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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Napoleons Hand in Perleberg?

Die Stadt Per­le­berg, auf hal­bem Weg zwi­schen Ber­lin und Ham­burg am Flüss­chen Ste­pe­nitz gele­gen, war bis 1809 weni­gen Bri­ten bekannt. Das änder­te sich, nach­dem der Lon­do­ner außer­or­dent­li­che Gesand­te Ben­ja­min Bathurst dort spur­los ver­schwand. Von Wien kom­mend rei­ste Lord Bathurst als Kauf­mann Koch inko­gni­to mit Sekre­tär und Die­ner und fal­schem Pass. Er war in gehei­mer, anti­fran­zö­si­scher Mis­si­on am öster­rei­chi­schen Kai­ser­hof tätig gewe­sen, schon vor sei­ner Heim­rei­se voll Sor­ge um sei­ne Sicher­heit. Eng­land war näm­lich im Krieg mit Frank­reich, gegen­über Ver­trau­ten äußer­te er, dass Napo­le­on ihm wohl per­sön­lich zür­ne. Unter­wegs prüf­te er mehr­mals sei­ne zwei gela­de­nen Pisto­len, wie Zeu­gen berich­ten, und frag­te nach fran­zö­si­schen Trup­pen. An einem kal­ten Sams­tag im Novem­ber ver­ließ er Ber­lin in Rich­tung Ham­burg, mach­te gegen Mit­tag an der Post-Sta­ti­on Per­le­berg Rast zum Pfer­de­wech­sel und über­leb­te die­sen Tag wahr­schein­lich nicht.

Die am Gesche­hen betei­lig­ten Per­so­nen bie­ten wah­ren Stoff für einen Kri­mi­nal­ro­man, oder bes­ser für einen Detek­tiv­ro­man; denn erste­rer befasst sich mit der Geschich­te eines Ver­bre­chens, letz­te­rer mit sei­ner Auf­klä­rung. Die Haupt­per­son Sir Ben­ja­min mit sei­ner Entou­ra­ge wur­de bereits vor­ge­stellt. Neben die­sen gab es vor Ort den Post­wa­gen­mei­ster Schmidt mit sei­nem übel beleum­de­ten Sohn (einem Trin­ker, bei dem spä­ter der Pelz­man­tel des Gesand­ten gefun­den wur­de); und es gab den Wirt des Gast­hau­ses »Zum Wei­ßen Schwan«, Herrn Leger mit sei­nem Haus­knecht Mer­tens, wel­che zwei den Lord als letz­te hin­term abfahr­be­rei­ten Rei­se­wa­gen ins abend­li­che Dun­kel gehen sahen.

Hin­zu­kom­men als Akteu­re: Der ört­li­che Gar­ni­sons­kom­man­dant, der eine Kür­as­sier­ein­heit befeh­lig­te und der dem Diplo­ma­ten – auf des­sen Wunsch hin – vor dem Gast­hof eine Sau­vegar­de, einen Dop­pel­po­sten Kür­as­sie­re bewil­lig­te. Und der Per­le­ber­ger Bür­ger­mei­ster, der den ört­li­chen Magi­strat lei­te­te und der bei sei­nen Ermitt­lun­gen vom Gar­ni­sons­chef aus­ge­bremst wur­de. Von ganz oben kam näm­lich eine Order, wonach der Ritt­mei­ster Fried­rich von Klitzing allein »mit Ver­mei­dung aller Publi­ci­tät« in die­sem Fall ermit­teln sol­le. Merkwürdig.

Über den Ver­lauf des frag­li­chen Tages ist so viel über­lie­fert: Nach dem Aus­span­nen der Pfer­de nahm der Diplo­mat ein Zim­mer im genann­ten Gast­haus nahe der Post-Sta­ti­on, Am Hohen Ende 25, und spei­ste mit sei­ner Beglei­tung zu Mit­tag. Kurz vor oder nach dem Essen such­te er den Kom­man­dan­ten auf. Die dor­ti­ge Haus­da­me wuss­te spä­ter zu berich­ten, dass der Frem­de sehr frö­stel­te, eine hei­ße Tas­se Tee erbat und die Befürch­tung erken­nen ließ, es könn­ten fran­zö­si­sche Agen­ten nach sei­nem Leben trach­ten. Sie schil­der­te den Gast als statt­li­chen Mann mit sym­pa­thi­schen Gesichts­zü­gen. Nicht ihr, aber dem Kom­man­dan­ten muss er wohl sei­ne wah­re Iden­ti­tät offen­bart haben, andern­falls hät­te er nicht ohne wei­te­res die erbe­te­ne Schutz­wa­che erhalten.

Im Lau­fe des Nach­mit­tags soll er viel geschrie­ben und eini­ge Papie­re ver­brannt haben. Nach­dem er mehr­mals an- und wie­der abspan­nen ließ, leg­te er die Abfahrt­zeit schließ­lich auf 9 Uhr abends fest. Für die­se Zeit stell­te der Wagen­mei­ster die Kut­sche vorm Haus »Zum Wei­ßen Schwan« bereit.

Meh­re­re Män­ner hat­ten neben der gepack­ten Rei­se­kut­sche des Kauf­manns Koch – sei­nen wah­ren Namen kann­te allein der Kom­man­dant – im Schein der Wagen­la­ter­ne gewar­tet, dann nach dem Ver­schwun­de­nen geru­fen und gesucht, ver­ge­bens. Schließ­lich mach­te Die­ner Hil­bert dem Ritt­mei­ster Mel­dung, dass der Kauf­mann ver­misst wer­de. Klitzing for­der­te die Per­le­ber­ger Bezirks­vor­ste­her umge­hend zu Nach­for­schun­gen auf, die in der Nacht began­nen. Seit der preu­ßi­schen Städ­te­re­form von 1808 übten die Vor­ste­her zusam­men mit dem Bür­ger­mei­ster die kom­mu­na­le Poli­zei­ge­walt aus. Noch am sel­ben Abend, dem 25. Novem­ber, beschlag­nahm­te Klitzing den Rei­se­wa­gen des Kauf­manns und quar­tier­te des­sen Sekre­tär und Gehil­fen unter mili­tä­ri­scher Bewa­chung im abge­le­ge­ne­ren Gast­hof »Zur Kro­ne« ein.

Am fol­gen­den Sonn­tag gab der Ritt­mei­ster bekannt, er wer­de bis Mit­ter­nacht abwe­send sein, man möge inzwi­schen auch nach dem teu­ren Pelz­man­tel des Kauf­manns for­schen, weil der beim Gepäck feh­le. Also bega­ben sich zwei Bezirks­vor­ste­her zur »Kro­ne«, ver­nah­men Kochs Die­ner, sodann die Magd des Post­mei­sters, der sie 5 Taler ver­spra­chen, und wur­den durch deren Anga­ben schließ­lich fün­dig im Schmidt­schen Holz­kel­ler. Schmidt Juni­or gestand. Im fol­gen­den Janu­ar wur­de er ver­ur­teilt, aber begnadigt.

Erst am Mon­tag­abend kam Klitzing zurück (nie­mand erfuhr Ziel und Zweck sei­ner Rei­se), über den gemel­de­ten Erfolg zeig­te er sich befremd­li­cher­wei­se nicht erfreut. Viel­mehr beschwer­te er sich beim Magi­strat über die eigen­mäch­ti­ge Ver­neh­mung Hil­berts in der »Kro­ne«, ver­lang­te auch das auf­ge­nom­me­ne Pro­to­koll in ori­gi­na­li. (Das Pro­to­koll ist seit­dem verschollen.)

Den Per­le­ber­gern wur­de der wah­re Name des Ver­schwun­de­nen erst durch eine Zei­tungs­mel­dung des Pari­ser Blat­tes Moni­teur vom 10. Dezem­ber 1809 bekannt. Sie besag­te, bei Per­le­berg habe sich ein eng­li­scher Gesand­ter ums Leben gebracht, nach­dem er bei sei­ner Rei­se durch Ber­lin schon Sym­pto­me des Wahn­sinns gezeigt habe. War die Quel­le dafür Ber­lin oder Paris? Wir wis­sen es nicht. Wir wis­sen aber, dass Ber­lin fort­an auf Selbst­mord als Todes­ur­sa­che bestand und bei ande­ren Mel­dun­gen Zen­sur aus­üb­te. Ver­däch­tig war Fol­gen­des: Bür­ger­mei­ster Bern­hard Stap­pen­beck las, nach­dem Bathursts Sekre­tär abge­reist war, im Frem­den­an­zei­ger Ber­lins, dass dort ein Kauf­mann Krü­ger aus Per­le­berg ein­ge­trof­fen sei. Stap­pen­beck mel­de­te nach Ber­lin, das müs­se ein Betrü­ger sein, denn in Per­le­berg lebe kein Krü­ger. Ber­lins Poli­zei­prä­si­dent Gru­ner ant­wor­te­te ihm umge­hend und höchst­per­sön­lich, dass Kauf­mann Krü­ger eine Beschei­ni­gung des Kom­man­dan­ten von Klitzing vor­ge­legt und somit alles sei­ne Rich­tig­keit habe. Des Bür­ger­mei­sters Sohn meint in sei­nen Erin­ne­run­gen: »Welch unglaub­li­che Tätig­keit auch mein Vater und die von ihm orga­ni­sier­te Poli­zei ent­wickeln moch­te: Kei­ne Spur war zu ent­decken (…). Die Anstren­gun­gen mei­nes Vaters und sei­ner Gehül­fen (wären) doch end­lich von einem Erfolg gekrönt wor­den, wenn die­sel­ben nicht plötz­lich höhe­ren Orts aus poli­ti­schen Grün­den inhi­biert wor­den wären.« Alles habe, schreibt er, für den Bür­ger­mei­ster auf ein fran­zö­si­sches Kom­plott hingedeutet.

Vie­le Jahr­zehn­te spä­ter ein Fund: Beim Abriss eines Per­le­ber­ger Hau­ses an der Ham­bur­ger Chaus­see wur­de ein Ske­lett mit tie­fer Schlag­ver­let­zung im Hin­ter­kopf gefun­den. Das Haus gehör­te bis 1828 dem got­tes­fürch­ti­gen Bür­ger Mer­tens. Man erin­ner­te sich jetzt, dass er sei­nen bei­den Töch­tern eine unge­wöhn­lich hohe Mit­gift gab, obwohl er zeit­le­bens nur Haus­knecht im »Wei­ßen Schwan« gewe­sen war … Was so alles gere­det wird.

In der eng­li­schen Pres­se hielt man von vorn­her­ein fran­zö­si­sche Agen­ten für die Täter. Sir Ben­ja­mins Ehe­frau, Lady Phil­li­da, rei­ste per­sön­lich nach Paris und wur­de von Kai­ser Napo­le­on emp­fan­gen. Der ver­si­cher­te ihr mit sei­nem Ehren­wort fei­er­lich, dass er vom Ver­bleib des Ver­miss­ten nichts wüss­te. Er ver­sprach und gewähr­te ihr Unter­stüt­zung bei ihren Nach­for­schun­gen in Perleberg.

Frei­lich ist es denk­bar, dass Napo­le­on auf­rich­tig gespro­chen, das heißt, mit rei­nem Gewis­sen der Wit­we Aus­kunft gege­ben hat, in Unkennt­nis des­sen, was unte­re Char­gen taten. Sein umtrie­bi­ger und in halb Euro­pa spio­nie­ren­der Poli­zei­mi­ni­ster Joseph Fou­ché befolg­te viel­leicht damals schon das Prin­zip der »plau­si­ble denia­bi­li­ty«, das heißt der glaub­wür­di­gen Abstreit­bar­keit. Eines Prin­zips, wel­ches erst in den 50er Jah­ren des fol­gen­den Jahr­hun­derts durch die CIA aus­for­mu­liert wur­de. Es besagt, dass der ober­ste Chef, das Staats­ober­haupt, vor jeder Ver­ant­wor­tung für eine auf­ge­deck­te Geheim­ope­ra­ti­on zu schüt­zen sei und nicht jene Sachen wis­sen müs­se, die gegen Gesetz und Moral (wenn auch in sei­nem Inter­es­se) aus­ge­führt wer­den: Mord, Erpres­sung, Sabotage.

Tipp: Muse­um Per­le­berg, Am Mön­chort 7, Di-Fr 10-16 h, So 11-16 h. Über Lord Bathurst, der im März vor 240 Jah­ren gebo­ren wur­de, ist dort eini­ges zu erfahren.