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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Barlach: Werden statt Sein

Die­se Ernst-Bar­lach-Aus­stel­lung in der Werk­statt­ga­le­rie Her­mann Noack in Ber­lin-Char­lot­ten­burg soll­te eigent­lich schon zum 150. Geburts­tag Bar­lachs statt­fin­den, sie war aber damals durch Coro­na ver­hin­dert wor­den. Die 1897 gegrün­de­te Kunst­gie­ße­rei Noack, die heu­te in vier­ter Gene­ra­ti­on von Her­mann Noack wei­ter­ge­führt wird, hat das gan­ze Lebens­werk Bar­lachs gegos­sen und fühlt sich des­halb »ihrem« Künst­ler beson­ders ver­pflich­tet. Sie zeigt nun in ihrem neu­en Umfeld – in einer eige­nen, groß­zü­gig ange­leg­ten Werk­statt­ga­le­rie – nicht nur die zu Leb­zei­ten Bar­lachs in ihrer Gie­ße­rei selbst ange­fer­tig­ten Güs­se, son­dern dar­über hin­aus eine reprä­sen­ta­ti­ve Schau der Bron­zen und Arbei­ten auf Papier, die sich in ihren The­men und Moti­ven ergänzen.

Wir betrach­ten den »Kopf des Güstrower Ehren­mals« (Bron­ze, 1930), des »Schwe­ben­den Engels« im Dom zu Güstrow, der – den Toten des Ersten Welt­kriegs gewid­met – zu einer monu­men­ta­len Schick­sals­fi­gur, zu einem unver­gess­li­chen Sym­bol des ewi­gen Schwei­gens wur­de. Die­ser Bote aus einer ande­ren Welt – eine Replik schwebt über dem Aus­stel­lungs­raum –, der kei­ne Flü­gel braucht, um zu schwe­ben, braucht auch die Augen nicht mehr zu öff­nen, um alles zu sehen und alles zu wis­sen. Dass Bar­lach in den Engel »das Gesicht der Käthe Koll­witz hin­ein­ge­kom­men« war, »ohne dass ich es mir vor­ge­nom­men hat­te«, wie er äußer­te, ist wohl doch nicht so zufäl­lig gewe­sen, denn das Schick­sal der Käthe Koll­witz war damals bereits ein Syn­onym für die um ihre gefal­le­nen Söh­ne trau­ern­den Mütter.

»Sehn­süch­ti­ge Mit­tel­stücke zwi­schen einem Woher und Wohin« hat Bar­lach sei­ne Gestal­ten genannt. Ihm ging es um das Auf­spü­ren und Sicht­bar­ma­chen ele­men­tar­ster mensch­li­cher Befind­lich­kei­ten. Sei­nen Gebeug­ten und Bedrück­ten, Lei­den­den, Sor­gen­den, Ver­zwei­fel­ten, mit ihren Traum­vi­sio­nen Kämp­fen­den, Weg­su­chen­den, Lie­ben­den, Wider­stand Lei­sten­den ste­hen Gestal­ten gegen­über, die aus aller erd­haft düste­ren Gebun­den­heit gelöst erschei­nen, schwei­gend Ver­har­ren­de, selbst­ver­ges­sen Lau­schen­de, Stau­nen­de, Hof­fen­de, im Uni­ver­sum For­schen­de, Lesen­de, Medi­tie­ren­de, Sin­gen­de, Musik Emp­fan­gen­de. Hin­ter der Augen­fäl­lig­keit der äuße­ren Erschei­nun­gen woll­te er das Ver­bor­ge­ne, hin­ter der Mas­ke der Wirk­lich­keit die ande­re Wahr­heit, hin­ter dem äußer­lich Auf­ge­präg­ten, Frem­den das Eige­ne, nur die­ser Gestalt Eigen­tüm­li­che, Iden­ti­sche entdecken.

Wie eine Initi­al­zün­dung war sei­ne Rei­se nach Russ­land 1906 gewe­sen: Er war über­wäl­tigt von der Gren­zen­lo­sig­keit der Step­pe, von der Ver­lo­ren­heit der Men­schen in der end­lo­sen Wei­te der Land­schaft. »Der Melo­nen­schnei­der« (Bron­ze, 1907), ein rasten­der Bau­er, lebt noch in unmit­tel­ba­rem Bezug zur Erde, dem Boden, dem er unter­wor­fen ist. Schon da zeigt sich, wenn auch noch äußer­lich ver­stan­den, die mensch­li­che Gewor­fen­heit, die auch als Ver­fal­len­heit bezeich­net wer­den kann.

»Der Stern­deu­ter« (1909) wie »Der Son­nen­an­be­ter« (1910/​11) for­schen in der Unend­lich­keit des Rau­mes über sich, sie sind aus­ge­stat­tet mit einem Sen­so­ri­um, das sie über sich hin­aus zu den­ken und zu fra­gen, das sie Bot­schaf­ten aus dem Uni­ver­sum emp­fan­gen lässt. Ihr Kör­per ist fest mit der Erde ver­bun­den, doch ihre Gedan­ken schwe­ben in einer Sphä­re hoch über die­ser Welt. Die­se Gleich­zei­tig­keit der Erd­nä­he und einer inne­ren Unru­he, die sie fort­treibt oder min­der stark immer spür­bar ist, die­se Zwie­ge­sich­tig­keit, die­se Zuge­hö­rig­keit zu zwei­er­lei Sphä­ren, einer sinn­li­chen und einer über­sinn­li­chen, kenn­zeich­nen die pla­sti­schen Gestal­ten Barlachs.

Der Aus­druck, die Gestik, das Phy­sio­gno­mi­sche domi­nie­ren in Bar­lachs Gestal­ten, dage­gen geht der Bild­hau­er in der Kör­per­be­hand­lung ande­re Wege. Der nack­te Kör­per hat ihm nichts bedeu­tet, sei­ne Figu­ren sind in Gewän­der gehüllt, die ihnen Schutz und Gebor­gen­heit bie­ten sol­len gegen­über Natur­ge­wal­ten, Schick­sals­schlä­gen oder den Bedro­hun­gen der Zeit. In ihrer plum­pen, undurch­dring­li­chen Stoff­lich­keit sind sie aber auch Aus­druck eben jener Erden­schwe­re, die die Figu­ren nicht los­lässt. Doch der Rhyth­mus ihrer Lini­en und Flä­chen geht zugleich in den die Figu­ren umge­ben­den Raum über, setzt die Auf­ge­wühlt­heit der Gefühls­re­gun­gen mit dem Anruf von außen her oder von oben her­ab in Bezie­hung. Ande­rer­seits kann der inner­see­li­sche Gehalt aber auch von einer ruhi­gen, sich wöl­ben­den Sil­hou­et­te zurück­ge­hal­ten wer­den. So wird ein viel­fäl­ti­ges Span­nungs­ge­fü­ge von inne­rer Erre­gung und äuße­rer Form erzeugt.

»Der Spa­zier­gän­ger« (1912) muss sich den Natur­ge­wal­ten wie der Zeit ent­ge­gen­stem­men. Um gemein­sa­me Erkennt­nis sind die »Lesen­den Mön­che II« (1921) bemüht, in unge­wis­ser Vor­ah­nung hat sich das »Schwan­ge­re Mäd­chen« (1924) in ihr Gewand ver­hüllt, wäh­rend in »Ruhe auf der Flucht« (1924) Joseph schüt­zend für Maria sorgt. Die aus­drucks­vol­le Grup­pe »Das Wie­der­se­hen« (1926), den sich dem ungläu­bi­gen Tho­mas offen­ba­ren­den Chri­stus dar­stel­lend, ver­mit­telt ein Sich-Stär­ken, Ver­trau­en und Zuver­sicht. »Der sin­gen­de Mann« (1928) – das befrei­en­de Sin­gen soll alle düste­ren Gedan­ken und bösen Vor­ah­nun­gen ver­trei­ben. In dem trotz grau­sa­mer Behin­de­rung tap­fer-hei­ter wei­ter­schrei­ten­den »Ver­gnüg­ten Ein­bein« (1933/​34) bricht dann erkenn­bar Bar­lachs grim­mi­ger Humor durch.

»Der Buch­le­ser« (1936) – »er liest neu­gie­rig, zuver­sicht­lich, kri­tisch«, sagt Bar­lach – ist als Akt der Selbst­be­haup­tung zu ver­ste­hen, denn der Bild­hau­er hat­te kurz zuvor in einem Pro­test­schrei­ben an Joseph Goeb­bels gegen die Beschlag­nah­mung sei­nes Ban­des »Zeich­nun­gen« Ein­spruch erhoben.

»Gro­ße Schwe­re und gro­ßen Schmerz« zu ertra­gen, hat Bar­lach visio­när vor­aus­ge­ahnt. Das Aus­ge­setzt­sein einem schreck­li­chen Schick­sal gegen­über ist von ihm früh Gestalt gege­ben gewor­den (»Pani­scher Schrecken«, 1912; »Das Grau­en«, 1923). Sei­ne per­sön­li­che Situa­ti­on spie­gelt sich dann im »Wan­de­rer im Wind« (1934) wider: »Statt römi­sche Arm­ge­sten zu voll­zie­hen (gemeint ist der Hit­ler­gruß – K.H.), zie­he ich den Hut in die Stirn.« In der Figur des »Flö­ten­blä­sers« (1936) gelang ihm dann noch ein­mal ein ähn­lich schwe­re­lo­ser und hei­te­rer, von der Zeit ganz unbe­rühr­ter Ton wie im »Fries der Lau­schen­den« (1935), jenen 8 schlan­ken Figu­ren, rhyth­misch zusam­men­ge­hal­ten zu einer Gemein­schaft – sie lau­schen nach außen und in sich hin­ein. Das Lyri­sche bot sich ihm nun als Aus­weg aus der Ein­sam­keit und Ver­fe­mung die­ser Zeit an.

Zu ihnen gesellt sich dann noch eine ganz stil­le Figur, der »Zweif­ler« (1931), der kniend die Hän­de ringt, in qual­vol­ler Unge­wiss­heit, den Blick fra­gend-ankla­gend, aber auch fast schon wie­der hof­fend empor­ge­rich­tet. Die­ser Abge­sang des Pla­sti­kers Bar­lach ist erschüt­ternd. Man glaubt ihn selbst, den immer schwe­rer Geprüf­ten, die Hän­de rin­gen zu sehen wie die­sen Zweif­ler, wenn er in sei­nem Güstrower Ate­lier dar­an dach­te, was drau­ßen sei­nen Geschöp­fen geschah und was noch gesche­hen wür­de. 1938 erlag er einem Herzschlag.

Kei­ne der Bar­lach­schen Gestal­ten begnügt sich mit dem Sein, jede will, hof­fend und hart­näckig, das »Wer­den«. Auch wenn sie eine neue Bewusst­seins­ebe­ne errei­chen, bleibt ihre Unru­he bestehen.

Künst­ler des Soseins – Zum 150. Geburts­tag von Ernst Bar­lach. Werk­statt­ga­le­rie Her­mann Noack, Am Spree­bord 9, 10589 Ber­lin, Do 12 – 17 Uhr, Fr und Sa 12 – 19 Uhr, So 12 – 17 Uhr, bis 3. Juli 2022.