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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Streumunition im Propaganda-Dom

»Es ist, als hät­te Putin eine Streu­bom­be über Ber­lin abge­wor­fen«, beschreibt die FAZ das »Tau­rus-Desa­ster« über das Mit­hö­ren – nicht abhö­ren (Wan­zen!) – einer Tele­fon­schal­te höch­ster Offi­zie­re der deut­schen Luft­waf­fe durch den rus­si­schen Geheim­dienst. In den Medi­en domi­nie­ren die immer­glei­chen Reak­tio­nen: Der »böse« Putin und der »gute« Westen. In der ARD-Sen­dung »Hart aber fair« mit dem Titel »Putin droht und spio­niert« kann zur Hyste­rie gestei­ger­te Pro­pa­gan­da live mit­er­lebt wer­den: Ein ehe­mals Frie­dens­be­weg­ter, der sich dafür »schämt« und bekennt, durch »Erkennt­nis« nun die »rich­ti­ge« Hal­tung ein­zu­neh­men, »Pan­zer-Toni« (so der Mode­ra­tor), Anton Hof­rei­ter, und die außer sich gera­ten­de CDU-Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­te Serap Güler tref­fen auf den Lin­ken Jan van Aaken und einen Ver­tre­ter aus der Frie­dens­ar­beit der Kir­che, zwi­schen ihnen Oberst André Wüst­ner, der Vor­sit­zen­de des Deut­schen Bun­des­wehr­ver­ban­des. Serap-Güler über­schlägt sich fast: »Der Kanz­ler ist ein Sicher­heits­ri­si­ko«, »die Sicher­heit in Euro­pa ist gefähr­det«, »Putin macht in der Ukrai­ne nicht halt«. Alles klar?!

Was für die deut­sche Bevöl­ke­rung auch wich­tig wäre, neben dem, was sie über Putins wah­re Absich­ten alles zu glau­ben ver­an­lasst wer­den soll, über­liest man fast im Kom­men­tar von Bert­hold Koh­ler in der FAZ. So detail­liert – wie durch das abge­hör­te und mit­ge­schnit­te­ne Gespräch – sei man noch nicht infor­miert wor­den, weder über die Ein­satz­mög­lich­kei­ten des Tau­rus in der Ukrai­ne noch über die Akti­vi­tä­ten der Ver­bün­de­ten dort und auch nicht dar­über, was die Luft­waf­fe über den Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster denkt. Zwar lie­gen »Fak­ten über Akti­vi­tä­ten der Ver­bün­de­ten« lan­ge auf dem Tisch, die Medi­en hät­ten nur ihre Ver­ant­wor­tung wahr­neh­men müs­sen und wäre durch gute Recher­che auf vor­lie­gen­de Quel­len gesto­ßen! Genau das wird aus gutem Grund ver­ab­säumt, sonst wür­den die »Inter­es­sen« und »Hand­lun­gen« des »Westens« in der Ukrai­ne zu offen­bar. Und das »Böse« anders­wo wird gebrand­markt, um das eige­ne »Böse« unter den Tep­pich zu keh­ren. Statt­des­sen eine immer wei­ter sich dre­hen­de Spi­ra­le, die »Eska­la­ti­on« heißt. Natür­lich eska­liert nur der »böse Putin«, wobei der Begriff ande­res aus­drückt, als bewusst gemacht wer­den soll. Wir fin­den eine Erklä­rung, wenn wir den Begriff Eska­la­ti­on als einen Pro­zess ver­ste­hen, bei dem eine Situa­ti­on oder ein Kon­flikt immer wei­ter an Inten­si­tät zunimmt. Im Prin­zip ist die­ser Pro­zess ein Akti­ons-Reak­ti­on-Mecha­nis­mus, der nur mit Hil­fe (oder durch Ein­sicht) der Media­ti­on, jeden­falls einer ver­nunft­ge­lei­te­ten Ver­mitt­lung, gelöst wer­den kann. Des­halb hören wir in den Medi­en zwar vom Wunsch nach Waf­fen­still­stand und Ver­hand­lun­gen, der aber sogleich von einer Art Mei­nungs­dik­ta­tur nie­der­ge­macht wird. Des­halb wird der ehe­ma­li­ge ukrai­ni­sche Bot­schaf­ter Mel­nyk von deut­schen Medi­en gern zitiert, vor allem, wenn es gegen Tau­rus-Ver­wei­ge­rer wie Müt­zenich (SPD) geht, der sich vor sei­nen Kanz­ler stellt und noch etwas wei­ter geht, indem er mehr diplo­ma­ti­sche Bemü­hun­gen anmahnt, wäh­rend die kopf­schüt­teln­de Außen­mi­ni­ste­rin auf der Regie­rungs­bank mithört.

Der Nato-Westen, an der Spit­ze skan­di­na­vi­sche, bal­ti­sche, ost­eu­ro­päi­sche und deut­sche Regie­rungs­ver­tre­ter und Medi­en for­dern uni­so­no, Putins Armee müs­se sich zuerst zurück­zie­hen, was sie nicht tut und was auch nicht wahr­schein­lich ist. Die wei­ße Fah­ne könn­te des­halb klug und ver­nünf­tig sein, denn ohne neu­en Nach­schub an Sol­da­ten für die Ukrai­ne ist kein Auf­hal­ten der rus­si­schen Armee in Sicht. Die­ser Nach­schub ist schwer mobi­li­sier­bar. Russ­lands Prä­si­dent bie­tet immer wie­der Ver­hand­lun­gen an, signa­li­siert sei­ne Art von »Kom­pro­miss­be­reit­schaft«, ohne das Erober­te preis­zu­ge­ben. Die domi­nie­ren­de Posi­ti­on des Westens, allen vor­an deut­scher Kriegs­an­trei­ber, ist damit aktu­ell nicht ver­ein­bar. Der Papst appel­liert an die Klug­heit. Was das mit­ge­hör­te Gene­rals­te­le­fo­nat offen­bart, sind Über­le­gun­gen, die Eska­la­ti­ons­spi­ra­le wei­ter­zu­trei­ben: Wie sehr das deut­sche Mili­tär, ob ohne oder mit Auf­trag des Ver­tei­di­gungs­mi­ni­sters, über kon­kre­te­re Ein­grif­fe der Bun­des­wehr in den Krieg nach­denkt und aller­lei mög­li­che oder unmög­li­che Hand­lun­gen aus­lo­tet, die juri­stisch eine direk­te Teil­nah­me bedeu­ten könn­ten oder eben gera­de noch nicht! Über sol­cher­lei »Kin­der­kram« dürf­te Putin nicht zu beein­drucken sein, er zeigt sich selbst­be­wusst. Er allein ent­schei­det dar­über, wann sein Kipp-Punkt der Eska­la­ti­ons­stu­fe erreicht ist, denn sei­ne Armee ist auf dem Vor­marsch, und der kann nur auf­ge­hal­ten wer­den mit mas­si­vem Ein­satz fri­scher Sol­da­ten. Mit »Tau­rus« und mehr Muni­ti­on könn­ten sie »nur« ver­zö­gern, aber den Krieg nicht gewin­nen, die Toten und Opfer auf bei­den Sei­ten und die Natur­zer­stö­rung poten­zier­ten sich. Auch beim Ein­satz west­li­cher Marsch­flug­kör­per obliegt es Putin und der rus­si­schen Armee, wann er und wie er den näch­sten Schritt der Stei­ge­rung wählt. Das heißt, wie wir es dre­hen und wen­den, der Angrei­fer hat die Ober­ho­heit über den Wei­ter­gang des Krieges.

Des­sen sich bewusst zu sein oder zu wer­den, führt zu ver­zwei­fel­ten Reak­tio­nen: Zur Hyste­rie und einer krank­haf­ten Reak­ti­on, die zwei Jah­re lang, unter­stützt von Kriegs­bräu­ten und Kriegs­her­ren des Westens, Ober­hand zu gewin­nen such­te. Trans­at­lan­ti­sche Den­ker und Stra­te­gen haben lan­ge die­se kon­flikt­rei­chen Situa­tio­nen vor­aus­ge­dacht und Pla­nun­gen ange­stellt, auf wel­che Art und Wei­se die »west­li­che« Welt ihre domi­nan­te Rol­le unter Füh­rung der Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Ame­ri­ka sichern oder gar aus­bau­en kann. Doch ist das unmög­lich. Nicht nur Biden scheint in lich­ten Momen­ten zu begrei­fen, was die New York Times schon im ersten Jahr des Kriegs kol­por­tiert hat, dass mit Putin auch ein Atom­schlag »kal­ku­liert« wer­den müs­se. In sei­ne Rede zur Lage der rus­si­schen Nati­on leg­te Putin die­sen Gedan­ken kürz­lich erneut dar, der zwar eine psy­cho­lo­gi­sche Kom­po­nen­te hat, indem er Angst erzeugt, gleich­wohl ratio­nal ernst zu neh­men ist. Die­sen Gedan­ken aus­zu­blen­den wie die Kie­se­wet­ter-Strack-Zim­mer­mann-Hof­rei­ter-Frak­ti­on und gro­ße Tei­le trans­at­lan­ti­scher »Sicher­heits­exper­ten«, offen­bart eine psy­chisch-poli­ti­sche Stö­rung, die auf­grund man­geln­der Erzie­hung zum Frie­den aus­bricht und »Sicher­heit« durch Kriegs­an­trei­ben errei­chen will, wo doch »sowie­so« Krie­ge mit Ver­hand­lun­gen enden, wie sie selbst sagen.

Des­halb sind auch die For­de­run­gen des Pap­stes, Krie­ge durch Ver­han­deln mög­lichst schnell zu been­den, um dadurch vie­le wei­te­re Tote zu ver­hin­dern, im Kern rich­tig. Statt­des­sen auch hier Mecha­nis­men der Abwehr die­ses auf Waf­fen­still­stand und Frie­dens­her­stel­lung gerich­te­ten Gedan­kens. Sogleich wer­den ihm Nazi-Ver­glei­che ent­ge­gen­ge­schleu­dert (Außen­mi­ni­ster der Ukrai­ne, Kule­ba), eine Ver­dre­hung des Begriffs, der gebraucht wird, um jede Kri­tik schon im Keim zu ersticken. Marie-Agnes Strack-Zim­mer­mann (FDP) »schämt sich als Katho­li­kin«¸ Kat­rin Göring-Eckardt (Grü­ne) glaubt, der Papst akzep­tie­re »die Aus­lö­schung der Ukrai­ne«, und Rode­rich Kie­se­wet­ter ver­un­glimpft, indem er behaup­tet – wider bes­se­res Wis­sen –, »das Ober­haupt der katho­li­schen Kir­che« stel­le »sich auf die Sei­te des Aggres­sors«. Was nur als mut­wil­li­ge, gei­sti­ge Ver­wir­rung in der Bevöl­ke­rung säen­de Fehl­in­ter­pre­ta­tio­nen zu bewer­ten ist. Denn wäh­rend der Papst Ver­hand­lun­gen durch Waf­fen­still­stand vor­schlägt, for­dern jene, erst dann zu ver­han­deln, wenn Putin sich aus der Ukrai­ne zurück­ge­zo­gen hat. »Ver­han­deln« aber bedeu­tet, »um etwas ver­han­deln«, »sich eini­gen«. Da ein Atom­schlag nicht zu berech­nen und ihm nichts ent­ge­gen­zu­set­zen ist, außer Ver­nich­tung, spricht aus dem Kir­chen­ober­haupt Ver­nunft und Weitsicht.

Erin­ner­te sich »der Westen« an Putins Auf­tritt auf der Münch­ner Sicher­heits­kon­fe­renz im Jahr 2007 zurück, dürf­te er erken­nen, wor­in die Sicher­heits-Ansprü­che des rus­si­schen Prä­si­den­ten bestehen und dass er sol­che geo­stra­te­gi­schen Inter­es­sen mit vie­len Regie­run­gen in der Welt teilt. Dass der »Westen« damals nicht über sei­ne For­de­run­gen ver­han­delt hat, ist ein schwe­rer histo­ri­scher Feh­ler, von denen es eini­ge gibt. Putin mag beson­de­re Macht­ge­lü­ste haben, Men­schen­wür­de miss­ach­ten, Oppo­si­ti­on aus­schal­ten, Geg­ner bis zum Tode drang­sa­lie­ren, ein Rück­zug aus der Ukrai­ne ist nicht zu erwar­ten. Wo der Macht­ge­dan­ke zum Äußer­sten gebracht, Eska­la­ti­on zum letz­ten Mit­tel der Wahl wer­den kann, Waf­fen­ru­he aber nur zu errei­chen ist mit Ratio­na­li­tät und Ver­nunft, da bleibt nur die Losung: »Sofor­ti­ger Waf­fen­still­stand und Ver­hand­lun­gen«. Dafür kon­kre­te Vor­stel­lun­gen, Stra­te­gien und diplo­ma­ti­sche Fähig­kei­ten zu haben, ist es höch­ste Zeit! Die Zer­stö­rung Euro­pas ist kei­ne Alternative!