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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Demokratie-Träume

Als Jun­ge träum­te ich Tag und Nacht nur von ihr. Ich sah ver­zwei­felt die ein­zi­ge Hoff­nung in ihr, ver­lieb­te mich sofort in sie, in »die Demo­kra­tie«, in ihre rei­ne Theo­rie. Ihre Ehr­lich­keit, Gerech­tig­keit, Ein­deu­tig­keit schie­nen mir in mei­nen Gedan­ken über­aus hei­lig. Ich wur­de also süch­tig nach ihr, ver­in­ner­lich­te alles, vor allem ihre Grund­wer­te. Es war ein­fach schön mit ihr, beru­hi­gend wirk­te die theo­re­ti­sche Form ihrer Poli­tik auf mich, die mit Frei­heit und Gleich­heit für alle ein­her­ging. Jedes Mal ver­sprach ich mir, mein gan­zes Leben lang nach ihr zu stre­ben, ihr die ewi­ge Treue und Lie­be zu schwö­ren und eines Tages nur für sie zu exi­stie­ren. Jede Nacht vor dem Schla­fen­ge­hen sag­te ich zu mir: »Ich wer­de bald erwach­sen und sie end­lich in ihrer gan­zen Wirk­lich­keit erfassen.«

Als ich die Demo­kra­tie nach vie­len Jah­ren dann erst­mals traf, waren alle mei­ne Träu­me erfüllt. Ver­rückt nach ihr, schien mir alles wie mein erster Traum von ihr. Ich lieb­te sie noch jah­re­lang, sag­te nie »Nein« zu ihr. Dies fand ich zwar merk­wür­dig, jedoch fühl­te sich in die­sem Rausch alles an ihr nur fein und herr­lich an, und auch alles, was in ihrem Namen in mei­ne Ohren drang. Ich war viel­leicht blind, von mei­ner ersten Lie­be zu ihr noch zu blind?

Als ich älter, mein Geist rei­fer wur­de, die Grund­sät­ze der Demo­kra­tie sich als nicht trans­pa­rent, die Poli­tik in ihrem Namen sich als mani­pu­la­tiv zeig­ten, als ich dies all­mäh­lich erkann­te, betrach­te­te ich sie nun mit ande­ren Augen. Ihre Auf­rich­tig­keit schien mir plötz­lich aus­schließ­lich in Wor­ten, ihr fei­nes Bild bis­her nur in mei­nem Kopf, in mei­nem Traum so schön und echt zu sein. Das mach­te mich skep­tisch. Mein Leben wur­de nach und nach täg­lich beschwert, mit jeder Men­ge Fra­gen beschwert. Ich träum­te nicht mehr, nicht von ihr, denn mei­ne Fra­gen fan­den kei­ne Ant­wor­ten in der Uto­pie mehr. Die­se Rei­fe beein­fluss­te alles, auch mein blin­des Ver­trau­en in das demo­kra­ti­sche System. Ich war fru­striert, woll­te lie­ber erneut ein Jun­ge, poli­tisch nicht so erfah­ren, aber ohne jenen Glau­ben in die Demo­kra­tie sein. Je genau­er und offe­ner ich jedoch wur­de, umso mehr ver­schwand ihr anfäng­li­ches Leit­bild aus mei­nem Ver­stand. Ich gier­te trotz­dem nach ihrem wirk­li­chen Ide­al. Ich such­te sie, die Demo­kra­tie, die tat­säch­lich jede Aus­gren­zung bekämpf­te, sozia­le Gerech­tig­keit und die Gleich­stel­lung von Men­schen auf allen gesell­schaft­li­chen Ebe­nen för­der­te, die Umwelt als ihr Mot­to hoch­hielt. Das war viel­leicht zu leicht­sin­nig von mir.

Ich ging zuerst auf die Stra­ße. Vie­le mein­ten gut­mü­tig, aber auch bestimmt: »Du wirst bei dei­ner Suche alt wer­den, die­ses ewi­ge War­ten auf dei­ne Demo­kra­tie wird dich schließ­lich ver­nich­ten. Alles hat wohl oder übel den Ursprung in unse­rer selbst­be­wuss­ten Wis­sen­schaft und Kul­tur. Wir sind letzt­end­lich folg­sam, doch nur ein Teil die­ser mora­li­schen Macht. Wir sind ein­fluss­los, haben längst gar nichts gegen die kapi­ta­li­sti­sche Gesell­schafts­ord­nung, die gan­zen Auto­ri­tä­ten einer Demo­kra­tie in der Hand.« Ich kam ohne Demo­kra­tie und ohne Lösung wieder.

Ich ging gut­gläu­big zu den Bil­dungs­stät­ten, zu den Intel­lek­tu­el­len. Selbst­si­cher waren die­se, sie hat­ten an allem etwas zu kri­ti­sie­ren, zwei­fel­ten aber nie an sich selbst und des­halb auch nicht an ihrer Demo­kra­tie. Ich kam lei­der auch von ihnen ohne sie zurück.

Ich ging zu den Poli­ti­kern. Die­se woll­ten aber kei­ne Kri­tik, igno­rier­ten alles, was ich sag­te. Sie spra­chen wie Hei­li­ge zu mir: »Glaub ein­fach an uns, du bekommst alles von uns.« Fort­schritt nann­ten sie dies alles, auch ihre eige­ne Unantastbarkeit.

Ich war auch bei den Gläu­bi­gen, hielt mich bedrückt Tage und Näch­te im Wald auf. Als ich dann ohne jeg­li­che Aus­sicht in mich ging, kam ich trotz­dem ohne mei­ne erste Lie­be in der Fer­ne wie­der zu ihr.

Über­all sag­te man mir: »Scheiß auf dei­ne Demo­kra­tie. Wir sind die ech­ten Bestand­tei­le der Demo­kra­tie, wir ken­nen nur sie, was willst du mit dei­ner ableh­nen­den Hal­tung hier?«

»Ich will nur ein men­schen­freund­li­ches System, das sich nicht bloß an Wirt­schaft, Ver­nunft, Moral ori­en­tiert, har­mo­ni­sches Mit­ein­an­der, das gemein­sa­mes Wir­ken för­dert statt Konkurrenz.«

Alle lach­ten mich aus. Sie hiel­ten ihre Schein­hei­lig­keit für die beste Erfin­dung der Welt. Es ist ja auch gut und schön für die­se Men­schen, wenn sie sich eine ver­fehl­te Form der Poli­tik wirk­lich wün­schen. Mir gefiel »die­se neue inhu­ma­ne Demo­kra­tie« mit ihrem trü­ben Gesicht, ihrer Abhän­gig­keit von vie­len Mäch­ten von oben her­ab nicht.

Als ich dann in der Demo­kra­tie unter Zwang stand, erin­ner­te ich mich sofort an den Dik­ta­tor mei­ner Kind­heit wie­der. Als ich des­halb ein biss­chen laut wur­de, wur­de ich sofort als unso­li­da­risch erkannt. Als ich mich dar­auf ent­gei­stert in der Kri­se gegen ihre gefühl­lo­se Form stell­te, mich äußer­te, nann­te man mich tat­säch­lich »einen Verbrecher«.

Ich sag­te trotz­dem »Nein ohne Zwang« zu ihr: »Demo­kra­tie kennt doch kei­nen Zwang, kei­ne gro­ßen Lügen, kei­ne über­trie­be­ne Macht, so viel Geld für die Taschen von Weni­gen. Ein unbe­ding­tes Zusam­men­hal­ten muss nicht immer etwas Gutes, Soli­da­ri­sches hei­ßen. Das ist für mich gefühls­kalt, kei­ne Demo­kra­tie, viel­leicht nur der klei­ne Halb­bru­der der Dik­ta­tur. Der Unter­schied zwi­schen bei­den war in mei­ner Not­la­ge lei­der nicht all­zu groß, er lag am ehe­sten in der Defi­ni­ti­on und nicht in der Rea­li­tät von bei­den. In einer Schein­de­mo­kra­tie wird man schritt­wei­se gekränkt, nur diplo­ma­tisch besei­tigt, in einer Dik­ta­tur auf der Stel­le eli­mi­niert.« Ich weiß wirk­lich nicht, was im Augen­blick für mich bes­ser oder schlech­ter ist.

Nein, der Mensch ist kein Ver­bre­cher, weil er demo­kra­tisch denkt, die Grund­sät­ze der Demo­kra­tie hoch­hal­ten möchte.

Den­noch bin ich trotz mei­ner kri­ti­schen Äuße­run­gen zu die­ser Schein­hei­lig­keit froh, dass ich weit weg von irgend­ei­nem Dik­ta­tor bin. Es gibt hier kei­ne Dik­ta­tur, son­dern nur eine chao­ti­sche Poli­tik, die ohne Rück­sicht auf Ver­lu­ste funk­tio­nie­ren will. Für mich ist die­se kon­ser­va­ti­ve Stra­te­gie fern von jeder Mensch­lich­keit, ohne Trans­pa­renz, Serio­si­tät – auch weit ent­fernt von der Wahr­heit einer jeden Demokratie.

Viel­leicht exi­stiert sie doch noch irgend­wo in ihrer Ganz­heit, ohne die Hän­de die­ser Pro­fi­teu­re eines jeden poli­tisch-mora­li­schen Systems, die unter allen Umstän­den reich, berühmt, schön, fein, unbe­rühr­bar und mäch­tig wer­den wol­len, wäh­rend ande­re See­len für ihre Annehm­lich­kei­ten welt­weit und in ihrer Demo­kra­tie zugrun­de gehen.

Ist das wirk­lich der Sinn unse­res Daseins? Kann man die Demo­kra­tie ret­ten, wenn Geld die Welt regiert und wie ein Dik­ta­tor demo­kra­ti­sche Grund­sät­ze stän­dig untergräbt?

Ich hof­fe, dass den­noch ein­mal etwas Neu­es ent­steht, eine ganz neue Poli­tik, die tole­rant, fami­li­en­freund­lich, nicht zu ernst ist, die an wah­re Bil­dung und gesun­de Erzie­hung glaubt, die unse­re Kin­der nicht in Angst ver­setzt, ihnen Mit­ge­fühl und Lie­be zeigt und wie man wirk­lich lebt und täg­lich den­noch lachen kann.

Dilan Can­baz wur­de 1973 in Sulai­ma­ni­yya im ira­ki­schen Kur­di­stan gebo­ren, kam mit 22 Jah­ren nach Graz, schreibt und ver­öf­fent­licht seit 2018. Neben sei­ner Schreib­tä­tig­keit arbei­tet er im Sozi­al­be­reich mit Kin­dern und Jugendlichen.