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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Zur Sozialen Frage in der Theologie

Im Andenken an das theo­lo­gi­sche Wir­ken von Hein­rich Peuck­mann (1949-2023)

Die »ret­ten­de Lie­be« muss das gro­ße Werk­zeug der Kir­che sein. So hat es Johann Hin­rich Wichern (1808 – 1881) vor ziem­lich genau 175 Jah­ren, also 1848, in einer mitt­ler­wei­le berühmt­ge­wor­de­nen Steg­reif­re­de anläss­lich des Kir­chen­ta­ges von Wit­ten­berg for­mu­liert. Die­se Rede wird gemein­hin als Geburts­stun­de der insti­tu­tio­nell ver­fass­ten Dia­ko­nie begrif­fen. Sie hat dem dia­ko­ni­schen Han­deln der Kir­che einen kla­ren Auf­trag gege­ben; ein Auf­trag, der immer mal wie­der mit einem neu­en Leit­bild ver­se­hen wur­de, der sich im Kern aber stets der geleb­ten Näch­sten­lie­be ver­pflich­tet hat. Dass man die­sem heh­ren Auf­trag pha­sen­wei­se nur höchst unzu­läng­lich nach­kam, zeigt aber auch die wech­sel­haf­te Geschich­te dia­ko­ni­scher Ein­rich­tun­gen – vor allem in der Zeit des Nationalsozialismus.

Doch ist die Dia­ko­nie – als ver­fass­te Insti­tu­ti­on und als geleb­te Pra­xis in den Gemein­den vor Ort – ein treff­li­ches Bei­spiel dafür, dass die Sozia­le Fra­ge – auch im spä­te­ren Sin­ne einer sozi­al­ver­träg­li­chen und gerech­ten Gesell­schaft – wesen­haft zur Gestalt und Pra­xis der Kir­che hin­zu­ge­hört. Das gilt unge­bro­chen bis heu­te. Und so ver­wun­dert es nicht, dass sich eben­falls die Theo­lo­gie als kri­tisch refle­xi­ve Wis­sen­schaft der Grund­la­gen und Prak­ti­ken des reli­giö­sen Glau­bens mit die­sem The­ma ein­ge­hend beschäf­tigt hat. Ein beson­de­rer Höhe­punkt die­ser Beschäf­ti­gung fällt mit den gesell­schaft­li­chen Umbruch­zei­ten der 1968er Jah­re und ihren Nach­wir­kun­gen zusam­men. An den Uni­ver­si­tä­ten wird der Fun­ke einer neu­en – herr­schafts­frei­en (J. Haber­mas) – Dis­kur­s­kul­tur ent­zün­det, der als­bald auf wei­te Tei­le der Gesell­schaft über­springt. In der Kir­che steht der »1000-jäh­ri­ge Muff unter den Tala­ren« kri­tisch auf dem Prüf­stand, sodass sich suk­zes­si­ve ein neu­es Pfarr­bild her­aus­kri­stal­li­siert. An den theo­lo­gi­schen Fakul­tä­ten erhält ein neu­er Geist Ein­zug; der Geist der aus Latein­ame­ri­ka stam­men­den Befrei­ungs­theo­lo­gie, die sich selbst als »Stim­me der Armen« versteht.

Vor die­sem Hin­ter­grund ist es ver­ständ­lich, dass die Sozia­le Fra­ge gera­de in die­ser Zeit deut­lich wahr­nehm­bar in das Zen­trum theo­lo­gi­schen Den­kens und Wir­kens rückt. Und die­se Beob­ach­tung gilt für alle Fach­be­rei­che der Theo­lo­gie; für die Bibel­wis­sen­schaft, die Kir­chen­ge­schich­te, die phi­lo­so­phi­sche und die prak­ti­sche Theologie.

Eben in die­sen Jah­ren hat mein Vater Hein­rich Peuck­mann, der sich auch hier in die­ser Zeit­schrift regel­mä­ßig bis zu sei­nem Tod im Früh­jahr die­ses Jah­res zu gesell­schaft­li­chen, poli­ti­schen oder auch lite­ra­ri­schen The­men geäu­ßert hat, sein Stu­di­um der Evan­ge­li­schen Theo­lo­gie in Bochum auf­ge­nom­men. Er hat Theo­lo­gie in einer Zeit stu­diert, die durch­drun­gen war von gesell­schaft­li­chen Umbrü­chen, sozi­al­po­li­ti­schen Neu­aus­rich­tun­gen und einer befrei­ungs­theo­lo­gi­schen Auf­bruchs­stim­mung. All dies hat Aus­druck dar­in gefun­den, dass auch er die Sozia­le Fra­ge – die Fra­ge nach dem sozi­al­ver­träg­li­chen und gerech­ten Mit­ein­an­der – in sei­ner eige­nen Theo­lo­gie und sei­nem theo­lo­gi­schen Wir­ken reso­lut ins Zen­trum gestellt hat.

In der Öffent­lich­keit ist Hein­rich Peuck­mann vor allem mit lite­ra­ri­schen Tex­ten und sei­nem kul­tur­po­li­ti­schen Wir­ken her­vor­ge­tre­ten. Dass er sich auch als Theo­lo­ge ver­ein­zelt zu Wort gemel­det hat, geht in der Fül­le sei­ner Arbeit fast unter; viel­leicht liegt es auch dar­an, dass die­se theo­lo­gi­schen Tex­te größ­ten­teils in die Anfangs­zeit sei­nes schrift­stel­le­ri­schen Schaf­fens fal­len. Einer die­ser theo­lo­gi­schen Tex­te wur­de 1991 beim Asso­ver­lag unter dem Titel »Lei­se Wor­te, frem­des Land« ver­öf­fent­licht. Dar­in fin­det sich ein Essay, der sehr deut­lich in der Tra­di­ti­on einer poli­ti­schen Theo­lo­gie steht, die sich for­dernd aber auch per­spek­ti­ven­wei­tend der Sozia­len Fra­ge ver­pflich­tet. Der Essay ist mit einem Bibel­wort aus dem Deu­te­ro­no­mi­um – dem 5. Buch Mose – über­schrie­ben: Es wird bei Dir kei­ne Armen geben.

Hein­rich Peuck­mann geht in sei­nem Gedan­ken­gang der scharf­zün­gi­gen und unnach­gie­bi­gen Sozi­al­kri­tik des Pro­phe­ten Amos nach. Der Essay knüpft damit an eine bibli­sche Figur an, die von der uni­ver­si­tä­ren Theo­lo­gie in den 1970er und 1980er Jah­ren viel Auf­merk­sam­keit erfah­ren hat, was eben auch damit zusam­men­hängt, dass Amos als eine Art per­so­ni­fi­zier­tes Sym­bol der Sozia­len Fra­ge auf­ge­fasst wur­de. Die­ser Spur folgt der Essay, der sich sodann der Fra­ge zuwen­det, war­um die Sozi­al­kri­tik des Amos der­art radi­ka­le Aus­wüch­se annimmt. Hein­rich Peuck­mann wählt für die Beant­wor­tung die­ser Fra­ge den Weg über das inner­bi­bli­sche Gespräch. »Amos ist (…) auf dem Hin­ter­grund der altis­rae­li­ti­schen Sozi­al­ord­nung zu sehen.« Damit ist der Brücken­schlag von die­sem Pro­phe­ten­buch zum Pen­ta­teuch – den fünf Büchern Mose; auch Tora genannt – gewagt. Die altis­rae­li­ti­sche Sozi­al­ord­nung, über deren fak­ti­sche Exi­stenz in der theo­lo­gi­schen Wis­sen­schaft kon­tro­vers debat­tiert wird, zeich­net ein Modell, das den Pri­vat­be­sitz als etwas tem­po­rär Anver­trau­tes begreift. Und in die­ser zeit­li­chen Begren­zung ist auch die Begren­zung eines wirt­schaft­li­chen Wachs­tums eines Ein­zel­nen ein­ge­wo­ben. Irgend­wann wird alles wie­der auf null gesetzt, alles wird wie­der neu, gleich und gerecht ver­teilt, und alle Schul­den, die sich bis dahin auf­ge­türmt haben, wer­den erlas­sen. Peuck­mann hält die­ser bibli­schen Uto­pie das Spie­gel­bild der Welt nach dem Fall des Eiser­nen Vor­hangs vor: Tem­po­rär anver­trau­ter Pri­vat­be­sitz und Kapi­ta­lis­mus, erlas­se­ne Schul­den und Ver­bind­lich­kei­ten des glo­ba­len Südens, Natur als Selbst­wert und als wirt­schaft­li­che Ressource.

Der skiz­zen­haft vor­ge­stell­te Essay ist mehr als drei Jahr­zehn­te alt; sei­ne Beob­ach­tun­gen sind nach wie vor aktu­ell. Die­se Aktua­li­tät hängt wohl damit zusam­men, dass die Sozia­le Fra­ge unge­bro­chen aktu­ell ist. Mich hat die­ser Befund bei der Lek­tü­re des Tex­tes zu der Fra­ge geführt, wie die wis­sen­schaft­li­che Theo­lo­gie heu­te mit die­sem The­ma und den damit ein­her­ge­hen­den Her­aus­for­de­run­gen umgeht.

Eine der­ar­ti­ge Zen­tral­stel­lung, wie sie noch in den 1970er Jah­ren teil­wei­se zu beob­ach­ten war, nimmt die­se Fra­ge heu­te zwei­fels­oh­ne nicht mehr im theo­lo­gi­schen Den­ken ein. Und doch hat sie in mei­ner Wahr­neh­mung kaum an Strahl­kraft und Rele­vanz ein­ge­büßt. Der Dis­kurs ist zwar lei­ser gewor­den und hat zugleich in gewis­ser Wei­se an Schär­fe ver­lo­ren. Dies hängt auch mit einem gewan­del­ten Ver­ständ­nis von poli­ti­scher Theo­lo­gie, die sich ganz bewusst nicht als poli­tik­be­trei­ben­de Theo­lo­gie ver­ste­hen möch­te, zusam­men. Unpo­li­tisch ist die heu­ti­ge Theo­lo­gie aber kei­nes­wegs. Sie nimmt die Sozia­le Fra­ge nicht mehr durch die Bril­le eines pro­phe­ti­schen Wäch­ter­am­tes (M. Luther) wahr; sie sucht viel­mehr tastend den Weg in einen plu­rif­or­men Dis­kurs, der nicht sel­ten ergeb­nis­of­fen die schwer zu fas­sen­den Phä­no­me­ne der Gesamt­the­ma­tik umreißt. Dies führt gleich­zei­tig dazu, dass sich der inner­theo­lo­gi­sche Dis­kurs wei­ter auf­fä­chert. So ist die Sozia­le Fra­ge heu­te fest ver­wur­zelt in den Debat­ten zu Ras­sis­mus­kri­tik, post­ko­lo­nia­ler Theo­lo­gie, öko­lo­gi­scher Nach­hal­tig­keit, femi­ni­sti­scher Theo­lo­gie, Sozi­al­ethik, Frie­dens­for­schung, Inklu­si­on, par­ti­zi­pa­ti­ver Kir­che und vie­lem mehr.

In all die­sen wich­ti­gen und gleich­sam her­aus­for­dern­den Berei­chen und The­men spielt die Sozia­le Fra­ge in abstra­hier­ter und aktua­li­sier­ter Form nach wie vor eine tra­gen­de Rol­le. Im Blick steht der Auf­trag einer geleb­ten Näch­sten­lie­be, die den Weg in eine gerech­te­re, freie­re, fried­vol­le­re und nach­hal­ti­ge­re Welt ebnen soll. Die­ser Fokus ist auch in der aka­de­mi­schen Theo­lo­gie als der kri­tisch refle­xi­ven Wis­sen­schaft der Grund­la­gen und Prak­ti­ken des reli­giö­sen Glau­bens behei­ma­tet. Zum Scharfs­tel­len eben die­ses Fokus ist der Blick zurück in die Theo­lo­gie­ge­schich­te mit ihrer pha­sen­wei­se stark poli­ti­schen Akzen­tu­ie­rung immer hilf­reich. Nichts Ande­res haben auch jene Abhand­lun­gen und Essays gemacht, wenn sie sich vom uto­pi­schen und nicht sel­ten hoff­nungs­vol­len Poten­zi­al bibli­scher Bil­der inspi­rie­ren lie­ßen. Auch sie haben den Blick zurück dazu genutzt, den Fokus der eige­nen Gedan­ken­gän­ge scharf­zu­stel­len; mit­un­ter auch den Fokus der Zeit, in die sie hin­ein­ge­spro­chen haben. Dass die­se Wor­te über jenen zeit­li­chen Hori­zont auch hin­aus­rei­chen, ver­deut­licht, welch gro­ßes Poten­zi­al den bibli­schen Tex­ten inne­wohnt. Ihre Uto­pien sind zeit­los, sodass sie in jeder Zeit immer wie­der aufs Neue Denk­an­stö­ße geben und eine Per­spek­tiv­wei­tung ermög­li­chen. Und so blei­ben die­se bibli­schen Visio­nen nach wie vor Gesprächs­part­ner für unse­re Zeit; Gesprächs­part­ner, an die immer wie­der erin­nert wer­den darf: Nur frei­lich, es wird bei Dir kei­ne Armen geben (5. Mose 15,4).

Zum Nach­le­sen: Hein­rich Peuck­mann, Es wird bei Dir kei­ne Armen geben, in: Ders., Lei­se Wor­te, frem­des Land, Mün­ster 1991 Ober­hau­sen, S. 9-17.

Niklas Peuck­mann, Dr. theol., ist Wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter am Insti­tut für Reli­gi­on und Gesell­schaft an der Ruhr-Uni­ver­si­tät Bochum und Pfar­rer in der Evan­ge­li­schen Kir­chen­ge­mein­de Kamen.