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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Nur Glaskugel-lesen?

Die Jah­res­end-Bilan­zen nach dem stür­mi­schen 2022 gehen sicher in die Hun­der­te … Soll­te man hier noch eins drauf­set­zen? Oder ist ein Rück-Aus­blick nur wie Pro­phe­tie »aus der Glas­ku­gel«? Ande­rer­seits belebt jede Wort­mel­dung einen Dis­kurs, beleuch­tet Din­ge aus ande­ren Blick­win­keln. Des­halb sei auch die­ser Bei­trag erlaubt.

Auch vor dem Krieg in Ost­eu­ro­pa gab es ideo­lo­gi­sche Grä­ben, poli­ti­sches Wunsch­den­ken und Arro­ganz, unter­füt­tert durch die »pas­sen­den« Medi­en-Aus­las­sun­gen. Dies ging bis hin zu pro­gno­sti­zier­ten Angriffs­ter­mi­nen Russ­lands sei­tens des »Wer­te-Westens«. Dann wirk­te der 24. Febru­ar wie ein Brand­be­schleu­ni­ger: Staa­ten war­fen ihre jahr­zehn­te­al­ten Prin­zi­pi­en des Mit­ein­an­der über Bord, Kom­men­ta­to­ren über­schlu­gen sich in Kriegs­re­por­ter-Manier, spar­sa­me Poli­ti­ker war­fen urplötz­lich mit Kriegs-Mil­li­ar­den um sich. Kam das alles aus dem Nichts – oder hat­ten vie­le nur dar­auf gewar­tet, waren instru­iert und hat­ten in Hin­ter­zim­mern oder offi­ziö­sen Tref­fen schon »vor­ge­ar­bei­tet«? Es war sicht­bar: Russ­lands Drän­gen auf eine euro­päi­sche Sicher­heits-Struk­tur ab Ende 2021 wur­de igno­riert – nicht nur von geo­gra­fisch ent­fern­ten Mäch­ten wie den USA, son­dern auch von den euro­päi­schen Regie­run­gen selbst! Haben sie kein Inter­es­se an euro­päi­scher Sicher­heit? Die Fak­ten las­sen auch den Schluss zu: Man woll­te den Kon­flikt! Betrach­tet man die Zeit nach dem rus­si­schen Ein­marsch bis heu­te, zeigt der »Wer­te-Westen« ein nahe­zu ein­heit­li­ches Bild der Ver­teu­fe­lung Russ­lands. Der Ton ist der­ma­ßen eska­liert, dass kei­ne Ver­stän­di­gung mehr mög­lich scheint. Sind damit auch alle Chan­cen für künf­ti­ge Ver­ein­ba­run­gen zur mili­tä­ri­schen Dees­ka­la­ti­on obso­let? Sol­che Ver­trä­ge wie SALT I und II, der Atom­waf­fen­sperr­ver­trag haben das Wett­rü­sten im Kal­ten Krieg zumin­dest ein­ge­schränkt. Sind alle bis­he­ri­gen Ver­trä­ge vom Tisch gefegt, gibt es irgend­wo noch einen Wil­len für die Ent­span­nung? Und ist die aktu­el­le Poli­ti­ker-Rie­ge für sol­che Ver­hand­lun­gen noch glaub­wür­dig – bei ihrem momen­ta­nen Kriegs-Getö­se? Für mich beson­ders ent­täu­schend: Vie­le der­je­ni­gen, die zu DDR-Zei­ten »Schwer­ter zu Pflug­scha­ren« umschmie­den woll­ten, sind heu­te ganz vorn bei der media­len Kriegs­hy­ste­rie. Hier sei an Imma­nu­el Kant erin­nert: »Krieg aller gegen alle (…) führt zum ewi­gen Frie­den der Friedhöfe.«

Seit Febru­ar 2022 zeigt sich aber auch: Die Deu­tungs­ho­heit des »Wer­te-Westens« ver­rin­gert sich. Merk­ma­le dafür sind u. a. die rela­tiv gerin­ge glo­ba­le Reso­nanz der Anti-Russ­land-Sank­tio­nen, der anstei­gen­de Han­del auf Basis loka­ler Wäh­run­gen (anstel­le des Dol­lars) und meh­re­re Bei­trit­te zum BRICS-Han­dels­bünd­nis. Dies läuft gene­rell auf eine schwin­den­de Rol­le des US-Dol­lars hin­aus, der jedoch als »Schwung­ma­s­se« für die Finanz­po­li­tik der USA erfor­der­lich ist. Viel­leicht haben vie­le Staa­ten regi­striert, dass die Poli­tik des »Wer­te-Westens« sel­ten ihren eige­nen Gun­sten, jedoch häu­fig den Inter­es­sen der G7-Mit­glie­der (sie­he aktu­ell die Drang­sa­lie­rung von Vene­zue­la) dient. Auch das Beu­gen völ­ker­recht­li­cher Abkom­men, z. B. die de-fac­to-Beschlag­nah­me rus­si­schen Eigen­tums, wird inter­na­tio­nal beob­ach­tet. Damit wird auch der »Wer­te-Westen« sehr durch­schau­bar – als ideo­lo­gi­sches Dog­ma für selbst­süch­ti­ge Inter­es­sen. Ein Bei­spiel: Mit Frau von der Ley­en soll­te das Haupt­ziel der EU ein »Green Deal« sein – und bei erst­be­ster Gele­gen­heit schwenk­te man um auf Kriegs­po­li­tik (die ja von der Waf­fen­pro­duk­ti­on bis zum -ein­satz jeder grü­nen Poli­tik Hohn spricht).

Die dar­aus resul­tie­ren­de stär­ke­re Eigen­stän­dig­keit vie­ler Staa­ten kommt einer mul­ti­po­la­ren und damit unab­hän­gi­ge­ren Welt sicher zugu­te – obwohl dies auch die Gefahr der Kon­fron­ta­ti­on mit star­ken, aggres­si­ven Staa­ten­blöcken nach sich zieht. Dies war begin­nend mit 1999 (Krieg gegen Ser­bi­en) mehr­fach zu beob­ach­ten (Irak, Syri­en, Afgha­ni­stan usw.).

Als künf­ti­ger Staa­ten­block könn­te sich das Bünd­nis zwi­schen Chi­na und Russ­land ent­wickeln. Dabei scheint Chi­na die klü­ge­ren, weil weit­sich­ti­ge­ren Poli­tik-Ansät­ze zu ver­fol­gen. Russ­land ist aktu­ell durch den Ukrai­ne-Krieg etwas gebremst und scheint über­haupt einem gewis­sen Erkennt­nis-Phleg­ma zu unter­lie­gen. Zumin­dest wür­den sich hier­bei zwei Staa­ten auf Augen­hö­he ver­bün­den, was im Bin­nen-Ver­bund des »Wer­te-Westens« nicht der Fall ist. Betrach­tet man die Bezie­hun­gen der euro­päi­schen Staa­ten zu den USA, schei­nen sie sich irgend­wo zwi­schen Ser­vi­li­tät und Unter­wür­fig­keit ein­zu­ord­nen. Wie sonst lie­ße sich erklä­ren, dass der Bun­des­kanz­ler nach mona­te­lan­gem Wider­stand plötz­lich doch Pan­zer schicken will – nach nur einem Anruf des US-Prä­si­den­ten. Und die­se »Bünd­nis­treue« hält an, ob deut­sche Mil­li­ar­den­in­ve­sti­tio­nen in der Ost­see gesprengt wer­den, oder wenn die USA mit dem Infla­ti­on Regu­la­ti­on Act eine Art Han­dels­blocka­de u. a. gegen­über der EU prak­ti­ziert … Auf die­se Wei­se wird die glo­ba­le Posi­ti­on der EU in Zukunft wei­ter geschwächt – mög­li­cher­wei­se geschul­det dem momen­tan lei­ten­den Poli­tik-Per­so­nal. Auf die­ser Basis sind viel­leicht kei­ne künf­ti­gen poli­ti­schen Ver­hand­lun­gen mit ande­ren Staa­ten­bünd­nis­sen mehr mög­lich – die Aggres­si­vi­tät und Fehl­sich­ten sind von Poli­ti­kern außer­halb des »Wer­te-Westens« nicht hin­nehm­bar. Ob und wie sich klü­ge­re poli­ti­sche Kräf­te eta­blie­ren und durch­set­zen kön­nen, ist aktu­ell nicht erkennbar.

Die innen­po­li­ti­schen Aspek­te sind gra­vie­rend: Momen­tan steigt die Infla­ti­on rasant; die Ein­däm­mung durch Zins­er­hö­hun­gen zeigt auch nega­ti­ve Ten­den­zen wie den rück­läu­fi­gen Woh­nungs­bau; die Kauf­kraft der Bevöl­ke­rung sinkt rapi­de. Nein, dar­an ist nicht Russ­land schuld – die EU hat mit­tels ihrer Sank­tio­nen sich selbst den Gas- und aktu­ell den Öl-Hahn zuge­dreht! Dass dies die Ener­gie-Ver­teue­rung nach sich zie­hen wird, damit die Bevöl­ke­rung geschröpft wird, die Pro­duk­te des Export­welt­mei­sters teu­rer (und damit weni­ger lukra­tiv) wer­den – war das nicht vor­her­seh­bar? Ganz zu schwei­gen davon, dass etli­che Groß­ver­brau­cher ihre Pro­duk­ti­ons­an­la­gen teu­er und mit lan­gen Aus­fall­zei­ten umbau­en müs­sen (hof­fent­lich nicht auf Schwer­öl). Eine ein­zi­ge Kon­fe­renz mit den Geschäfts­füh­rern gro­ßer Unter­neh­men hät­te die­se Fol­gen offen­bart - woll­te dies nie­mand recht­zei­tig hören? Oder ist es eine Fra­ge der Kom­pe­tenz der Regie­ren­den? In der Ten­denz lässt sich ver­mu­ten, dass das deut­sche BIP (mit Infla­ti­ons-Kor­rek­tur) merk­lich sin­ken wird, wei­te­re »Son­der­ver­mö­gen« zu erwar­ten und per Staats­kre­dit zu finan­zie­ren sind inclu­si­ve Schul­den­dienst. Wer­den dann die Mehr­wert­steu­er wei­ter stei­gen oder die Staats­aus­ga­ben für Woh­nungs­bau, Stra­ßen, Kul­tur usw. wei­ter sin­ken? Denn auch die USA ver­kau­fen uns die Ener­gie nicht so gün­stig wie bis­her Russ­land – schon der »Infla­ti­on Act« zeigt, dass Euro­pa von dort nichts Posi­ti­ves zu erwar­ten hat.

Gene­rell scheint deut­lich zu wer­den – begin­nend mit der Coro­na-Kri­se – dass die Glo­ba­li­sie­rung nicht mehr »der letz­te Schrei« ist: Sie kann gün­sti­ge Her­stell­ko­sten brin­gen, birgt aber gro­ße Lie­fer­ri­si­ken. Soll­te die Aggres­si­vi­tät der Staa­ten unter­ein­an­der zuneh­men, wird kein Land sei­ne Roh­stof­fe außer Lan­des las­sen, man den­ke an sel­te­ne Erden, Alu­mi­ni­um usw. Damit ist ein Rück­be­sin­nen auf dezen­tra­le bis regio­na­le Ver­sor­gung zu erwar­ten – kei­ne Schwei­ne­trans­por­te über Tau­sen­de Kilo­me­ter, kein Lie­ge­stuhl aus Südostasien …

Auch dies wäre ein posi­ti­ver Aspekt bzgl. Umwelt­schutz: Jeder gespar­te Trans­port-Kilo­me­ter ver­rin­gert den CO2-Aus­stoß. Auch hier scheint sich eine künf­tig ver­här­ten­de Front her­aus­zu­bil­den: zwi­schen dem »Wei­ter so!« der kapi­ta­li­sti­schen Wachs­tums-Wirt­schaft (aktu­ell beschleu­nigt durch die Waf­fen­pro­duk­ti­on) und sol­chen Bewe­gun­gen wie »letz­te Gene­ra­ti­on«, »Fri­days for future« und ande­ren. Von den Füh­rungs­per­so­nen der hie­si­gen »Grü­nen« kommt fast nichts pro Kli­ma: Über­all, wo sie Regie­rungs­macht haben, tra­gen sie umwelt­zer­stö­ren­de Pro­jek­te mit. Die­se Ten­denz hat in den letz­ten Jah­ren zuge­nom­men; pro­pa­gier­te glo­ba­le Kli­ma-Zie­le wer­den durch ideo­lo­gie­ge­trie­be­ne poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen tor­pe­diert; die Schaf­fung alter­na­ti­ver Ener­gie­quel­len scheint unter ande­ren Poli­tik-The­men fast neben­säch­lich. Das Miss­ach­ten der ech­ten Kli­ma-Pro­ble­me kann bei den Kli­ma-Bewe­gun­gen durch­aus auch zu einer Radi­ka­li­sie­rung füh­ren, wäre aber nicht zu wünschen.

Aber es gibt bereits eine Radi­ka­li­sie­rung, näm­lich »im Sin­ne« star­ker Poli­tik-Ein­flüs­se: Die Inten­si­tät, wie seit dem 24. Febru­ar die Medi­en­land­schaft auf eine Art »Kriegs­freu­de« ein­ge­schwenkt ist, war bemer­kens­wert. Dies war nicht nur bei Print- und Bild­re­dak­tio­nen des Groß­ka­pi­tals zu beob­ach­ten, son­dern auch bei den ÖR-Medi­en. Die aus­ge­wo­ge­ne Betrach­tung fehlt seit­dem; vie­le Fak­ten wur­den weg­ge­las­sen; das Eige­ne war immer rich­tig, die Gegen­sei­te nur bös­ar­tig. Kann so die Welt­po­li­tik objek­tiv dar­ge­stellt werden?

Bewer­tet man die genann­ten Zusam­men­hän­ge in ihrer Gesamt­heit, erscheint die EU als der gro­ße Ver­lie­rer der Zukunft – poli­tisch bereits jetzt, wirt­schaft­lich und sozi­al schon merk­lich, kriegs­sei­tig mit hohem Risi­ko, medi­al fehl­ge­lei­tet. Und die Bun­des­re­pu­blik mittendrin …