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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Alles Giga

Eine Giga­fac­to­ry nach US-ame­ri­ka­ni­schem Muster, in US-ame­ri­ka­ni­schen Dimen­sio­nen und in US-ame­ri­ka­ni­schem Tem­po errich­tet am Ran­de einer klei­nen, beschau­li­chen und grü­nen Gemein­de beschäf­tigt nicht nur die Gemü­ter der Anwoh­ner. Erwar­tun­gen wer­den eben­so geweckt wie Befürch­tun­gen. Arbeits­plät­ze ent­ste­hen, auf die in ganz Euro­pa und vor allem vor Ort, im Land­kreis, in Deutsch­land und Polen spe­ku­liert wird. Die Zulie­fe­rer­in­du­strie ver­spricht sich neu­en Schwung, wäh­rend die ande­ren gro­ßen Auto­bau­er zit­tern. Und Grün­hei­de? Ist Grün­hei­de noch grün, wenn die vol­le Pro­duk­ti­on läuft?

Die Bericht­erstat­tung dar­über ist üppig. Aber ist sie auch tief­grün­dig und wahr? Die vie­len hun­dert Sei­ten von Tes­la selbst, die regel­mä­ßig, wenn wie­der eine Nach­bes­se­rung erfolgt ist, der Öffent­lich­keit ein­sich­tig sind, um ihr die Mög­lich­keit für Ein­wen­dun­gen zu bie­ten, kann kaum einer bewäl­ti­gen, der nicht Fach­mann auf den ver­schie­den­sten Gebie­ten ist, ange­fan­gen vom Bau­we­sen über Che­mie bis zur Was­ser­wirt­schaft und Ver­kehrs­lo­gi­stik. Man ist als Bür­ger auf Pres­se, Rund­funk und Fern­se­hen ange­wie­sen und hofft, in jedem neu­en Bericht auch etwas Neu­es zu fin­den, das hilft, die poli­ti­schen, öko­no­mi­schen, öko­lo­gi­schen und sozio­lo­gi­schen Vor­gän­ge rund um den Bau die­ses Auto­wer­kes zu verstehen.

Der stu­dier­te Thea­ter­wis­sen­schaft­ler und Phi­lo­soph Wolf­gang Bau­ern­feind, der auch jour­na­li­stisch tätig ist, hat nun im Mit­tel­deut­schen Ver­lag ein Buch vor­ge­legt unter dem Titel »Tes­las Giga­fac­to­ry. Fluch oder Segen?«. Das Fra­ge­zei­chen bedeu­tet, dass Ant­wor­ten gesucht wer­den. Es sind genau die Fra­gen, die von den Kri­ti­kern immer wie­der gestellt wer­den: Sind Kli­ma­schutz, Wohl­stand und Schaf­fung von Arbeits­plät­zen ver­ein­bar? Sind Elek­tro­au­tos über­haupt ein Weg, die Umwelt zu ret­ten? Die Ant­wor­ten sucht Bau­ern­feind auf sau­be­rem jour­na­li­sti­schem Weg, indem er sich vor Ort begibt und vom Stu­den­ten bis zum Mini­ster, vom Fach­mann bis zum ein­fa­chen Bür­ger mit Namens­nen­nung, vom hei­ßen Befür­wor­ter bis zum hart­näcki­gen Kri­ti­ker die Leu­te dazu inter­viewt. Nur an die Haupt­fi­gur, an Musk, ist er eben­so wenig ran­ge­kom­men wie an das »Schwei­ge­kar­tell der Ein­ge­weih­ten«. Alle ande­ren haben ihm Mei­nun­gen mit­ge­teilt, Mei­nung reiht sich an Mei­nung, inter­es­sant, jedoch eben nur Mei­nung, kei­ne Beweis­füh­rung. Ent­stan­den ist – auch mit Hil­fe der öffent­li­chen und sozia­len Medi­en – eine schon fast span­nen­de Repor­ta­ge aus der Ich-Per­spek­ti­ve, eine kurz­wei­lig, leicht ver­ständ­lich erzähl­te Chro­nik, die jeder seriö­sen Regio­nal­zei­tung alle Ehre machen wür­de. Er, der Jour­na­list, ist dabei nur der Beob­ach­ter am Ran­de, der anschau­lich, zuwei­len auch iro­nisch, Stim­mun­gen schil­dert, Per­so­nen­cha­rak­te­ri­sti­ken lie­fert und sei­ne eige­nen Gedan­ken und Wer­tun­gen dabei tun­lichst aus­klam­mert: Chro­nik der Bau­ge­schich­te mit all ihren Wid­rig­kei­ten von außen, nicht vom Insi­der oder gar Exper­ten. Nur sel­ten äußert sich ver­steck­te Kri­tik, etwa wenn er sei­ne »Akten­ein­sicht im Rat­haus von Grün­hei­de« mit der Fest­stel­lung kom­men­tiert, dass Zusi­che­run­gen, Maß­nah­men zu Ver­min­de­rung oder Aus­gleich von Beein­träch­ti­gun­gen »auf den Leser wie eine unver­bind­li­che Absichts­er­klä­rung, die der Antrag­stel­ler sich abge­run­gen hat«, wir­ken. Auch man­che Dop­pel­zün­gig­kei­ten von Poli­ti­kern wer­den ent­larvt, zum Bei­spiel beim Tes­la-Befür­wor­ter Axel Vogel, Bran­den­burgs Land­wirt­schafts­mi­ni­ster der Grü­nen: »Böden sind zusam­men mit Was­ser und Luft unse­re wich­tig­sten Lebens­grund­la­gen. Sie sind ein begrenz­tes und nicht ver­mehr­ba­res Gemein­schafts­gut mit lebens­wich­ti­gen Funk­tio­nen für uns Men­schen und die Öko­sy­ste­me«, hat er anläss­lich des Welt­bo­den­ta­ges gesagt. »Gilt das nicht auch für Grün­hei­de?«, fragt sich und uns der Buch­au­tor. Wert­voll sind – als »High Noon im Speck­gür­tel« – die Wort- und Situa­ti­ons­pro­to­kol­le der öffent­li­chen Erör­te­rung in der Stadt­hal­le von Erkner am 23. Sep­tem­ber 2020 als acht­zehn­tes von 55 Kapi­teln. In die­ser Wei­se sind sie wohl noch nicht all­ge­mein zugäng­lich ver­öf­fent­licht wor­den. Die Pro­to­kol­le las­sen den Leser ver­mu­ten – und das ist vom Autor sicher beab­sich­tigt –, dass bewusst Tak­ti­ken der Ver­zö­ge­rung und der Erschwer­nis der Zugäng­lich­keit ange­wandt wur­den, um einer sach­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung aus­wei­chen zu können.

Wirk­lich Neu­es bie­tet das Buch nicht. Auch kei­ne Ant­wor­ten auf die vor­an­ge­stell­ten Fra­gen. Im Gegen­teil. Das Pro­blem des Aus­spie­lens von glo­ba­lem Kli­ma­schutz gegen loka­len Umwelt­schutz scheint er gar nicht zu erken­nen, und wie­so es funk­tio­nie­ren kann, dass ein Bau­en ohne Geneh­mi­gun­gen mög­lich ist, wäh­rend jeder klei­ne Häus­le­bau­er mas­si­ve Pro­ble­me bekommt, wenn sein Schup­pen nur etwas grö­ßer gerät als geplant, wird nicht ange­spro­chen. Aber das Buch lie­fert bei­den Sei­ten genü­gend Argu­men­te, um mun­ter mit­re­den zu kön­nen im Mei­nungs­streit über Fak­ten, die dem Bür­ger von oben vor­ge­setzt werden.

Wolf­gang Bau­ern­feind, Tes­las Giga­fac­to­ry. Fluch oder Segen? Mit Foto­gra­fien von Albrecht Köh­ler, Mit­tel­deut­scher Ver­lag 2022, 264 S., 20 €.