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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Rundum schöne Aussichten?

Unser Schiff hieß »Witt­stock«. Das Minen-Such- und -Räum­schiff (MSR) fuhr unter der Flag­ge der Volks­ma­ri­ne, ich war Steu­er­mann der »Witt­stock« und gele­gent­lich Teil einer Dele­ga­ti­on, die die Paten­stadt besuch­te. Wir fuh­ren gern in die Kreis­stadt im Nor­den des Bezir­kes Pots­dam. Auch wegen der vie­len hüb­schen Mäd­chen im Ober­tri­ko­ta­gen­be­trieb »Ernst Lück« (OTB), von denen wir stets freund­lich will­kom­men gehei­ßen wur­den. (Ein Bild die­ser vie­len selbst­be­wuss­ten jun­gen Frau­en kann man sich in Vol­ker Koepps Doku­men­tar­fil­men »Mäd­chen in Witt­stock« machen, die er damals über den Zeit­raum von zwan­zig Jah­ren zu dre­hen begann.) Der volks­ei­ge­ne Betrieb mit Kin­der­krip­pe und -gar­ten, Lehr­lings­wohn­heim, Betriebs­am­bu­lanz, Schwimm­hal­le und Sport­plät­zen et cete­ra beschäf­tig­te in sei­ner besten Zeit fast drei­tau­send Men­schen, dabei leb­ten in Witt­stock kei­ne fünf­zehn­tau­send. Mit einem betriebs­ei­ge­nen Fuhr­be­trieb wur­den die im Umkreis von hun­dert Kilo­me­tern leben­den Werk­tä­ti­gen zur Schicht geholt und wie­der nach Hau­se gefah­ren. Der OTB war der größ­te und gewiss auch modern­ste Betrieb im Kreis und den­noch der mit der läng­sten Tra­di­ti­on: Tuch­ma­cher gab es in Witt­stock seit 1325.

Vom VEB gibt es nur noch die Geschich­te. Die Treu­hand ver­scher­bel­te ihn 1990 an einen »Inve­stor«, der mach­te zwei Jah­re spä­ter dicht. So erging es auch dem Möbel­kom­bi­nat, das in der ehe­ma­li­gen Wegner’schen Tuch­fa­brik pro­du­zier­te. Auch dort hat­te sich der Inve­stor, gleich­falls ein win­di­ger Wes­si, vom Acker gemacht hat, nach­dem die För­der­mit­tel auf­ge­zehrt waren.

Die sechs­ge­schos­si­ge Rui­ne steht unüber­seh­bar jen­seits der Dos­se. Wäh­rend der Lan­des­gar­ten­schau hat man auf dem Werks­ge­län­de einen tem­po­rä­ren Park­platz ein­ge­rich­tet. Und auf einer Tafel erklärt: »Das zuletzt in der DDR als Möbel­fa­brik genutz­te Gebäu­de steht seit über zwei Jahr­zehn­ten leer. Als mar­kan­tes Wahr­zei­chen der ein­sti­gen Tuch­ma­cher­stadt ist es ein Denk­mal des Lan­des Bran­den­burg. Bis zum Jahr 2025 soll es reno­viert und zu einem Bil­dungs­zen­trum aus­ge­baut werden.«

Von April bis Okto­ber die­sen Jah­res lädt die Lan­des­gar­ten­schau unter der Zei­le »Rund­um schö­ne Aus­sich­ten« ein, und die Aus­sicht wird von eben jenem trau­ri­gen Anblick getrübt. Die Pla­stik mit Rie­sen­li­bel­len davor – sie muten wie Heu­schrecken an – wel­che Sym­bo­lik. Am Ende ver­ste­hen sie es, möch­te man mit Hacks ausrufen …

Trotz­dem: Ein Besuch der Bran­den­bur­ger Lan­des­gar­ten­schau lohnt. Zwi­schen der zwei­ein­halb Kilo­me­ter lan­gen Stadt­mau­er und den Bächen Dos­se und Glin­ze leg­ten die Pla­ner in bewuss­ter Erin­ne­rung an die Ver­gan­gen­heit ein far­bi­ges Tuch aus blü­hen­den Blu­men und Sträu­chern. Dazwi­schen oder dar­auf lässt sich ange­nehm fla­nie­ren und im Amts­hof, am Fuße des impo­san­ten Turms der alten Bischofs­burg, Unter­hal­tung von der Büh­ne oder Brat­wurst vom Grill genie­ßen. Auch die­ses Are­al ein­schließ­lich Bür­ger­mei­ster­haus und Bischofs­gar­ten wur­de für einen sie­ben­stel­li­gen Betrag eigens für die Lan­des­gar­ten­schau her­ge­rich­tet. Die Schau pflanzt sich fort bis zu St. Mari­en in der Alt­stadt, jener Bischofs­kir­che aus Back­stein, wel­che im 13. Jahr­hun­dert zu bau­en begon­nen wur­de und schon immer viel zu groß für die klei­ne Stadt war. Vor dem herr­li­chen Schnitz­al­tar blüh­ten im Mai Dut­zen­de Apfel­bäu­me in Kübeln, und Anwoh­ner hat­ten Blu­men­kör­be gespen­det, ihre Namen offen­bar­ten die Schil­der, die zwi­schen den Blü­ten spros­sen: Ruth und Käthe, Fami­lie Metz und Ute Zellmer …

Ich war, wie erwähnt, damals gern in Witt­stock. Und ich gebe frei­mü­tig zu: Die Stadt ist gegen­wär­tig gewiss anse­hens­wer­ter als damals. Aber was gaben wir dafür hin? Oder wie es heu­te immer heißt: Stimmt das Preis-Lei­stungs-Ver­hält­nis wirklich?