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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Wer guckt hier wen?

»Heut­zu­ta­ge noch fern­zu­se­hen, das klingt so pas­siv, unge­sund und erbärm­lich, als wür­de man sich von Fer­tig­ge­rich­ten ernäh­ren«, kon­sta­tiert Jochen Schmidt in sei­nem neue­sten Buch. Es ent­hält Kolum­nen über das Fern­se­hen, ist Abschied von einem Medi­um und Aus­blick auf ein Dut­zend neue. Was das Fern­se­hen ein­mal war, belegt der Autor mit einer Anek­do­te: Für sei­nen ersten TV-Auf­tritt fei­er­ten ihn die Eltern so, wie er es sich von sei­nen zuvor ver­öf­fent­lich­ten Büchern ver­ge­bens erhofft hat­te. Ein­mal »im Fern­se­hen« war der Mensch unan­fecht­bar bedeut­sam. Für den Ost­ber­li­ner Schmidt hät­te die­sen Tri­umph auch das DDR-Fern­se­hen bereit­ge­hal­ten. Geguckt wur­de es aller­dings sel­ten, dazu war die Alter­na­ti­ve zu mäch­tig: »Ohne West­fern­se­hen wäre die DDR kaum erträg­lich gewe­sen und sicher frü­her zusam­men­ge­bro­chen.« Nicht weni­ger system­re­le­vant, ist anzu­mer­ken, war es für die BRD, erschuf doch Hel­mut Kohl mit sei­nem aller­er­sten Gesetz das Pri­vat-TV, das den Wider­stand gegen die nach­fol­gen­den Pri­va­ti­sie­rungs­wel­len und ihre sozia­len Fol­gen sedie­ren half.

Für Schmidt wie für vie­le sei­ner X-Gene­ra­ti­ons­kol­le­gen war Fern­se­hen mehr als nur domi­nant im All­tag. Es war der All­tag. Wie einer sich ent­wickel­te, war eine Begleit­erschei­nung der media­len Ent­wick­lung. Das jah­re­lan­ge Feh­len einer Fern­be­die­nung sieht Schmidt, heu­te Kicker in der Autoren­na­tio­nal­mann­schaft, als Ursa­che für sei­ne Sport­lich­keit, muss­te er zum Zap­pen doch jedes­mal auf­ste­hen und durchs Wohn­zim­mer lau­fen. Die Mira­co­li-Wer­bung setz­te den Maß­stab dafür, wie selbst­ge­koch­tes Essen bei der Fami­lie ankam. Umge­kehrt hel­fen dem pas­sio­nier­ten Fami­li­en­men­schen Schmidt heu­te nur GNTM und ähn­li­che For­ma­te bei dem Ver­such, sei­ne Teen­ager-Toch­ter zu ver­ste­hen. Dass Fern­se­hen und Leben in Wahr­heit Syn­ony­me sind, zeig­te sich wäh­rend der Covid-Pan­de­mie, als Video­calls die Rol­len­ver­tei­lung der lebens­fer­nen Insti­tu­ti­on Schu­le auf­bra­chen. Jahr­zehn­te vor­her ent­wickel­te Schü­ler Schmidt sei­ne Krea­ti­vi­tät zu glei­chen Tei­len fern­se­hend und, wenn dar­an ver­hin­dert, sich den lesens­wer­te­sten Blöd­sinn aus­den­kend. Die Schu­le ver­mit­tel­te ihm nur das ihr Eige­ne: Langeweile.

Wie All­tag und Fern­se­hen, das Leben und sei­ne Dar­stel­lung zusam­men­hän­gen, nimmt der Autor nicht nur wahr, son­dern zum Anlass weit aus­grei­fen­der, rou­ti­niert über­ra­schen­der Betrach­tun­gen. Kei­nes­wegs ent­geht ihm, dass auch vor den TV-Kame­ras ech­tes Leben statt­fin­det, in das er sich wie folgt ein­fühlt: »Wenn die Leu­te im Fern­se­hen uns beim Fern­se­hen beob­ach­ten könn­ten, wür­den sie sich wie die Tie­re im Zoo füh­len, die uns ja auch dabei beob­ach­ten, wie wir auf ihr Ver­hal­ten reagie­ren.« Vom Inhalt der Sen­dun­gen scheint Zuschau­er Schmidt, je älter er wird, desto syste­ma­ti­scher abzu­schwei­fen hin zu dem Gewinn, der sich vom gemein­sa­men Gucken in der Bezie­hung, in der Fami­lie und ande­ren Kol­lek­ti­ven erzie­len lässt. Selbst ein Fuß­ball­spiel, ver­rät er, inter­es­siert ihn mitt­ler­wei­le weni­ger als die antike­fä­hi­gen Dra­men zwi­schen den betei­lig­ten Spie­lern oder die­je­ni­gen zwi­schen Fami­li­en­mit­glie­dern unter­schied­li­chen Alters, die unter­schied­lich lan­ge auf­blei­ben und fern­se­hen dür­fen. Schieds­rich­ter gibt es da immer zwei, Schmidt und sei­ne Freun­din, die von einer gemein­sa­men Linie wei­ter ent­fernt sind als die FIFA von der Defi­ni­ti­on des straf­ba­ren Hand­spiels. Wer aller­dings ver­mu­tet, das Fern­se­hen gel­te dem Autor als Bezie­hungs­kil­ler, erfährt ver­blüfft: »Mei­ne Eltern haben sich nie getrennt, sie hat­ten ja getrenn­te Fernseher.«

In sei­nem Roman »Phlox« hat­te Jochen Schmidt unlängst eine Feri­en­idyl­le geschil­dert, wie sie fern­seh­fer­ner nicht denk­bar ist. Eine jun­ge Fami­lie macht dort Urlaub, wo der Vater als Kind die Feri­en ver­brach­te, taucht ein in eine anar­chi­sche Gegen­ge­sell­schaft aus Gestran­de­ten des hava­rier­ten Traum­schiffs DDR. Ist Fern­se­hen für Schmidt dann nur eins die­ser Auf­trags­the­men, die Schrift­stel­ler heu­te behan­deln müs­sen, weil das aktu­el­le Zei­tungs­ho­no­rar oder Sti­pen­di­um es von ihnen ver­langt? Wer »Phlox« gele­sen hat, weiß es bes­ser, und zwar von einer der schrul­lig­sten Figu­ren. »Tan­te Vie­chen war eigent­lich immer empört und erleich­tert, wenn sie einen Grund dafür fand.« Einen Geg­ner hat sie dabei immer im Visier: »Wenn sie gera­de kei­nen Grund zur Empö­rung fand, sag­te sie: ›Der Fern­se­her ist so ein Störenfried‹.«

Übri­gens besitzt Jochen Schmidt gar kei­nen Fern­se­her. Schmidts schau­en auf einem Com­pu­ter­bild­schirm, was impli­ziert: You­tube, Net­flix und Co. sind feste Pro­gramm­be­stand­tei­le. Die Ästhe­tik ent­wickelt sich par­al­lel, zap­pelt auf Zeit­hö­he, sodass der Autor schon in sei­nem Dia­log­band »Paar­ge­sprä­che« den Kol­le­gen Brecht fra­gen lässt: »Aber wie machen die das, dass man immer wei­ter­gucken will? Im Thea­ter wären die Zuschau­er längst ein­ge­schla­fen.« Wie Schmidt es anstellt, bleibt sein Geheim­nis, aber man will sei­ne Bücher defi­ni­tiv immer weiterlesen.

Jochen Schmidt, Zu Hau­se an den Bild­schir­men. Schmidt sieht fern, Ver­lag C.H.Beck 2023, 287 S., 24 €.