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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Mit radikaler Gewalt?

Gewalt und Radi­ka­li­tät gehör­ten zu den The­men, die uns als jun­ge Sozia­li­sten beson­ders beweg­ten. Es gab wäh­rend der Oster­mär­sche durch die Lüne­bur­ger Hei­de ab 1960 span­nen­de Dis­kus­si­ons­run­den mit Kom­mu­ni­sten. Das war sicher­lich über­all so. In dem Lese­buch für die 10. Klas­se »Epi­so­den aus dem Leben gro­ßer Men­schen«, das in der UdSSR und in der DDR ver­brei­tet wur­de, heißt es: »Lenins Bru­der Alex­an­der Ulja­now mach­te Wla­di­mir schon früh mit revo­lu­tio­nä­ren Ideen bekannt. Das Stu­di­um der Geschich­te des Kamp­fes gegen den Zaris­mus, die Hin­rich­tung sei­nes Bru­ders Alex­an­der wegen der Teil­nah­me an der Vor­be­rei­tung eines Atten­ta­tes auf den Zaren über­zeug­ten Wla­di­mir Iljitsch, dass nur eine orga­ni­sier­te Arbei­ter­klas­se im Bünd­nis mit den Bau­ern den Zaris­mus stür­zen konnte.«

Im April 1920 erschien Lenins »Der ›lin­ke Radi­ka­lis­mus‹, die Kin­der­krank­heit im Kom­mu­nis­mus«. Ein heu­te fast ver­ges­se­nes Werk, obwohl sehr aktu­ell. Schon am 14. April 1919 hat­te Lenin in einem Inter­view in der Frank­fur­ter Zei­tung aus­ge­führt, die Hoff­nung auf die Welt­re­vo­lu­ti­on nach dem Okto­ber 1917 sei falsch gewe­sen. Viel­leicht in zehn Jah­ren sei es so weit; inzwi­schen gel­te es, den Sozia­lis­mus in einem Lan­de auf­zu­bau­en. Bereits damals stell­te Lenin also die kom­mu­ni­sti­sche Welt­be­we­gung auf den revo­lu­tio­nä­ren Kampf in nicht­re­vo­lu­tio­nä­ren Zei­ten ein. In der »Kin­der­krank­heit« kri­ti­sier­te Lenin die Ableh­nung der Gewerk­schafts­ar­beit und der Arbeit in Par­la­men­ten, fer­ner die »Kom­pro­miss­lo­sig­keit« vie­ler Lin­ker und das Ver­ständ­nis für indi­vi­du­el­len Ter­ror bei eini­gen. Die Suche nach »Schrit­ten und Über­gän­gen« wur­de nach dem Abflau­en der ersten revo­lu­tio­nä­ren Wel­le nach der rus­si­schen Okto­ber­re­vo­lu­ti­on zur erst­ran­gi­gen stra­te­gi­schen Auf­ga­be. Denn so Lenin: »… ohne eine Ände­rung in den Anschau­un­gen der Mehr­heit der Arbei­ter­klas­se ist die Revo­lu­ti­on unmög­lich; die­se Ände­rung aber wird durch die poli­ti­sche Erfah­rung der Mas­sen, nie­mals durch Pro­pa­gan­da allein erreicht.«

Den­noch hiel­ten die Kom­mu­ni­sten bis 1933 viel zu lan­ge an der Vor­stel­lung fest, es könn­te der revo­lu­tio­nä­re Umsturz unmit­tel­bar erreicht wer­den. Der KPD gelang es daher bis 1933 nicht, den Kurs der reak­tio­när­sten Tei­le des Groß­ka­pi­tals zur Errich­tung der faschi­sti­schen Dik­ta­tur mit einer brei­test­mög­li­chen anti­fa­schi­sti­schen Front zu stoppen.

Und heu­te? Die bür­ger­li­che Demo­kra­tie, das Grund­ge­setz sei nicht der Ver­tei­di­gung wert, denn ihre Trä­ger woll­ten das­sel­be wie die Faschi­sten, so klingt es immer wie­der bei man­chen Lin­ken durch. So deu­ten sie immer wie­der die Besei­ti­gung des Kapi­ta­lis­mus als unmit­tel­ba­re »Haupt­auf­ga­be« – nicht das brei­te Bünd­nis für Demo­kra­tie, Kli­ma und Frie­den, für Vor­aus­set­zun­gen auf dem Weg zu gesell­schaft­li­chem Fortschritt.

Lenin ver­ur­teil­te auch den indi­vi­du­el­len Ter­ror in der »Kin­der­krank­heit«. Irgend­wel­ches Ver­ständ­nis für die RAF, das da und dort heu­te geäu­ßert wird, das wäre ihm sicher nicht ein­ge­fal­len. Ich weiß nicht, ob Lenins »Lin­ker Radi­ka­lis­mus« in der poli­ti­schen Bil­dung der spä­ten DDR eine Rol­le spiel­te. In den Unter­la­gen mei­nes Schwie­ger­va­ters, der als Gast aus Ham­burg im Jahr 1946 am Ver­ei­ni­gungs­par­tei­tag SPD-KPD teil­ge­nom­men hat, fand ich eine Samm­lung von Schrif­ten, die dort allen Teil­neh­mern über­ge­ben wur­den. Dar­in die Schrift zu den Kin­der­krank­hei­ten im Kommunismus.