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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Über einen glücklichen Steinewälzer

Frei­pass 6. Es ist der letz­te Band in die­ser bemer­kens­wer­ten Rei­he, die­ses Mal ganz Gün­ter Grass gewid­met, aus Anlass des 95. Geburts­ta­ges, den er am 16. Okto­ber die­ses Jah­res hät­te fei­ern können.

Seit dem Früh­jahr 2015 erschien im Ch. Links Ver­lag, Ber­lin, das Jahr­buch der Gün­ter und Ute Grass Stif­tung als »Forum für Lite­ra­tur, Bil­den­de Kunst und Poli­tik«. Gemein­sam stell­te das Stif­ter­ehe­paar den ersten Band auf der Leip­zi­ger Buch­mes­se vor, vier Wochen spä­ter, am 13. April 2015, starb Gün­ter Grass. Ute Grass starb am 24. April 2021 im Alter von 85 Jah­ren. Die Kon­zep­ti­on für den gera­de erschie­ne­nen Band konn­ten das Ver­lags­team, die Her­aus­ge­ber und der Redak­teur noch mit ihr abstimmen.

Gün­ter Grass hat­te schon 2014 bei der Pla­nung der Rei­he »vehe­ment dar­auf bestan­den, dass es neben Bei­trä­gen der lite­ra­tur­wis­sen­schaft­li­chen For­schung zu sei­nem Werk stets auch ein essay­isti­sches Schwer­punkt­the­ma geben soll­te, um wich­ti­gen, aber nur noch wenig beach­te­ten Autorin­nen und Autoren ein Podi­um zu bie­ten. Außer­dem soll­ten unter der Rubrik ›Zun­ge zei­gen‹ aktu­el­le poli­ti­sche The­men kon­tro­vers behan­delt wer­den, frei nach dem Mot­to ›Der Spra­che den Frei­paß geben, damit sie lau­fe …‹, wie es in sei­ner Erzäh­lung Das Tref­fen in Telg­te heißt« (Chri­stoph Links).

Ossietzky hat über die Jah­re hin­weg die ein­zel­nen Bän­de und ihre Schwer­punkt­the­men – zu Irm­traud Morg­ner, Hein­rich Böll, der Revol­te von 1968, dem Zeich­ner Horst Jans­sen und dem Dich­ter Paul Celan – vor­ge­stellt, zuletzt in Aus­ga­be 22/​2021 (»Von Kampf­fi­schen und guten Freunden«).

Band 6 bün­delt noch ein­mal, was sei­ne Vor­gän­ger aus­zeich­ne­te. Um es vor­weg­zu­sa­gen: Wer sich für den Schrift­stel­ler, Bild­hau­er, Maler und Gra­fi­ker Gün­ter Grass inter­es­siert, kommt an die­sem Band nicht vor­bei, auch, weil er mit einem Pau­ken­schlag beginnt.

Erin­nern Sie sich an den Grass-Roman Ein wei­tes Feld aus dem Jahr 1995? Theo­dor Fon­ta­ne hat­te die­se For­mel dem Vater von Effi Briest, einem kon­ser­va­ti­ven Guts­herrn und Rit­ter­schafts­rat, in den Mund gelegt, Grass hat sie in Anspie­lung auf Fon­ta­ne zum Titel sei­nes Buches gemacht: »Wir vom Archiv nann­ten ihn Fon­ty«, steht da zu lesen. Hil­ke Ohso­ling ist auch so eine vom Archiv. Von 1995 bis 2015 war sie Sekre­tä­rin von Gün­ter Grass, seit 2011 ist sie Geschäfts­füh­re­rin der Gün­ter und Ute Grass Stif­tung, Lübeck. Im Archiv des Grass-Hau­ses in Lübeck fand sie eine bis dato unbe­kann­te »Legen­de« des Schrift­stel­lers mit dem Titel Figu­ren­ste­hen, deren erste hand­schrift­li­che Fas­sung sie abschrieb und die nun im Frei­pass auf 15 Sei­ten erst­mals ver­öf­fent­licht ist.

Grass spielt dabei mit der Ver­mi­schung von Zeit­ebe­nen, nichts Unge­wöhn­li­ches bei ihm. An sei­nem gro­ßen Ess­tisch ver­sam­melt er die früh­go­ti­schen Stif­ter­fi­gu­ren des Naum­bur­ger Doms und ihren Bild­hau­er sowie die jun­ge Frau, die für die Uta Modell gestan­den hat. Spä­ter tref­fen wir sie in der Gegen­wart wie­der, beim unbe­weg­li­chen Figu­ren­ste­hen, wie wir es von Plät­zen und Fuß­gän­ger­zo­nen in gro­ßen Städ­ten ken­nen. Die Erzäh­lung endet mit einem Knalleffekt.

Wei­te­re Fund­stücke aus ande­ren Archi­ven kom­plet­tie­ren die­sen Teil, neue Tage­buch­no­ti­zen zur Ent­ste­hung der Blech­trom­mel zum Bei­spiel oder ein bis­her unbe­kann­tes Kapi­tel zu Oskar Mat­zer­ath.

Einen wei­te­ren Schwer­punkt bil­det das vor 50 Jah­ren erschie­ne­ne Tage­buch einer Schnecke, von den Frei­pass-Her­aus­ge­bern als »Sprach­kunst­werk« gerühmt und von Uwe Schüt­te (Uni­ver­si­tät Göt­tin­gen) als »Schlüs­sel­text und Angel­punkt sei­nes Wer­kes« gedeu­tet. Grass beschrieb dar­in – zwar fik­tiv, aber den tat­säch­li­chen Ereig­nis­sen nach­ge­zeich­net – sein Enga­ge­ment für die Es-Pe-De und für Wil­ly Brandt von 1969 bis 1972.

Unter den Bei­trä­gen zur Grass-For­schung ist aus poli­ti­scher Sicht der Text von Frie­de­ri­ke Staus­berg über das poli­ti­sche Kon­zept für die Ber­li­ner Repu­blik von Inter­es­se, wie es Gün­ter Grass dem desi­gnier­ten Par­tei­vor­sit­zen­den der SPD, Björn Eng­holm, vor­stell­te. Eng­holm, der am 29. Mai 1991 in Bre­men mit mehr als 97 Pro­zent der Dele­gier­ten­stim­men zum Par­tei­vor­sit­zen­den gewählt wur­de, war am 17. Dezem­ber 1990 vom SPD-Prä­si­di­um als Nach­fol­ger von Hans-Jochen Vogel nomi­niert wor­den. Schon kur­ze Zeit spä­ter, am zwei­ten Weih­nachts­fei­er­tag, kam es zu dem infor­mel­len Gespräch: »Als enga­gier­ter Zeit­ge­nos­se such­te der Künst­ler – um Ein­fluss auf die Poli­tik zu neh­men – den unmit­tel­ba­ren Kon­takt zu einem poli­ti­schen Akteur, um ihn zu beraten.«

Mit Björn Eng­holm stand Grass seit Anfang der 1980er Jah­re in gutem, freund­schaft­li­chem Kon­takt. Legen­där waren die von ihnen über mehr als ein Jahr­zehnt zwei­mal jähr­lich abge­hal­te­nen Wewels­fle­ther Gesprä­che, die bun­des­wei­te Beach­tung fan­den. (W. ist eine klei­ne Gemein­de im Kreis Stein­burg in Schles­wig-Hol­stein und liegt an der Stör, die dort in die Elbe fließt.)

Der Gesprächs­fahr­plan des Schrift­stel­lers ist als Fak­si­mi­le wie­der­ge­ge­ben. Der Sprech­zet­tel umfass­te fol­gen­de Poli­tik­be­rei­che: Deutsch­land­po­li­tik 1989/​1990, Deutsch­land­po­li­tik nach der Wen­de, Asyl­po­li­tik, Rot-Grü­ne Innen­po­li­tik, Außen­po­li­ti­sche Sicher­heit, Kul­tur­po­li­tik. In all die­sen Fel­dern trat Grass als For­dern­der auf. Aller­dings waren die sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Hand­lungs­mög­lich­kei­ten ein­ge­schränkt. In Ber­lin regier­te das Kabi­nett Kohl aus CDU, CSU und FDP, die aus der ersten gesamt­deut­schen Bun­des­tags­wahl seit der Wie­der­ver­ei­ni­gung als Sie­ger her­vor­ge­gan­gen waren. Über die Reak­ti­on Björn Eng­holms in die­sem Gespräch macht der 15 Buch­sei­ten umfas­sen­de Text kei­ne Anga­ben. Viel­leicht glich sie ja der Reak­ti­on Weh­ners, wie sie ein Kari­ka­tu­rist im Jah­re 1969 sah, im Frei­pass neben ande­ren Kari­ka­tu­ren zu Grass abge­druckt. Unter­zei­le: G.G. »ent­wirft gera­de eine neue Par­tei­stra­te­gie«. Wäh­rend­des­sen stützt Onkel Her­bert Pfei­fe rau­chend den Kopf in die Hand, und über den Häup­tern der Bei­den sam­melt sich dich­ter Qualm.

Als immer mehr Asyl­su­chen­de in Deutsch­land anka­men, als in der Bevöl­ke­rung die ableh­nen­de Stim­mung eska­lier­te, betrie­ben die Regie­rungs­par­tei­en die Neu­re­ge­lung des Asyl­rechts, um die Mög­lich­keit ein­zu­schrän­ken, sich erfolg­reich auf das im Grund­ge­setz ver­an­ker­te Recht auf Asyl beru­fen zu kön­nen. Am 6. Dezem­ber 1992 stimm­te die Par­tei­füh­rung der SPD dem Kom­pro­miss zu, im Mai 1993 beschloss der Bun­des­tag die das Grund­ge­setz ändern­de Neu­re­ge­lung. Da war es schon fünf Mona­te her, dass Grass sein SPD-Par­tei­buch unter Pro­test zurück­ge­ge­ben hat­te. In der vor­her­ge­hen­den Asyl­de­bat­te, die als eine der »schärf­sten, pole­misch­sten und fol­gen­reich­sten Aus­ein­an­der­set­zun­gen der deut­schen Nach­kriegs­ge­schich­te« gilt (Wiki­pe­dia), hat­te Grass an vor­der­ster Front gestanden.

Grass trat nicht mehr in die SPD ein, blieb den Sozi­al­de­mo­kra­ten aber ver­bun­den und mach­te Ende der 1990er Jah­re wie­der Wahl­kampf für die Par­tei; auch das Ver­hält­nis zu Eng­holm ent­krampf­te sich mit der Zeit. Grass war halt auch ein »glück­li­cher Stei­ne­wäl­zer«, wie die Autorin Frie­de­ri­ke Staus­berg ihre Dis­ser­ta­ti­on beti­telt hat, deren Erschei­nen für 2023 avi­siert ist und aus der ihr Bei­trag für den Frei­pass stammt. Anspie­lend auf den Mythos des Sisy­phos von Albert Camus und des­sen letz­ten Sät­ze: »Der Kampf gegen Gip­fel ver­mag ein Men­schen­herz aus­zu­fül­len. Wir müs­sen uns Sisy­phos als einen glück­li­chen Men­schen vor­stel­len.« Eine Meta­pher, die auch Björn Eng­holm 1991 in sei­ner ersten Rede nach sei­ner Wahl auf dem Par­tei­tag in Bre­men gebrauchte.

Machen wir einen Sprung, wer­fen wir noch einen Blick auf den abschlie­ßen­den Teil des Ban­des, der Erin­ne­run­gen eini­ger Weg­be­glei­ter und Zeit­ge­nos­sen zu einem Geburts­tags-Bou­quet bün­delt. Hier erin­nert sich die 1922 (!) gebo­re­ne Büh­nen­ver­le­ge­rin Maria Som­mer an ihren ersten Kon­takt mit dem »in einem Pari­ser Kel­ler­loch« leben­den jun­gen Autor, des­sen erstes Thea­ter­stück Onkel, Onkel sich gera­de auf den Weg zur Urauf­füh­rung mach­te, die alles ande­re als ein Erfolg wur­de. Hans Magnus Enzens­ber­ger, Mar­tin Wal­ser, Micha­el Krü­ger, Eva Men­as­se, Uwe Neu­mann, Chri­stoph Links, Ingo Schul­ze schlie­ßen sich an, eben­so wie Danie­la Dahn. Die Mit­her­aus­ge­be­rin von Ossietzky beginnt ihren Text mit den Wor­ten: »Gün­ter Grass fehlt. Sein bestän­di­ges, die Mäch­ti­gen ner­ven­des: Was gesagt wer­den muss. Mit ihm ist der letz­te stö­ren­de Intel­lek­tu­el­le, der sich noch Gehör ver­schaf­fen konn­te, abgetreten.«

Die­ser Sound durch­zieht das gan­ze Buch: Es ist das letz­te sei­ner Art, da zwei Mona­te nach Ute Grass’ Tod der Vor­stand der Gün­ter und Ute Grass Stif­tung beschlos­sen hat, die Publi­ka­ti­ons­rei­he nicht fort­zu­füh­ren. Chri­stoph Links hat­te vor sie­ben Jah­ren den ver­le­ge­ri­schen Mut beses­sen, den Frei­pass zu ver­le­gen, die­se »wun­der­ba­re Buch­rei­he«, die zwar nach sei­nen Wor­ten »in der Tat kein Ver­kaufs­schla­ger war«, die jedoch inter­na­tio­nal gro­ße Aner­ken­nung fand. Daher gehört ihm auch das letz­te Wort: »Nicht nur uns im Ver­lag wird künf­tig etwas Wich­ti­ges fehlen.«

 Vol­ker Neu­haus, Per Øhr­gaard, Jörg-Phil­ipp Thom­sa (Hg.): Frei­pass, Band 6, Ch. Links Ver­lag, Ber­lin 2022, 347 S., 25 €.