­ge­rän­der­ten Sand­in­seln. Aber die­sen Auf­bruch muss nun ein­mal jeder allein wagen, denn: »Die­sen Pfad ver­ra­te ich /​ nie­man­dem.«

Doch einen Band Gedich­te darf man mit­neh­men, damit man nicht allein geht.

Rena­te Satt­ler: Ster­nen­schau­kel. Gedich­te, Kul­tur­ma­schi­nen Ver­lag 2023, 104 S., 13 €.