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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Erinnerungen an Heinrich Hannover (I)

Der Tod des bun­des­weit bekann­ten Anwalts »der klei­nen Leu­te und ver­fem­ten Min­der­hei­ten«, Hein­rich Han­no­ver, weckt in mir star­ke Erin­ne­run­gen an beruf­li­che und per­sön­li­che Begeg­nun­gen sowie an gemein­sa­me Pro­jek­te. Ende der 1970er Jah­re habe ich Hein­rich Han­no­ver ken­nen- und schät­zen gelernt. Sein Ruf als uner­schrocke­ner Straf­ver­tei­di­ger und als Bre­mer Anwalt von Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rern, Kommunist:innen und wider­stän­di­gen Men­schen eil­te ihm vor­aus. Aber auch sein »Ruf« als »Ter­ro­ri­sten-Anwalt«, der ihm von sei­nen poli­ti­schen Geg­nern ver­passt wor­den ist.

Ich war Ende der 70er Jah­re gera­de nach Bre­men gekom­men und absol­vier­te in der Han­se­stadt mei­ne Aus­bil­dung als Gerichts­re­fe­ren­dar. Für die Anwalts­sta­ti­on bewarb ich mich in der Han­no­ver-Kanz­lei, wo ich tat­säch­lich auf­ge­nom­men wur­de. Beschäf­tigt war ich schwer­punkt­mä­ßig mit Aner­ken­nungs­ver­fah­ren von Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rern. Dabei lern­te ich Juri­ste­rei ken­nen, die pazi­fi­stisch aus­ge­rich­tet ist und die so zu einem wesent­li­chen Bestand­teil mei­ner Aus­bil­dung wur­de. Han­no­vers Kanz­lei lei­ste­te in jener Zeit mit die­sen Ver­fah­ren wich­ti­ge Pio­nier­ar­beit. Wobei sein Enga­ge­ment aus leid­vol­len Erfah­run­gen ent­sprang: Der Zwei­te Welt­krieg, an dem er im jugend­li­chen Alter von 17 Jah­ren als Sol­dat teil­ge­nom­men hat­te, ließ ihn aus die­sem Krieg als Pazi­fist und Anti­mi­li­ta­rist zurück­keh­ren, was er zeit­le­bens geblie­ben ist. Nicht ohne Genug­tu­ung resü­mier­te er spä­ter, sei­ne weit­ge­hend erfolg­rei­che juri­sti­sche Unter­stüt­zung von Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rern habe »die Bun­des­wehr sicher eine klei­ne Kano­ne gekostet«.

Nach dem zwei­ten juri­sti­schen Staats­examen und gleich zu Beginn mei­ner Berufs­tä­tig­kei­ten als Anwalt und Publi­zist Anfang der 1980er Jah­re geriet ich unmit­tel­bar in eine gewalt­tä­ti­ge Aus­ein­an­der­set­zung mit der Poli­zei. Bei mei­ner juri­sti­schen Gegen­wehr stand mir Hein­rich Han­no­ver anwalt­lich zur Sei­te. Was war pas­siert? Am 6. Mai 1980 hat­te Bre­men den Pro­test von 15.000 Men­schen gegen ein öffent­li­ches Rekru­ten­ge­löb­nis der Bun­des­wehr im Weser-Sta­di­on erlebt – ein mili­tan­ter Pro­test gegen Mili­ta­ri­sie­rungs­ten­den­zen, der als »Bre­mer Kra­wal­le« in die Geschich­te der Stadt ein­ging. Gewalt­sa­me Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit vie­len Ver­letz­ten, Stei­ne flo­gen auf Poli­zei­be­am­te, Bun­des­wehr­fahr­zeu­ge gin­gen in Flam­men auf – und ich war mit­ten­drin: nicht als Demon­strant, son­dern als Jour­na­list in mei­ner dama­li­gen Funk­ti­on als Bre­mer Redak­teur der Tages­zei­tung (taz).

Aus­ge­stat­tet mit einem offen getra­ge­nen Pres­se-Son­der­aus­weis der Pan­zer­gre­na­dier­bri­ga­de 32 ging ich an jenem Tag auch im Weser-Sta­di­on mei­ner Arbeit nach. Doch es dau­er­te nicht lan­ge, da umring­ten mich drei maus­graue Bun­des­wehr-Feld­jä­ger und ein Zivil­po­li­zist und ermahn­ten mich ein­dring­lich. Mein Ver­ge­hen: Ich hat­te die Fal­schen foto­gra­fiert – nicht Demon­stran­ten, die Stei­ne auf mit Hel­men und Pla­stik­schil­den geschütz­te Poli­zi­sten war­fen, son­dern Poli­zi­sten, die inner­halb des Sta­di­ons die Stei­ne auf­grif­fen und sie in die unge­schütz­te Men­schen­men­ge zurück­schleu­der­ten. Nach­dem ich trotz der Ermah­nung auf Pres­se­frei­heit und Beweis­si­che­rung poch­te und wei­ter foto­gra­fier­te, stürz­ten sich Feld­jä­ger unter »So, jetzt reicht’s«-Rufen auf mich, führ­ten mich im Arm­dreh­griff an einem Spa­lier gewalt­be­rei­ter Feld­jä­ger vor­bei, stie­ßen mich die Trep­pe hin­ab und über­ga­ben mich der Polizei.

Nun hoff­te ich auf bes­se­re Behand­lung, doch jetzt ging’s erst rich­tig los: Die Beam­ten hat­ten ein Spa­lier gebil­det, um mit mir – wie auch mit vie­len ande­ren – eine Art Spieß­ru­ten­lauf zu ver­an­stal­ten: Ich wur­de durch die Rei­hen gejagt, mit Trit­ten und Schlag­stöcken trak­tiert und an den damals noch recht lan­gen Haa­ren gezo­gen. Es dau­er­te eine hal­be Ewig­keit, bis ich am Ende des Spa­liers lie­gen blieb und Demon­stran­ten mich in Sicher­heit brachten.

Die­se Poli­zei­ge­walt im Weser-Sta­di­on beschäf­tig­te, dank Hein­rich Han­no­vers juri­sti­scher und rechts­po­li­ti­scher Inter­ven­ti­on, Pres­se­rat, Staats­an­walt­schaft und Poli­tik. Auch ande­re 6.-Mai-Geschädigte ver­trat er gegen unge­zü­gel­te Staats­ge­walt – aller­dings lei­der ohne juri­sti­sche Erfol­ge, denn die gewalt­tä­ti­gen Poli­zi­sten in Uni­form und unter Hel­men konn­ten nicht nam­haft gemacht wer­den, so dass letzt­lich nie­mand zur Ver­ant­wor­tung gezo­gen wer­den konn­te. Ein altes, bis heu­te nicht wirk­lich gelö­stes Pro­blem man­geln­der Kon­trol­le von Poli­zei und Polizeihandeln.

Mei­ne näch­sten Begeg­nun­gen mit Hein­rich Han­no­ver führ­ten ab Mit­te der 1980er Jah­re zu einem gemein­sa­men Pro­jekt: dem For­schungs­vor­ha­ben »Ter­ro­ri­sten und Rich­ter« am Ham­bur­ger Insti­tut für Sozi­al­for­schung. Als wis­sen­schaft­li­che Mit­ar­bei­ter hat­te er dafür die Jour­na­li­stin und Sozi­al­wis­sen­schaft­le­rin Mar­got Ove­r­ath und mich aus­ge­sucht. Mit die­sem Pro­jekt soll­te ein hoch­pro­ble­ma­ti­sches Kapi­tel bun­des­deut­scher Rechts­ent­wick­lung aus unter­schied­li­chen Blick­win­keln auf­ge­ar­bei­tet wer­den. Es ging im Kern um die sei­ner­zeit bereits zwei Jahr­zehn­te wäh­ren­de Ter­ro­ris­mus­be­kämp­fung und um die Fra­ge, wie die­se Ent­wick­lung die Bun­des­re­pu­blik, ihre par­la­men­ta­ri­sche Demo­kra­tie und den Rechts­staat ver­än­der­te. Wir such­ten Ant­wor­ten auf die Fra­ge, wie der Staat, wie die Staats­ge­wal­ten Legis­la­ti­ve, Exe­ku­ti­ve und Judi­ka­ti­ve mit der Bedro­hung durch die »Rote Armee Frak­ti­on« (RAF) umge­hen – und wie mit ihren Prot­ago­ni­sten bis hin zu den angeb­li­chen »Sym­pa­thi­san­ten«.

Aus die­sem mehr­jäh­ri­gen For­schungs­pro­jekt ist 1991 ein drei­bän­di­ges Werk her­vor­ge­gan­gen, das im VSA-Ver­lag Ham­burg erschie­nen ist: Im ersten Band »Ter­ro­ri­sten­pro­zes­se. Erfah­run­gen und Erkennt­nis­se eines Straf­ver­tei­di­gers« rech­net Hein­rich Han­no­ver mit der Poli­ti­schen Justiz der Bun­des­re­pu­blik ab, der er seit den 1950er Jah­ren mehr als drei Jahr­zehn­te lang Gerech­tig­keit abzu­trot­zen ver­such­te. Die zen­tra­le The­se sei­ner Arbeit, nach der es im poli­ti­schen Pro­zess nicht in erster Linie um Wahr­heits­fin­dung gehe, son­dern viel­mehr um Feind­be­kämp­fung, ent­wickel­te der Autor aus der Per­spek­ti­ve des teil­neh­men­den und damit auch betrof­fe­nen Beob­ach­ters, der er in sei­ner Funk­ti­on als poli­tisch bewuss­ter Straf­ver­tei­di­ger in sol­cher­art Straf­ver­fah­ren war.

Im zwei­ten Band »Das Anti-Ter­ror-System. Poli­ti­sche Justiz im prä­ven­ti­ven Sicher­heits­staat« unter­such­te ich die Ent­wick­lung des poli­zei­lich-geheim­dienst­lich-justi­zi­el­len Ter­ro­ris­mus-Son­der­rechts­sy­stems, das sich inzwi­schen ent­wickelt hat­te, und sei­ne gesell­schaft­li­chen Funk­tio­nen und Aus­wir­kun­gen. Aus­wir­kun­gen, die nach und nach die gesam­te links­ori­en­tier­te Oppo­si­ti­on bis hin­ein in die neu­en sozi­al- und umwelt­po­li­ti­schen Bewe­gun­gen (der 80er Jah­re) infil­trier­ten und die demo­kra­tisch-rechts­staat­li­che Ver­fasst­heit der Repu­blik mehr und mehr aushöhlten.

Im drit­ten Band »Dra­chen­zäh­ne. Gesprä­che, Doku­men­te und Recher­chen aus der Wirk­lich­keit der Hoch­si­cher­heits­ju­stiz« von Mar­got Ove­r­ath geht es um die am eige­nen Leib der unmit­tel­bar Betrof­fe­nen erfah­re­ne und erlit­te­ne Wirk­lich­keit der Poli­ti­schen Justiz in Zei­ten des Ter­rors und der Ter­ror­be­kämp­fung. Die­ser Band ist mit akti­ver Unter­stüt­zung von Betrof­fe­nen zustan­de gekom­men, von Ange­klag­ten, Ver­ur­teil­ten und deren Ver­tei­di­gern. Dabei geht es auch – am Bei­spiel ein­zel­ner Gerichts­ver­fah­ren – um die zahl­rei­chen ver­schärf­ten Son­der­be­din­gun­gen, die Ter­ro­ri­sten­pro­zes­se aus­zeich­nen und die rechts­staat­li­chen Prin­zi­pi­en strecken­wei­se infra­ge stellen.

Das drei­bän­di­ge Werk lie­fert ins­ge­samt Ant­wor­ten auf die Fra­gen, wel­che Aus­wir­kun­gen und Fol­gen die ver­schär­fen­den Rechts­än­de­run­gen und Auf­rü­stungs­maß­nah­men haben, die im Zuge der dama­li­gen Ter­ro­ris­mus­be­kämp­fung vor­ge­nom­men und voll­zo­gen wur­den – und die seit­dem, beson­ders seit 9/​11, mit meh­re­ren »Ter­ro­ris­mus­be­kämp­fungs­er­gän­zungs­ge­set­zen« noch aus­ge­wei­tet und wei­ter ver­schärft wor­den sind (zur wei­te­ren Ent­wick­lung: Gös­s­ner, »Men­schen­rech­te in Zei­ten des Ter­rors. Kol­la­te­ral­schä­den an der ›Hei­mat­front‹«, Ham­burg 2007, sowie »Daten­kra­ken im Öffent­li­chen Dienst. ›Lau­da­tio‹ auf den prä­ven­ti­ven Sicher­heits- und Über­wa­chungs­staat«, Köln 2021). Die Aus­wir­kun­gen haben den demo­kra­ti­schen Rechts­staat und die poli­ti­sche Kul­tur in die­sem Land jeden­falls in erheb­li­chem Maße nega­tiv beein­flusst – bis in die heu­ti­ge Zeit.

Hein­rich Han­no­vers Ver­dienst war es u. a., sol­che bür­ger­rechts­ge­fähr­den­den Ent­wick­lun­gen enga­giert und kri­tisch auf­ge­ar­bei­tet, ange­pran­gert und auf not­wen­di­ge Ände­run­gen gedrängt zu haben. Er hat damit das Bewusst­sein vie­ler Zeit­ge­nos­sen für staat­li­che Will­kür und unge­rech­te Zustän­de im Rechts­sy­stem geschärft. Nun ist Hein­rich Han­no­ver tot. Er starb am 14. Janu­ar 2023 im hohen Alter von 97 Jah­ren in Worps­we­de. Auch künf­ti­gen Gene­ra­tio­nen von Juri­sten, Anwäl­tin­nen und Straf­ver­tei­di­gern kann und soll­te sein jahr­zehn­te­lan­ges huma­ni­stisch-demo­kra­ti­sches, frie­dens­po­li­ti­sches und auf­klä­ren­des Wir­ken als Vor­bild dienen.

 Teil II der Erin­ne­run­gen von Rolf Gös­s­ner an Hein­rich Han­no­ver folgt in der näch­sten Aus­ga­be. Die­ser wird sich mit den lang­jäh­ri­gen rechts­po­li­ti­schen Bemü­hun­gen der bei­den beschäf­ti­gen, die Justiz­op­fer des Kal­ten Kriegs West­deutsch­lands end­lich zu reha­bi­li­tie­ren und zu entschädigen.