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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Wer spricht?

Das Ver­spre­chen: »Wir spie­len wei­ter« hat das Ham­bur­ger Schau­spiel­haus gehal­ten. Anders als geplant, fand die Pre­mie­re von Ödön von Hor­váths »Geschich­ten aus dem Wie­ner Wald« als Live­stream für ange­mel­de­te Zuschau­er statt. An mög­li­che wei­te­re »Geister«-Vorstellungen ist gedacht. Infos unter www.schauspielhaus.de.

Zum Stück. Die Regis­seu­rin Hei­ke M. Goet­ze (auch Büh­nen­bild und Kostü­me) – woll­te sie etwas ganz ande­res als der Autor? Den Ein­druck erweckt die Insze­nie­rung. Die erste Vier­tel­stun­de nur unde­fi­nier­ba­re Musik­fet­zen, mal ein schril­les Lachen. Es fällt kein Wort. Hor­váth woll­te mit sei­nem Stück zei­gen, was die Spra­che ver­schweigt oder unbe­wusst aus­drückt, und die Ver­lo­gen­heit, die sich in Flos­keln und Kli­schees offen­bart. Das ist die Situa­ti­on, die jene Zeit zwi­schen den Krie­gen – das Stück wur­de 1931 urauf­ge­führt – mit heu­te ver­bin­det. Wider­sprü­che zwi­schen dem, was die Per­so­nen sagen, und dem, was sie wol­len, mün­den in ein Ver­stum­men. Mit die­sem Schwei­gen beginnt das Theater.

Der Wie­ner Wald besteht aus ver­trock­ne­ten Bäu­men, die ver­kehrt her­um von der Decke hän­gen. Und aus Bän­ken. Und einem Wasch­becken, um sich rein­zu­wa­schen – auch von Blut, das beim Schlach­ten anfällt. Schwei­ne­hälf­ten lie­gen am Boden her­um. Mari­an­ne soll den Metz­ger­mei­ster Oskar hei­ra­ten, sie ist dann ver­sorgt und kann ihrem Vater, dem Zau­ber­kö­nig und Inha­ber des Spiel­wa­ren­la­dens, sein maro­des Geschäft ret­ten. Mari­an­ne macht hilf­lo­se Eman­zi­pa­ti­ons­ver­su­che: die rhyth­mi­sche Gym­na­stik – ein eige­nes Stu­dio bleibt Wunsch­traum. Statt­des­sen ver­liebt sie sich in Alfred, einen Striz­zi, der von einer Frau Mat­hil­de, Tabak-Tra­fik-Besit­ze­rin, aus­ge­hal­ten wird. Das Unheil nimmt sei­nen Lauf. Ein wich­ti­ges Büh­nen­bild­teil fehlt noch: das Klo. Es sitzt immer mal jemand drauf. Ist die Blut­wurst des Metz­gers Schuld?

Die sie­ben Schau­spie­ler sind unkennt­lich gemacht, mit blu­mi­gen Tüchern ver­hüllt, ohne Gesicht. Auch die bunt­be­druck­ten Kit­tel oder Mor­gen­män­tel geben kei­nen Hin­weis. Für die Zuschau­er las­sen sich die Stim­men schwer iden­ti­fi­zie­ren, wer spricht oder singt? Wie­ner Blut, dazu ein irrer Tanz – Ver­gnü­gen. Einer macht den Hit­ler-Gruß, ist es Erich aus Kas­sel, ein deut­scher Stu­dent? Die Ver­lo­bung von Mari­an­ne mit Oskar, dem Metz­ger, wird gefei­ert. Ein Hoch auf das Paar, »Heil«- und »Sieg-Heil«-Rufe – auch auf die noch kom­men­den deut­schen Kin­der. Die beschwip­ste Mat­hil­de ruft: »Nur kei­ne Neger« – nein, nicht in Ham­burg – nur bei Hor­váth. Hier, vom Bild­schirm tönt es dage­gen: »Nur kei­ne Fremd­län­der.« Wer spricht so? Das »Ras­sen­pro­blem« wird ange­tippt, schon ist die lusti­ge Gesell­schaft bei »Juden«. Nein, nur in Hor­váths Text – war­um nicht im Ham­bur­ger Stück? Nicht mehr zeit­ge­mäß? Auf Deutsch­lands Schul­hö­fen gern gebraucht.

Musik, Musik, die Donau. Aber auch Sex, ange­deu­tet. Immer mal wie­der hält sich einer das Gemächt. Der Vater Zau­ber­kö­nig nähert sich Mat­hil­de. Und Erich, der Deut­sche, will schie­ßen mit dem Luft­druck­ge­wehr. Pro­ben für das Preis­schie­ßen sei­nes aka­de­mi­schen Wehr­ver­ban­des. Er darf. Mat­hil­de macht mit und fragt: »Waren Sie auch Sol­dat?« Hier im Schau­spiel­haus fällt die gan­ze Sze­ne weg und – aus Schie­ßen wird: Schei­ßen. Sogar »Preis­schei­ßen« in die blaue Donau. Das Klo wäre gar nicht nötig gewe­sen, aber es sitzt schon wie­der jemand drauf.

Unter­des­sen übt Mari­an­ne den Auf­stand. Sie will sich nicht mehr tyran­ni­sie­ren las­sen. »Jetzt bricht der Skla­ve sei­ne Fes­seln«, ruft sie, gegen Oskar und den Vater gerich­tet. Oskar fühlt sich als Opfer, lamen­tiert. Mari­an­ne, Alfred anhim­melnd: »Du machst mich so groß und weit.« Sie will ein Kind von ihm. Wer weiß, ob sie nun zum Beich­ten geht, ein Beicht­va­ter steht nicht in der Beset­zungs­li­ste. Gespräch an den Herr­gott. Dann, an ande­rem Ort, der Metz­ger: »Wir müs­sen die Sau abste­chen.« Dabei fällt sei­nem Gehil­fen ein – als Trost gedacht: »Ein jeder Krüp­pel fin­det ein Weib. Die Wei­ber haben kei­ne See­le.« Und ein Wort über die »gest­ri­ge Blut­wurst«. Geplän­kel über Krieg, den es wie­der geben wird. »Krieg mit oder ohne Kul­tur«, denn »Krieg ist ein Natur­ge­setz«, weiß der Zau­ber­kö­nig. Krieg auch zwi­schen dem »in Tod­sün­de« zusam­men­le­ben­den Paar. »Ich bin eine geschla­ge­ne Armee«, Alfreds Bauch­ge­fühl, er, der nun auch nicht mehr zocken soll. Wovon leben?

All­ge­mei­nes Tan­zen – kein Wie­ner Wal­zer –, die Kame­ra­män­ner las­sen alles inein­an­der­flie­ßen. Da kommt ein Mäd­chen auf die Büh­ne, blond, im schwar­zen Gym­na­stik­dress. Ohne Mas­ke tanzt sie allein. Es ist Mari­an­ne. Sie spielt ihre Visio­nen. End­lich ein Mensch. Die andern sechs haben sich auf eine Bank gesetzt. Nur Mari­an­ne steht abseits. Drei Mona­te habe sie »geses­sen«, ver­rät der Klatsch. War­um, wird nicht ganz klar im Stück. Hat sie gestoh­len? Und das Kind? Dass Mari­an­ne im Tin­gel­tan­gel auf­ge­tre­ten sei – hier kein Thema.

Es kommt jemand in Jeans, mit roter Trump-Kap­pe – der Böse? Er über­bringt Mari­an­ne ein wei­ßes (Hochzeits-)Kleid, was sie über das schwar­ze Tri­kot zieht. Er hat noch mehr dabei: ein Mes­ser, eine Sprit­ze und ein Baby. Sie tut das, was ihr in der Ham­bur­ger Insze­nie­rung ange­dich­tet wird, sie tötet ihr Kind. Hor­váth sah es anders. Da gab es eine Groß­mutter, die das, was stör­te, besei­tig­te. Hier, viel Blut auf dem wei­ßen Kleid. Mari­an­ne bekennt, sie habe Gott gefragt, was er mit ihr vor­ha­be. Kei­ne Ant­wort. Und der Bubi? »Ist im Para­dies«, trö­stet Oskar und lako­nisch: »Gott gibt, und Gott nimmt.« Aber »Gott ist die Lie­be«. Dann kommt der Satz, sei­ne Vor­aus­sa­ge: »Du wirst mei­ner Lie­be nicht ent­ge­hen.« Mari­an­ne steht da, befleckt und gebrochen.