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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Zur Aktualität Willy Brandts

Vor 50 Jah­ren, Ende April 1972, ver­such­ten CDU/C­SU-Poli­ti­ker den Bun­des­kanz­ler Wil­ly Brandt durch ein Miss­trau­ens­vo­tum zu stür­zen und damit die Rati­fi­zie­rung der Ost­ver­trä­ge zu ver­hin­dern. Bereits kurz nach dem Amts­an­tritt der sozi­al-libe­ra­len Koali­ti­on hat­ten Brandts Staats­se­kre­tär Egon Bahr und der sowje­ti­sche Außen­mi­ni­ster Andrej Gro­my­ko erste Son­die­rungs­ge­sprä­che über ein Gewalt­ver­zichts­ab­kom­men auf­ge­nom­men. Für die SPD war die­se neue Ost­po­li­tik ein »Wan­del durch Annä­he­rung« – wäh­rend die CDU/C­SU-Füh­rung dar­in einen Ver­rat an der West­in­te­gra­ti­on sah. Doch der Ver­such, Wil­ly Brandt aus dem Kanz­ler­amt zu ver­drän­gen (und durch Rai­ner Bar­zel zu erset­zen), schei­ter­te – auch wenn nur zwei Stim­men fehlten.

Dabei spiel­te die Fra­ge, ob es bei die­sem knap­pen Abstim­mungs­er­geb­nis ille­ga­le Hin­ter­zim­mer­ak­ti­vi­tä­ten gege­ben habe, kei­ne Rol­le. Für das öffent­li­che poli­ti­sche Bewusst­sein am wich­tig­sten war, dass damals meh­re­re Hun­dert­tau­send Bür­ger für Wil­ly Brandt demon­strier­ten und streik­ten. Bernd Rother unter­sucht und beschreibt die­se heu­te fast ver­ges­se­nen Aktio­nen als eine der größ­ten spon­ta­nen Pro­test­wel­len in der Geschich­te der Bun­des­re­pu­blik. Die Aktio­nen ent­stan­den »von unten«, waren weder vom DGB noch von der SPD organisiert

Die größ­ten Pro­te­ste ereig­ne­ten sich im Ruhr­ge­biet, aber sie erfass­ten die gan­ze Bun­des­re­pu­blik, von Flens­burg bis Mün­chen – ins­be­son­de­re die Indu­strie­ar­bei­ter. Zusam­men­hän­gen­de oder ein­zel­ne histo­ri­sche Gesamt­dar­stel­lun­gen der Pro­test­ak­tio­nen von 1972 gibt es nicht. Des­halb erwie­sen sich für Rother »regio­na­le und über­re­gio­na­le Zei­tun­gen« und »die Druckerzeug­nis­se der diver­sen links­ra­di­ka­len Grup­pen« als die »aus­sa­ge­kräf­tig­sten Quel­len«. Doch wich­tig sind auch dama­li­ge Stel­lung­nah­men ein­fluss­rei­cher Intel­lek­tu­el­ler. So erklär­te der Nobel­preis­trä­ger Hein­rich Böll im Mai 1972, dass er Wil­ly Brandt »als Wun­der« betrach­te. Er sei der erste Regie­rungs­chef, der kein »Her­ren­volks­kanz­ler« sei. Aber die Fra­ge bleibt offen, war­um sich die poli­ti­sche Stim­mung nach dem Glücks­ge­fühl des Jah­res 1972 so schnell wandelte.

Für den Buch­au­tor Bernd Rother spie­gel­ten die April-Pro­te­ste »eine Mischung aus Angst und Hoff­nung: Angst vor dem Schei­tern der Ost­ver­trä­ge, vor einem Rück­fall in den Kal­ten Krieg und mehr noch vor dem Sturz der eige­nen Regie­rung; Hoff­nung auf siche­ren Frie­den und auf wei­te­re gesell­schaft­li­che Ver­än­de­run­gen zugun­sten der Arbeit­neh­mer, auf die Fort­set­zung der Ost- und Reform­po­li­tik«. Die Hoff­nun­gen hät­ten sich mehr auf die Per­son des Kanz­lers gerich­tet als auf die Zukunft sei­ner Partei.

Mit sei­nem Rück­tritt wegen der Spio­na­ge-Affä­re Guil­laume (1974) ver­schwand auch die popu­li­sti­sche Losung »Wil­ly Brandt muss Kanz­ler blei­ben«. Aller­dings blieb Brandt Par­tei­vor­sit­zen­der und wur­de 1976 zum Prä­si­den­ten der »Sozia­li­sti­schen Inter­na­tio­na­le« ernannt. Kurz vor dem Fall der Mau­er lob­te er die Reform­po­li­tik Gor­bat­schows als »eine ganz wich­ti­ge Sache, gera­de für das fried­li­che Zusam­men­le­ben der Mensch­heit«. So beru­fen sich SPD-Poli­ti­ker/in­nen auch heu­te noch mit ihrer »Ukrai­ne-Poli­tik« auf das Vor­bild Wil­ly Brandt, ohne auf die Ver­än­de­rung der Par­tei einzugehen.

Schon die Poli­tik und Lebens­ge­schich­te sei­nes Nach­fol­gers Hel­mut Schmidt offen­ba­ren kei­ne ein­heit­li­che sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Tra­di­ti­on. Brandt hat­te im Wider­stand gegen Hit­ler gekämpft und Schmidt dien­te als Offi­zier der Wehr­macht. »We agree to dis­agree« nann­te Brandt ihre gemein­sa­me Par­tei­zeit. Und im Win­ter 1982, nach sei­ner Abwahl als Bun­des­kanz­ler, schrieb Schmidt in einem per­sön­li­chen Brief an Brandt: »Wir sind eben tat­säch­lich seit einem Jahr­zehnt ver­schie­de­ner Mei­nung über Auf­ga­be und nöti­ge Gestalt der deut­schen Sozi­al­de­mo­kra­tie«. Und 2014, ange­sichts der ersten krie­ge­ri­schen Ukrai­ne-Kri­se, kri­ti­sier­te Schmidt den »Grö­ßen­wahn« der EU-Kom­mis­si­on, die Ukrai­ne »anglie­dern« zu wol­len. Aus sei­ner Sicht habe die EU in der Regi­on »nichts zu suchen«. Die »Poli­tik des Westens« basie­re »auf einem gro­ßen Irr­tum: dass es ein Volk der Ukrai­ne gäbe«.

So ähn­lich spre­chen auch heu­te noch Sozi­al­de­mo­kra­ten wie Stein­mei­er oder Gabri­el. Eine Son­der­rol­le nimmt der Ex-Kanz­ler Schrö­der ein, der durch sei­ne Putin-Freund­schaft ein super­rei­cher Olig­arch gewor­den ist. »Putin-Ver­ste­her« waren aber auch ehe­ma­li­ge CDU-Kanz­ler wie Kohl und vor allem Ange­la Mer­kel. Im Zen­trum der Kri­tik des ukrai­ni­schen Bot­schaf­ters Mel­nyk steht heu­te offen­bar die »trä­ge« mili­tä­ri­sche Unter­stüt­zungs­po­li­tik des Bun­des­kanz­lers Olaf Scholz. Die­ser mache es wohl »wie Ange­la Mer­kel« erklär­te er: »Erst mal abwar­ten, zuschau­en und irgend­wann spä­ter ent­schei­den – oder auch nicht. Was fehlt sind Fan­ta­sie und Mut.«

Und wie äußern sich die deut­schen Intel­lek­tu­el­len dazu? Der P.E.N. hat sich nicht auf eine gemein­sa­me Erklä­rung eini­gen kön­nen. Eine ande­re Grup­pe, zu der u. a. Ali­ce Schwar­zer, Mar­tin Wal­ser, Alex­an­der Klu­ge oder Juli Zeh gehö­ren, hat in einem »Offe­nen Brief« an Kanz­ler Scholz appel­liert, sei­ne ursprüng­li­che Träg­heit zu bewah­ren. Putin dür­fe kein Motiv für die Aus­wei­tung des Krie­ges auf die Nato gelie­fert werden.

Zu den zahl­rei­chen Gegen­stim­men gehört auch ein neu­er »offe­ner Brief« in der ZEIT, den unter ande­rem Dani­el Kehl­mann, Maxim Bil­ler, Eva Men­as­se, Ant­je Rávic Stru­bel, Ralf Füchs und/​oder Deniz Yücel unter­zeich­net haben. Sie spre­chen sich für eine ver­stärk­te Waf­fen­lie­fe­rung an die Ukrai­ne aus. Und es gibt auch Ein­zel­stim­men, die eine Aktua­li­sie­rung der Brandt­schen Ost- und Außen­po­li­tik for­dern. »Dazu soll­ten wir«, so der Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Micha­el Zürn, »ganz im Sin­ne Wil­ly Brandts Welt­ord­nung und Macht­po­li­tik, wer­te- und inter­es­sen­ge­lei­te­te Außen­po­li­tik nicht als Gegen­sät­ze ver­ste­hen. Sie gehö­ren zusam­men.« Ein ähn­li­cher Appell kam jüngst auch von dem 92-jäh­ri­gen Jür­gen Haber­mas: »Eine euro­päi­sche Uni­on, die ihre gesell­schaft­li­che und poli­ti­sche Lebens­form weder von außen desta­bi­li­sie­ren noch von innen aus­höh­len las­sen will, wird nur dann poli­tisch hand­lungs­fä­hig wer­den, wenn sie auch mili­tä­risch auf eige­nen Bei­nen ste­hen kann.« Die­se kla­ren Wor­te hät­ten auch von Wil­ly Brandt stam­men kön­nen, des­sen Ent­span­nungs­po­li­tik sich durch­aus mit Rüstungs­aus­ga­ben ver­bin­den ließ.

 Bernd Rother: Wil­ly Brandt muss Kanz­ler blei­ben. Die Mas­sen­pro­te­ste gegen das Miss­trau­ens­vo­tum 1972, Cam­pus Ver­lag Frankfurt/​New York 2022, 203 S., 26 €.