Gedichte sind, wie es der Klappentext dieses Buches verheißt, »Fenster in innere, nahe und ferne Welten.« Der Anspruch wird völlig zu Recht erhoben, das erweist sich beim Lesen. Die Autorin beherrscht die Kunst, in ihren Gedichten diejenigen, die sich darauf einlassen, auf eine Lebensfahrt mitzunehmen, auf ihre Lebensfahrt. Gemeinsam ist man unterwegs, gemeinsam durchstreift man die Welt, erlebt, erleidet und genießt sie. Lesen als Akt der Gemeinschaft –das ist ein Impetus des Buches, der Lob verdient.
Der besondere Reiz der Lebensfahrt im Buch besteht darin, dass sie in der Fremde beginnt und gewissermaßen in der innersten Heimat, einfacher: bei sich selbst, endet.
Doch zuerst ist man »Auf Karawanenstraßen unterwegs«: Zypern, Armenien, Bergkarabach und Banja Luka sind Stationen. Während man noch auf dem Weg durch die Karawanserei »Läden mit Körben aus Weizenstroh / antiken Öllämpchen und Mokkakannen« betritt, sich die dort feilgebotenen »Miniaturteppiche als Lesezeichen« vorstellt, umweht wird von wundersamen Gerüchen und großer Friedsamkeit – erscheinen plötzlich: »Mia aus Kiew«, »Ihor aus Charkiw« und »Igor aus Wolgograd« und mit ihnen der unbegreifliche Wahnwitz eines grausamen Krieges. In drei Versen, Momentaufnehmen gleichsam, steigt er lapidar und deswegen besonders eindringlich vor uns auf. Des Trakl-Anklangs in einer Art Zusatz, »dass keine weitere Nacht sterbende Kinder und Krieger umfange«, hätte es wohl gar nicht bedurft.
Die Lebensfahrt führt weiter zur Straße von Messina, zu Skylla und Charybdis und zum Stromboli. Literaturbehaftetes, Symbolträchtiges wird zu ganz Eigenem verwandelt, sodass wirklich ein Zwiegespräch entsteht. Und das ist, wie man weiß, auf Reisen von enormer Wichtigkeit.
Wichtig ist es auch in der Situation des Eingesperrtseins: Die »weißen Häuser von Messina« tauchen am Fantasiehorizont auf, während das lyrische Ich wie aus einer Zelle spricht: »Mein Gefängnis / hat zwei Zimmer und Balkon mit Vogelhaus, / Fenster und sogar einen Hof / mit Bäumen – halb kahl, halb grün, / eine Straße zum Aldi und eine zum Park …«
Wir alle haben diese »Gefängnisse« in den Pandemiejahren, den Verlust an aktivem Leben kennengelernt. Die Autorin hat den Mut, von »gestohlene[n] Jahre[n]« zu sprechen. So wird der »Osterspaziergang 2021« zu einem Gang durch das Zimmer: »auf und ab, ab und auf, ab, ab, ab«. Es sind die einfachen sprachlichen Mittel, die bei Renate Sattler oft die deutlichste Wirkung entstehen lassen.
Weitere Reisestationen sind etwa die Ostseeküste, der Harz, die Umgebung Magdeburgs. Im vermeintlichen Nahbereich wird hier aber wieder die Welt sichtbar, mit all den Einbußen, die wir gern als Gewinne tarnen. Es stehen heute Häuser mit Gärten dort, wo einst eine Bahntrasse war. Aber die Rebhühner, die mit ihrem plötzlichen Auffliegen auch ein Erschrecken, ein Innehalten bewirken konnten, gibt es nicht mehr. »Rebhühner« ist ein wie erzählt wirkendes, sehr kurzes Gedicht, aber gerade das erzeugt eine Wucht, die seinen Worten etwas wie Klebkraft verleiht. Überhaupt sind die kurzen Texte in diesem Band die deutlichsten, ihnen kann man wirklich kein Wort mehr wegnehmen.
Tiere und Pflanzen – damit lebt Renate Sattler, darauf bezieht sie sich, mit ihnen spricht sie, und sie erhält Antworten von ihnen. Sie ist ihre Advokatin, wo immer es nötig ist, sie zu verteidigen. Ihren dafür geschärften Sinn verdankt sie gewiss auch ihren Kenntnissen indigener Völker, ihrer Mythen und Gebräuche. Sie hatten und haben in der Autorin eine wache und engagierte Fürsprecherin. Im vorliegenden Band bezieht sie sich im Gedichtzyklus »Gebete an Großmutter Mond« auf einen Schöpfungsmythos der Irokesen. Großmutter Mond ist die Himmelsfrau. Sie lehne sich, teilt die Schriftstellerin mit, an den von ihr erfahrenen Umgang von Mohawk-Frauen mit Großmutter Mond an. Die Gebete umfahren wieder die Welt, bitten für Hungernde und Verwundete, um dann, in einem der ergreifendsten Texte des Bandes, zu einer persönlichen Bitte zu werden, hervorbrechend aus dem Wissen um die eigene Zerbrechlichkeit und Endlichkeit: »Sag, dass es nicht mein letzter Herbst sei.« Denn noch seien nicht alle Geschichten erzählt. Wem fiele hier nicht Hölderlins Dichtung »An die Parzen« ein?
Die Lebensfahrten beschreibenden Gedichte enden sozusagen vor der Haustür: Ein Mädchen schnallt sich Rollerskater an, ihre Weihnachtsgeschenke, und rollt davon, der Sonne zu; der Weihnachtsmarkt lockt mit den banalen und doch herrlichen Genüssen
Es sind Lieder des Lebens, die den Band beschließen und einen wohltuenden Optimismus zurücklassen. Und was beschreibt einen Neubeginn besser als ein Spaziergang am Neujahrsmorgen? Im Himmelsrot, am Fluss entlang mit seinen schneegeränderten Sandinseln. Aber diesen Aufbruch muss nun einmal jeder allein wagen, denn: »Diesen Pfad verrate ich / niemandem.«
Doch einen Band Gedichte darf man mitnehmen, damit man nicht allein geht.
Renate Sattler: Sternenschaukel. Gedichte, Kulturmaschinen Verlag 2023, 104 S., 13 €.