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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Recht in unserer Zeit

Arti­kel 3 Abs. 1 unse­res Grund­ge­set­zes bestimmt: »Alle Men­schen sind vor dem Gesetz gleich.«

Sind sie es in der Pra­xis wirk­lich immer? Die­se Fra­ge­stel­lung hat den Juri­sten und Jour­na­li­sten Ronen Stein­ke beschäf­tigt, und er hat dazu Unter­su­chun­gen durch­ge­führt. Sein Anlie­gen war es, »über sozia­le Unge­rech­tig­keit in der Straf­ju­stiz« zu informieren.

Der Autor stellt ver­schie­de­ne Pro­blem­krei­se vor, die im Straf­pro­zess eine Rol­le spie­len. Das sind zum einen die Bedeu­tung der Ver­tei­di­ger und zum ande­ren die Lebens­um­stän­de der Ange­klag­ten und deren Wider­spie­ge­lung bei der Urteils­fin­dung. Erläu­tert wird das System der Geld­stra­fen, die Wir­kun­gen von Unter­su­chungs­haft und die unter­schied­li­che Umgangs­wei­se mit Per­so­nen, die sich Delik­ten aus dem Bereich der soge­nann­ten »wei­ßen-Kra­gen-Kri­mi­na­li­tät« schul­dig gemacht haben, und sol­chen Ange­klag­ten, die nur mit Mühe ihren Lebens­un­ter­halt bestrei­ten kön­nen und deren Delik­te dem­ge­mäß oft bei Dieb­stahl oder Raub zu fin­den sind.

Das Buch ist ein her­vor­ra­gen­der Aus­flug in die Pra­xis deut­scher Straf­ge­richts­bar­keit. Stein­ke räumt mit weit ver­brei­te­ten Vor­ur­tei­len auf, wie bei­spiels­wei­se, dass jeder, der es ver­lan­gen wür­de, Anspruch auf einen Pflicht­ver­tei­di­ger habe und auf die­se Wei­se nicht ohne Bei­stand vor Gericht steht. Doch die gesetz­li­chen Vor­aus­set­zun­gen hier­für sind streng gere­gelt und lie­gen nur bei einem Bruch­teil der betrof­fe­nen Fäl­le vor. Auf eine finan­zi­el­le Bedürf­tig­keit kommt es dabei nicht an. Der Bedürf­ti­ge geht des­halb oft leer aus, weil er sich einen Wahl­ver­tei­di­ger nicht lei­sten kann. Er weiß nicht, was ihn erwar­tet, wie die Abläu­fe sind und wel­che Mög­lich­kei­ten er hat, um sich gegen die Kla­ge zur Wehr zu set­zen. Dem­ge­gen­über ste­hen rei­che Ange­klag­te, die mit­un­ter mit zwei oder gar drei Anwäl­ten vor Gericht erschei­nen, um dadurch nicht nur beson­de­ren Ein­druck zu machen, son­dern auch um das Gericht nach­hal­ti­ger von der eige­nen Posi­ti­on zu über­zeu­gen. Nicht immer gelingt das. Wenn die Din­ge schlecht ste­hen, sind die Betei­lig­ten auf­ge­schlos­se­ner dafür, einen »Deal« – der Gesetz­ge­ber spricht von »Ver­stän­di­gung« – zu fin­den. Lan­ge Zeit war die­ser Bereich eine Grau­zo­ne, die sich all­mäh­lich ent­wickel­te und erst vor eini­gen Jah­ren Ein­gang in die Straf­pro­zess­ord­nung fand.

In Bezug auf die Urteils­fin­dung sind die Erkennt­nis­se von Stein­ke, dass fami­liä­re Pro­ble­me die Stra­fe häu­fig ungün­stig beein­flus­sen und mit­tel­lo­se Ange­klag­te häu­fi­ger ver­däch­tigt wer­den, gewerbs­mä­ßig Straf­ta­ten zu bege­hen. Bei Gewerbs­mä­ßig­keit gilt ein höhe­rer Straf­rah­men, wes­halb die­se Ein­schät­zung nicht unbe­deu­tend ist. Nicht sel­ten wird einem Arbeits­lo­sen eine ungün­sti­ge Sozi­al­pro­gno­se beschei­nigt, womit die Aus­sich­ten auf die Ver­hän­gung einer Frei­heits­stra­fe zur Bewäh­rung ungün­stig beein­flusst wer­den. Das erin­ner­te mich dar­an, dass ich in mei­ner 35-jäh­ri­gen Pra­xis als Straf­ver­tei­di­ger auch schon erleb­te, wie eine Staats­an­wäl­tin in ihrem Straf­an­trag bei einem Erst­tä­ter, der in der Regel bei Stra­fen unter­halb von einem Jahr Frei­heits­stra­fe Anspruch auf eine Straf­aus­set­zung zur Bewäh­rung hat, for­mu­lier­te: »Der lun­gert nur zu Hau­se ‹rum, dann kann er auch in Haft!« Die­se Form des Vor­ur­teils hat­te natür­lich hef­ti­ge Dis­pu­te vor Gericht zur Fol­ge, das sich der Auf­fas­sung der Anklä­ge­rin am Ende nicht anschlie­ßen mochte.

Geld­stra­fen wer­den in Deutsch­land nach Tages­sät­zen ver­hängt. Die Anzahl der Tages­sät­ze stellt die eigent­li­che Stra­fe dar. Die Höhe eines jeden Tages­sat­zes, soll 1/​30 des monat­li­chen Net­to­ein­kom­mens des Ange­klag­ten ent­spre­chen. Für den Emp­fän­ger von Sozi­al­lei­stun­gen wer­den oft 20 € Tages­satz­hö­he ange­setzt, was bei 50 Tages­sät­zen bereits zu 1000 € Geld­stra­fe führt. Das schafft Pro­ble­me für jeman­den mit 600 € Monats­ein­kom­men. Wer 10.000 € monat­lich ver­dient, muss zwar 333 € Tages­satz­hö­he zah­len, wird dies aber in der Gesamt­schau eher ver­schmer­zen kön­nen. Hin­zu kommt, dass auch Drit­te für einen Ver­ur­teil­ten die Geld­stra­fe über­neh­men dür­fen, und nie­mand danach fragt, aus wel­cher Quel­le die­ses Geld eigent­lich stammt. Der Bedürf­ti­ge fin­det in der Regel sel­ten jeman­den, der für ihn eintritt.

Für Stein­ke war ein sol­cher Fall gera­de Anstoß für das von ihm ver­fass­te Buch. Der Chef eines gro­ßen Auto­kon­zerns muss­te im Rah­men einer straf­ge­richt­li­chen Geld­auf­la­ge einen Betrag von 4,5 Mil­lio­nen € zah­len, ohne sein eige­nes Porte­mon­naie bela­sten zu müs­sen. Das Unter­neh­men zahlt und kann den Betrag als Betriebs­aus­ga­be auch noch steu­er­lich gel­tend machen. Wer nur über beschei­de­ne Mit­tel ver­fügt, kommt eher in die Situa­ti­on, eine Geld­stra­fe nicht zah­len zu kön­nen. Wird ihm auch kei­ne Raten­zah­lung gewährt, oder kann er kei­ne gemein­nüt­zi­ge Arbeit lei­sten, droht ihm die Umwand­lung in eine Ersatz­frei­heits­stra­fe. Er muss dann zwar nicht mehr zah­len, aber sich ent­spre­chend der Tages­satz­an­zahl für eini­ge Zeit in eine Justiz­voll­zugs­an­stalt bege­ben. Dass sein Auf­ent­halt dort für den Steu­er­zah­ler erheb­lich mehr Aus­ga­ben mit sich bringt, braucht an die­ser Stel­le sicher nicht näher beleuch­tet zu werden.

Der Autor befasst sich auch mit wei­te­ren Pro­ble­men aus der Welt der Schwäch­sten und der dort mit­un­ter anzu­tref­fen­den »Elends­kri­mi­na­li­tät«, wie er das nennt. Es lohnt sich, die­se Kapi­tel genau­er anzu­se­hen. Der Ver­fas­ser belässt es nicht dabei, Kri­tik an der Justiz und ihrer Pra­xis zu üben, son­dern unter­brei­tet auch Vor­schlä­ge zur Ver­bes­se­rung. An erster Stel­le steht die For­de­rung nach mehr finan­zi­el­len Mit­teln für die Justiz. Dies wür­de auch die Bereit­stel­lung von Pflicht­ver­tei­di­gern für alle Ange­klag­ten – ein­her­ge­hend mit einer ent­spre­chen­den Geset­zes­än­de­rung – ermög­li­chen, und zwar bereits ab einem frü­hen Sta­di­um des Ermitt­lungs­ver­fah­rens. Ein sol­ches ist immer bela­stend für den Betrof­fe­nen, und es dau­ert oft lan­ge bis es zu einer Ankla­ge­er­he­bung kommt. Bei früh­zei­ti­ger Ein­schal­tung eines Ver­tei­di­gers kann die Kla­ge mit­un­ter sogar abge­wen­det wer­den. Er spricht sich für fai­re Geld­stra­fen für Arme aus, die Ent­kri­mi­na­li­sie­rung von Dro­gen­kon­sum sowie die Abschaf­fung der Mög­lich­keit der Ver­hän­gung von Straf­be­feh­len. Letz­te­re sind eine Art Urteil im schrift­li­chen Ver­fah­ren ohne Haupt­ver­hand­lung und nach Akten­la­ge. Gern wird die­se Mög­lich­keit gewählt, wenn die Beweis­la­ge ein wenig »schwam­mig« ist. Man­che Ange­klag­te akzep­tie­ren auch einen unter Umstän­den nicht gerecht­fer­tig­ten Straf­be­fehl, weil sie nicht vor Gericht erschei­nen möch­ten, und vor allem auch, weil ein mög­li­cher Ein­spruch gegen den Straf­be­fehl in der Haupt­ver­hand­lung zu einer höhe­ren Stra­fe füh­ren kann. Das schreckt ab. Der eine oder ande­re ver­passt auch die Ein­spruchs­frist. Ist der Straf­be­fehl erst ein­mal rechts­kräf­tig, kann man kaum noch etwas dage­gen aus­rich­ten, weil die Mög­lich­kei­ten einer nach­träg­li­chen Ent­schul­di­gung (Wie­der­ein­set­zung in den vori­gen Stand) sehr streng gere­gelt sind und ein Wie­der­auf­nah­me­ver­fah­ren an noch höhe­re gesetz­li­che Hür­den gebun­den ist

Das Buch ist zwei­fel­los eines von meh­re­ren, die in den letz­ten Jah­ren sich beson­ders kri­tisch mit der Pra­xis des Straf­pro­zes­ses aus­ein­an­der­set­zen. Den­noch hebt es sich durch sei­ne deut­li­che Benen­nung der Schwach­stel­len und eine eben­so kla­re Spra­che von ande­ren ab. Es kann des­halb nur nach­hal­tig zur Lek­tü­re emp­foh­len wer­den, nicht nur für Betrof­fe­ne, weil für die­se die Erkennt­nis­se oft zu spät kämen.

Ronen Stein­ke: Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich – Über sozia­le Unge­rech­tig­keit in der Straf­ju­stiz, Ber­lin Ver­lag 2022, 272 S., 20 €.