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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Kriegstaumel

Kein füh­ren­der Poli­ti­ker, kei­ne Poli­ti­ke­rin des Westens kann es sich erlau­ben, nicht nach Kiew zu pil­gern – eine heuch­le­ri­sche Sym­bol­po­li­tik. Denn sie hät­ten sich nicht erlau­ben kön­nen, nach Bag­dad oder Tri­po­lis oder Gaza zu fah­ren, als dort die Bom­ben fie­len. Poli­ti­ke­rIn­nen, die kei­ne schwe­ren Waf­fen lie­fern wol­len, vor einer dro­hen­den Eska­la­ti­on war­nen oder gar einen Ver­hand­lungs­frie­den anmah­nen, wer­den an den Pran­ger gestellt: Schwäch­ling, Lum­pen­pa­zi­fist! Die Grund­la­gen der Ent­span­nungs­po­li­tik von Egon Bahr und Wil­ly Brandt, also die gegen­sei­ti­ge Aner­ken­nung von Sicher­heits­in­ter­es­sen und die Über­win­dung der Kon­fron­ta­ti­on wer­den in einer histo­ri­schen Lüge zu Ursa­chen der Welt­macht­am­bi­tio­nen Russ­lands uminterpretiert.

In Nach­rich­ten und Kom­men­ta­ren wird der Bevöl­ke­rung ein­ge­häm­mert: Russ­land muss geschwächt und auf dem Schlacht­feld besiegt wer­den, und sei es in einem jah­re­lan­gen Krieg. Aus der taz, frü­her eine kri­ti­sche Zei­tung, schreit es: Die Ukrai­ne muss den Krieg gewin­nen! Erst die mili­tä­ri­sche Nie­der­la­ge Russ­lands eröff­net den Weg zu Frie­den für Euro­pa! Statt Ana­ly­sen und Frie­dens­kon­zep­ten wer­den Bekennt­nis­sen und gesin­nungs­ethi­sche Ver­dam­mung gelie­fert. Es herrscht ein bel­li­zi­sti­scher Über­bie­tungs­wett­be­werb. Deutsch­land ist Kriegs­par­tei und jede Schwä­chung unse­rer Kampf­mo­ral grenzt an Hochverrat.

Wer darf da noch an den US-Anspruch erin­nern, die ein­zi­ge Welt­macht zu sein und die­se Posi­ti­on mit allen Mit­teln von Lüge, Krieg und Hun­dert­tau­sen­den Toten zu ver­tei­di­gen? Ver­drängt wird die syste­ma­ti­sche Ein­krei­sung und Bedro­hung Russ­lands durch die Nato und durch unzäh­li­ge Manö­ver an sei­nen Gren­zen. Kein Gedan­ke an den Mai­dan-Putsch, das faschi­sti­sche Mas­sa­ker in Odes­sa, die 14 Tau­send Tote im Osten des Lan­des oder die anti­de­mo­kra­ti­sche Repres­si­on im Land. »Wir leben in einer Zei­ten­wen­de«, spricht der grü­ne Mini­ster­prä­si­dent Kret­sch­mann im Schat­ten der Pan­zer­hau­bit­ze 2000. Wir sind »in einer neu­en Zeit auf­ge­wacht« – hat er die Krie­ge des Westens verschlafen?

Das Kon­zept des impe­ria­li­sti­schen Vor­den­kers Brze­ziń­ski zur Aus­wei­tung glo­ba­ler US-Herr­schaft auch über Eura­si­en hat gesiegt. Putin hat einen völ­ker­rechts­wid­ri­gen Angriffs­krieg begon­nen. Aus sei­ner Sicht muss­te er nach meh­re­ren ver­geb­li­chen Ange­bo­ten für ein System gemein­sa­mer Sicher­heit, der Bedro­hung durch die Nato und dem geziel­ten Aus­bau der Ukrai­ne zu einem Boll­werk des Westens gegen Russ­land die Not­brem­se zie­hen. So falsch kann das nicht sein: Die Stu­die des regie­rungs- und mili­tär­na­hen US-Thinktanks »Rand Cor­po­ra­ti­on« von 2019 (Über­set­zung im Netz bei Anti Spie­gel) liest sich wie das Dreh­buch zur Schwä­chung und Zer­stö­rung Russlands.

»Mis­si­on accom­plished?« Russ­land ist im Unrecht, der Westen tri­um­phiert. Abrü­stung? Wer Frie­den will, muss den Krieg vor­be­rei­ten! Und es ist der (Schein-)Beweis erbracht, wer der Gute ist, Kriegs­ver­bre­chen und -ver­bre­cher gibt es nur beim Feind (das wis­sen wir seit Clin­ton, Bush, Oba­ma, Trump und Biden). Aber woher kommt die Kriegs­be­gei­ste­rung der Grü­nen und Tei­len der bür­ger­li­chen Mit­te, die bei den Krie­gen des Westens, den töd­li­chen Flucht­ver­su­chen der unter Krieg und Armut Lei­den­den nie auf die Idee gekom­men wären, nach dem Inter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­hof für die poli­tisch Ver­ant­wort­li­chen zu rufen, Boy­kott­maß­nah­men gegen die Olig­ar­chen des Westens zu for­dern, den Künst­lern und Sport­lern Bekennt­nis­se gegen die Kriegs­her­ren abzu­ver­lan­gen? Hat­ten sie die Lie­fe­rung schwe­rer Waf­fen für Kur­den oder Palä­sti­nen­ser gefor­dert, den Sieg Iraks ver­langt, als dort die US-Außen­mi­ni­ste­rin eine hal­be Mil­li­on Kin­der dem Boy­kott zu opfern bereit war?

Der hyste­ri­sche Bel­li­zis­mus ver­hin­dert jedes Nach­den­ken über Hin­ter­grün­de und Zusam­men­hän­ge des rus­si­schen Angriffs. Nar­ra­ti­ve vom Kampf für Frei­heit und Demo­kra­tie domi­nie­ren. Man teilt selbst­ge­rech­te mora­li­sche Ver­dik­te aus. Baer­bock, Hof­rei­ter und Co. las­sen sich von einer Über­iden­ti­fi­ka­ti­on mit der west­li­chen Wer­te­ge­mein­schaft lei­ten, denn sie kön­nen unmög­lich das System ableh­nen, von dem sie pro­fi­tie­ren und des­sen wich­tig­ste Mach­stüt­ze sie sind. Sie hal­ten die »kogni­ti­ve Dis­so­nanz« zwi­schen den Nar­ra­ti­ven von Frei­heit und Demo­kra­tie und der Rea­li­tät nicht aus. End­lich gibt es das offen­sicht­li­che Unrecht des rus­si­schen Angriffs­krie­ges, den sie mit aller Vehe­menz mora­lisch ver­ur­tei­len kön­nen. Die­se ein­sei­ti­ge, irra­tio­na­le Par­tei­nah­me und das unter­kom­ple­xe Gut/­Bö­se-Sche­ma füh­ren aber nicht nur zu einem undif­fe­ren­zier­ten Den­ken; das schlech­te Gewis­sen, von den Unge­rech­tig­kei­ten und Ver­bre­chen des Westens zu schwei­gen oder sogar zu pro­fi­tie­ren, drängt nach einer mora­li­schen Empö­rung und dem Bedürf­nis nach Stra­fe und Rache. Der Sieg über den Feind mutiert zum Sieg über die Heuchelei.

An den Macht­he­beln hat man der­weil mit Hil­fe mei­nungs­bil­den­der Medi­en von Angst- auf Hass­mo­dus umge­schal­tet und Tei­le der Rea­li­tät (Krie­ge, Ras­sis­mus, NSA-Über­wa­chung, Herr­schaft der Kon­zer­ne …) schlicht aus­ge­blen­det. Es geht nicht um Kri­tik (oder gar Selbst­kri­tik) an unde­mo­kra­ti­schen, auto­ri­tä­ren Syste­men; es geht um Feind­bil­der. (Lesens­wert dazu im Netz: »Wenn die ›guten Jungs‹ zen­sie­ren« von Alfred de Zayas, US-Völ­ker­recht­ler und ehe­ma­li­ger UN-Beam­ter.) Dafür muss Stim­mung erzeugt wer­den bis hin zum kal­ku­lier­ten Welt­krieg. Die Ukrai­ne als Figur auf dem Schach­brett der ein­zi­gen Super­macht über­lässt man lie­ber der Zer­stö­rung, statt Ver­hand­lun­gen und gegen­sei­ti­ge Sicher­heits­ga­ran­tien zu for­dern. Eine Ver­stän­di­gung erscheint in die­ser hoch emo­tio­na­len Stim­mung nicht mehr mög­lich, ver­langt wird nach Sieg, Kapi­tu­la­ti­on und Strafe.

Mög­li­cher­wei­se wird der über­wäl­ti­gen­de Sie­ges­zug gegen den Aggres­sor zum Pyr­rhus­sieg. Denn die neue Welt­ord­nung ist vol­ler Wider­sprü­che und Spal­tun­gen. Nicht die gan­ze Welt denkt so wie der »freie Westen«, zumal zahl­rei­che Län­der zu den Opfern genau die­ser »Frei­heit« gehö­ren. Und es gibt auch in Deutsch­land und in der EU zahl­rei­che Initia­ti­ven gegen den Krieg und die Waf­fen­lie­fe­run­gen, für dif­fe­ren­zier­te Ana­ly­sen, für Ver­hand­lungs­frie­den, Abrü­stung und ein neu­es System umfas­sen­der Sicher­heit. Die rus­si­schen »Ver­trags­ent­wür­fe für USA und Nato« vom Dezem­ber 2021 könn­ten dafür immer noch als Grund­la­ge dienen.