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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Mit Stephan Hermlin klug werden

Die­ser Tage erin­nert man sich wie­der mehr eines vor Jah­ren poli­tisch wir­ken­den Dich­ters. Rudolf Leder hieß er. Einer, der nicht zufäl­lig aus dem von jüdi­schem Unter­neh­mens­geist gepräg­ten Groß­bür­ger­tum des zutiefst säch­si­schen Chem­nitz kam. Der aus der Syn­ago­ge ver­ab­schie­de­te agi­le Vater und die bri­tisch-deut­sche Mut­ter – und nun der exem­pla­risch urdeut­sche Dich­ter­sohn Rudolf. Der sich das poe­tisch sti­li­siert wohl­klin­gen­de Pseud­onym Ste­phan Herm­lin gab. So wie aus dem Hel­mut Flieg aus der Nach­bar­schaft zur glei­chen Zeit ein Ste­fan Heym wur­de – und die Namens­li­ste jüdi­scher Intel­lek­tu­el­ler des 20.Jahrhunderts ergänz­ten. So vie­le Pro­mis die­ser Her­kunft, Musik­in­ter­pre­ten und lite­ra­risch-phi­lo­so­phi­sche Leit­fi­gu­ren glän­zen mit früh gefun­de­nen Originalnamen.

Bür­ger Rudolf Leder und Kunst­fi­gur Ste­phan Herm­lin: Früh in den Jah­ren des Zwei­fels ver­wan­del­te sich da einer zum Kom­mu­ni­sten edel­ster Cou­leur. Spä­ter konn­te die­ser im sanf­te­sten Abend­licht des Jahr­hun­derts selbst­be­wusst zwi­schen Dich­tung und Wahr­heit jon­glie­ren. Nach­dem er dem bru­tal instal­lier­ten Wunsch­staats­we­sen mar­xi­sti­scher Prä­gung intel­lek­tu­ell Glanz und Glo­ria ver­lie­hen hat­te, war er schließ­lich wer. Einer, der mut­voll sowie aka­de­misch sank­tio­niert Fäden der Ver­mitt­lung und der Bean­stan­dung zugleich spann­te. Das war mehr, als fort­wäh­rend zei­len­schin­dend die Bän­de der schrei­ben­den Zunft zu ver­meh­ren. Soll man ihm die Sei­ten­zahl der Nolls und Neu­tschs vor­hal­ten? Er hat­te, ver­folgt, jedoch fol­gen­reich vie­le Län­der durch­streift. All­sei­tig gebil­det, wur­de er nun von sei­nen Ver­fol­gern umso mehr bearg­wöhnt bis gehasst.

So konn­te ich, als gera­de die elf­te Klas­se des Kreuz­gym­na­si­ums Dres­den wie­der­ho­len­der, weil bereits künst­le­risch ori­en­tier­ter Ober­schü­ler, ihn und die Sei­nen fast pri­vat ken­nen­ler­nen. Das in »Stets erle­be ich das Fal­sche« detail­liert bei Heinz H. Schmidt Berich­te­te spiel­te sich im Som­mer 1949 in Hei­li­gen­damm ab. Mei­ne Eltern waren dort bereits eine Woche in illu­strer pro­mi­nen­ter Gesell­schaft son­nen und baden, als ich als Drit­ter dazu kam. Mein als wenig pro­fi­lier­ter Che­mi­ker unbe­kann­ter Vater war vol­ler Neu­gier in die Gesell­schaft von lau­ter gera­de aus dem West-Exil zurück­ge­kehr­ten Intel­lek­tu­el­len gera­ten. Am Mit­tags­tisch saßen Wolf­gang und Rena­te Lang­hoff plus, noch halb­wüch­sig, Tho­mas und Mat­thi­as Lang­hoff mit Ehe­paar Leder plus Töch­ter­lein Cor­ne­lia (spä­ter Schmaus). Dann sah ich mei­nen Vater nach dem Schach­match in regem Dis­put mit die­sem als aler­ter Fant auf­tre­ten­den Ste­phan Herm­lin. Der Dich­ter war auf den Spu­ren von Hein­rich Manns gera­de erschie­ne­nen Buch »Ein Zeit­al­ter wird besich­tigt« und reiz­te den bra­ven Bür­ger zum Widerspruch.

Das impo­nier­te mir in der Qua­li­tät der Argu­men­te. Die Begeg­nung der Exi­lan­ten mit den deut­schen Stamm­bür­gern barg genug Zünd­stoff. Vater Kretz­schmar, anfangs noch PG, hat­te immer­hin eine kriegs­wich­ti­ge Pro­duk­ti­on von Alu­mi­ni­um durch sei­ne nie rea­li­sier­te Erfin­dung neu­ar­ti­ger Bear­bei­tung von Ton­er­de ver­hin­dert. Nun stürz­te er sich nach Herm­lins Anre­gung in »Mate­ria­lis­mus und Empi­rio­kri­ti­zis­mus« von Lenin – und schrieb dazu ein klu­ges Essay. Und Sohn Kretz­schmar sand­te dem gera­de noch bestehen­den, von Herm­lin im Redak­ti­ons­kol­le­gi­um ver­zier­ten Ulen­spie­gel eine noch schüch­ter­ne Por­trät­ka­ri­ka­tur von Wolf­gang Lang­hoff. Her­aus­ge­ber Her­bert Sand­berg hat sie zwar nicht gedruckt, aber ein knap­pes Jahr­zehnt danach ver­bes­sert als Start­ka­ri­ka­tur im Eulen­spie­gel wie­der gefunden.

Den Dich­ter erleb­te ich mit sei­nem wohl­duf­ten­den Pfei­fen­schmauch bald da und dort. Ob im Post­scheck­amt oder auf Schrift­stel­ler­kon­gres­sen, bei Ver­nis­sa­gen oder Mati­neen – er war eine all­ge­gen­wär­ti­ge wür­di­ge Erscheinung.

Mei­ne auf­trag­ge­ben­den Eulen-Redak­teu­re rümpf­ten aller­dings die Nase ob sei­nes eli­tä­ren Auf­tre­tens. Wir dage­gen pfleg­ten im All­tag einen pro­le­ta­risch-rüden Umgangs­ton. Ich las sei­ne gera­de­zu klas­sisch geform­ten »Städ­te­bal­la­den« und die »Erste Rei­he« der Hel­den des Wider­stands gegen die Hit­le­rei. Und war von ihrer knap­pen Prä­zi­si­on ange­tan. Doch bald wur­de er als Aka­de­mie-Reprä­sen­tant viel wich­ti­ger. Als 1961 Fritz Cremer Harald Metz­kes und zehn ande­re jun­ge Maler mit einem ideo­lo­gi­schen Pau­ken­schlag aufs Tapet brach­te, setz­te der Dich­ter als sein Pen­dant als Aka­de­mie­se­kre­tär dann im Dezem­ber 1962 die­se Akti­vi­tät mit sei­ner groß­ar­ti­gen Lesung neu­er jun­ge Dicht­kunst fort. Er allein war es, der die umwäl­zen­de Start­pha­se der Vol­ker Braun, Karl Mickel, Bernd Jentzsch, Rai­ner und Sarah Kirsch und vie­len ande­ren bald maß­ge­ben­den Jun­gen initiierte.

Wolf Bier­mann war schon dabei und trat als klang­vol­ler Bar­de eige­ner Ver­se derb aufs gepfleg­te sozia­li­sti­sche Par­kett. Und hin­ter­ließ sofort eini­ge Schram­men am muster­gül­ti­gen Image. Die in der Fol­ge Schrecken ver­brei­ten­den regle­men­tie­ren­den »Maß­nah­men« des Repres­si­ons­ap­pa­ra­tes lie­fen am Ende ins Lee­re: Die zur Legen­de hoch gepusch­ten Acht­und­sech­zi­ger des Westens hat­ten ihre Vor­läu­fer schon Jah­re vor­her im Osten gefun­den. Denn Dich­tung ist da immer auch Wahr­heit. Die Wei­te­run­gen in die Rock­mu­sik und ihre pro­fi­lier­ten Band­grün­dun­gen hin­ein waren von sol­cher Tie­fen­schär­fe und Brei­ten­wir­kung, dass sie sogar inter­na­tio­na­le Beach­tung fan­den, obwohl meist deutsch gesun­gen wur­de. Und die gesun­ge­nen Tex­te waren nicht nur gespen­sti­sches Wort­ge­klin­gel. Was sang­bar war, erwies sich auch als lesbar.

Herm­lin war da schon nicht mehr gefragt – der Zug gewann ohne ihn an jugend­li­chem Tem­po und poli­ti­scher Bri­sanz. Immer­hin war dank sei­ner rigo­ro­sen Ver­tei­di­gung des kri­ti­schen Bier­mann-Auf­tritts das kul­tur­po­li­ti­sche Pro­fil des Par­tei-Zen­tral­or­gans Neu­es Deutsch­land bis in die komi­sche Zei­chen­kunst hin­ein seit April 1963 stark ver­än­dert. Publi­ka­tio­nen des Auf­bau Ver­la­ges ori­en­tier­ten sich dank sei­ner Ein­wir­kung auf die jun­gen Lite­ra­tur­ta­len­te in der Edi­ti­on »Neue Tex­te«. Er wur­de als deut­scher Sprach­pfle­ger wich­ti­ger. Man unter­schät­ze nicht sein 1976 von Hans Mar­quardt bei Reclam Leip­zig ver­leg­tes »Deut­sches Lese­buch«, das auf fast 600 Sei­ten sehr per­sön­lich, doch all­ge­mein­gül­tig Per­len deut­scher Spra­che von Luther bis Lieb­knecht sam­melt und son­diert. Inklu­si­ve Fried­rich Nietz­sche und Franz Kaf­ka. Das war in Zei­ten bereits markt­west­lich glo­ba­ler Ver­stümm­lung unse­rer Spra­che ein Bei­spiel geben­des Kom­pen­di­um. Ver­gleich­ba­re Bei­spie­le kann man mit der Lupe suchen. Klem­pe­rer sezier­te LTI als Nazi­ge­wächs. Wer tut denn Ähn­li­ches heu­te? Der Kern heu­te in deut­scher Spra­che geschrie­be­ner Bel­le­tri­stik scheint schon aus­län­di­sche Ver­fas­ser zu haben. Herm­lin nann­te dazu­mal sei­nem Publi­kum posi­ti­ve Muster. Als das Patei­chi­ne­sisch wucher­te, war es wohl notwendig.

1976 war der Novem­ber wie­der mal Schick­sals­mo­nat. Man hat offen­bar ver­ges­sen, dass der Dich­ter trotz sei­ner zufäl­li­gen Nähe zum Par­tei- und Staats­chef Erich Hon­ecker aus Zei­ten der Grün­dung der »Frei­en Deut­schen Jugend« der wohl­über­leg­te Aus­lö­ser der Pro­test­wel­le gegen die schockie­ren­de Aus­bür­ge­rung von Wolf Bier­mann war. Ohne das gro­ße Spek­ta­kel der Selbst­dar­stel­ler der inter­na­tio­na­len Medi­en­sze­ne. Wohl wis­send, dass das Gan­ze die Insze­nie­rung des Geheim­dien­stes zur Abstra­fung des über­mü­tig gewor­de­nen Günst­lings der wer­ten Gat­tin Mar­got Hon­ecker dar­stell­te. Eine pein­li­che Fami­li­en­far­ce, zum poli­ti­schen Gemet­zel tau­gend. Er ist die erste mora­li­sche Instanz gewe­sen, die das erkannt und bekannt hat. Und die Kul­tur­sze­ne war in aller Brei­te im Nu mobilisiert.

Heu­te gras­siert die Manie der Abwer­tung des Uner­wünsch­ten. Aber hat nicht die längst ver­ei­nig­te Aka­de­mie der Kün­ste eine Ver­ant­wor­tung dafür, dass der von die­sem Staat initi­ier­te und instal­lier­te Teil wahr­heits­ge­mäß erin­nert wird? Wie viel mehr die Ein­rich­tung der Mei­ster­schü­ler­schaft dazu­mal den Weg der her­an­wach­sen­den Künf­ti­gen ebne­te, als das heu­te auch nur annä­hernd mög­lich ist. Öffent­lich als Staats­dich­ter und kal­ter Pro­pa­gan­dist dis­kre­di­tiert gewe­sen zu sein, hat bezo­gen auf die­sen Dich­ter das Niveau der Denun­zia­ti­on. Was er zum Jubi­lä­um des von ihm 1945 mit gegrün­de­ten Auf­bau Ver­la­ges 1985 in sei­ner Fest­re­de sag­te, wider­legt das. Den pro­mi­nen­ten West­ver­le­ger Fritz Lands­hoff begrüß­te er genau­so herz­lich wie unse­ren offi­zi­ell bis­her uner­wünscht unge­druck­ten Jung­schrift­stel­ler Wolf­gang Hilbig.

Übri­gens war Herm­lins Chem­nit­zer Her­kunfts­ge­fähr­te Ste­fan Heym ungleich wirk­sa­mer und auf­fäl­li­ger als er. Das mag vor allem an der gehö­ri­gen Por­ti­on Witz und Geist als iro­ni­sche Unter­füt­te­rung des Lebens­wer­kes von Heym lie­gen, die dem genau zwei Jah­re Jün­ge­ren abging. Was das Ris­kie­ren öffent­li­chen kri­ti­schen Auf­tre­tens betraf, war der Kon­trast noch schär­fer. War das nur Cha­rak­ter­sa­che? Eigent­lich scha­de, da die Gro­ßen des lite­ra­ri­schen Jahr­hun­derts von Ber­tolt Brecht über Tho­mas Mann bis Gün­ter Grass auf die­se Wei­se sehr stark prä­sent waren. Sei­ne Aka­de­mie­kol­le­gen Erwin Stritt­mat­ter und Her­mann Kant waren da eben­falls nicht schüch­tern. Und zwar so, dass sie dar­auf­hin grob miss­ver­stan­den wur­den. Wie­so dann der auf so seriö­se Art Ver­stö­ren­de von diver­sen Kanail­len bis heu­te trotz­dem ver­un­glimpft wird, müs­sen die­se selbst wis­sen. Wir jeden­falls sind sicher, dass wir etwas an ihm haben.