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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Eine Novelle aus Gedichten

Natür­lich haben Gedicht und Novel­le nicht viel mit­ein­an­der zu tun. Beim Lesen des Tex­tes »Luft­kreuz« von Fritz Mar­tin Bar­ber, ver­se­hen mit dem prä­ten­tiö­sen und eher nichts­sa­gen­den Unter­ti­tel »Eine Novel­le aus dem Lan­de Lau« drängt sich die­se Bezie­hung aber auf. Es ist, als läse man die Gedich­te wie­der, die Bar­ber, einer der Prot­ago­ni­sten der Lyrik- und Poe­ten­be­we­gung der DDR, in den Sieb­zi­ger­jah­ren, einst im »Poe­sie­al­bum 234« (Ver­lag Neu­es Leben, Ber­lin, 1987) erschei­nen ließ.

Die Gedich­te Bar­bers im Bänd­chen sind Gebil­de mit recht skur­ri­len Inhal­ten, und der Autor einer kur­zen Ein­füh­rung (Wal­fried Har­tin­ger) win­det sich bei­na­he, indem er das Auf­bre­chen von Ver­kru­stun­gen betont, auch die Gegen­ar­beit zu »einer prag­ma­ti­schen, unre­flek­tier­ten, phan­ta­sie- und humor­lo­sen Sinn­ge­bung des Lebens«. Ins­ge­samt sei­en die Gedich­te Ein­la­dun­gen »zu mehr Auf­merk­sam­keit gegen­über dem Leben«. Obwohl sol­che Flos­keln gern benutzt wer­den, um Unbe­ha­gen zu kaschie­ren, sind die Befun­de zutreffend.

Wor­um geht es? Bes­ser: Um wen geht es? Um einen Lau­sit­zer (»Land Lau«) Mann, ver­hei­ra­tet mit einer Frau aus Schlei­fe. Er baut immer grö­ßer wer­den­de Modell­flug­zeu­ge, sei­ne Frau muss ins Kran­ken­haus, er holt sie aber nicht wie­der ab, son­dern ver­schwin­det. Eines sei­ner Flug­mo­del­le bleibt in einem Baum hän­gen. »Was ist das für ein Haken­kreuz oben in den Kie­fern im Tage­bau­vor­feld?, frag­te der Jun­ge den För­ster nun schon zum drit­ten Mal. Kla­re Fra­ge, kei­ne Ant­wort. Was soll der För­ster sagen, wenn er es nicht weiß.« Natür­lich ist eine Lau­sit­zer Geschich­te nicht ohne Tage­baue, näher rücken­de Bag­ger, Umsied­lungs­plä­ne, Kraft­wer­ke am Hori­zont und Ger­hard Gun­der­mann zu den­ken – und von allem gibt es reichlich.

Das Gedicht »Radel 2« im Poe­sie­al­bum 234 endet so: »Ich habe kei­ne Lust auf mei­nen Tod«. Die­sen Vers könn­te man über jeden der ins­ge­samt 42(!) Text­ab­schnit­te – soll man sie Kapi­tel oder Novel­len­teil­ge­dich­te nen­nen? – set­zen. Denn, obwohl zer­klüf­tet, sprung­haft und karg erzählt: Es ent­steht eine fas­zi­nie­ren­de Schil­de­rung Lau­sit­zer Lebens, die eine tie­fe, ver­ständ­nis­vol­le Kennt­nis von Land und Leu­ten offen­bart. Das für die Novel­le so gern gefor­der­te »uner­hör­te Ereig­nis« ist wohl, dass die­se Geschich­ten über­haupt erzählt wer­den, wobei es uner­heb­lich ist, ob die Lebens­läu­fe oder Moment­auf­nah­men der Fan­ta­sie ent­sprun­gen sind oder sich wirk­lich ereig­net haben: Sie sind sämt­lich über­zeu­gend, weil sie nicht nur abbil­den, son­dern den Leser gleich­sam zum Teil der Ereig­nis­se machen.

Fritz Mar­tin Bar­ber (1954 bis 2021) war Dra­ma­turg an der Hoch­schu­le für Film und Fern­se­hen in Pots­dam-Babels­berg, Regis­seur und Doku­men­tar­film­au­tor. Die vor­lie­gen­de Novel­le ist sein Debüt als Pro­sa­au­tor. Man merkt den Tex­ten die »fil­mi­schen« Bestre­bun­gen sei­nes Autors an, was ihnen zu ganz eige­nem Humor ver­hilft. Ein wun­der­schö­nes Bei­spiel ist Nr. 6 »Auto­bahn­stau«: Wäh­rend Pro­te­stie­rer Pap­peln erklim­men, staut sich auf der A15 der Ver­kehr, dar­in ste­hen ein Mann vom Fern­stra­ßen-Bun­des­amt aus Ber­lin, der zu einem Semi­nar »Staub­ver­mei­dung, Stau­be­glei­tung« nach Cott­bus unter­wegs ist, und ein Mann vom Luft­fahrt-Bun­des­amt aus Braun­schweig, der sich um das Flug­wrack aus den Kie­fern küm­mern soll. Obwohl sie sich nicht ken­nen, ist ihr Urteil jeweils ein­deu­tig: »Scheiß Lau­sitz«. Eigent­lich, denkt der eine, soll­te man die Lau­sitz als Zwerg­staat aus der Auf­sicht der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land ausgliedern.

Dann kämen wir frei­lich um die schö­nen Geschich­ten, die sich, sei es nun geschil­der­te Ver­gan­gen­heit oder Gegen­wart, nur im jetzt »geein­ten« Land ereig­nen konn­ten und können.

Ein wenig stö­rend sind im Text­fluss die zahl­rei­chen Anspie­lun­gen und Zita­te, die bei dem eher schma­len Buch einen Anmer­kungs­ap­pa­rat von fast drei Sei­ten nötig machen. Sonst aber liest man bei­na­he natu­ra­li­stisch genau erzähl­tes Leben, Bio­gra­fien und Ereig­nis­se, wie sie typisch sind für jenen Land­strich, in dem sich mit dem geplan­ten Koh­le­aus­stieg wie­der alles umwäl­zen wird und in dem die Men­schen viel­leicht doch immer die Glei­chen blei­ben, Lau­sit­zer eben.    

Fritz Mar­tin Bar­ber: Luft­kreuz. Eine Novel­le aus dem Lan­de Lau, Mit­tel­deut­scher Ver­lag 2023, 168 S., 20 €.