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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Postdemokratie

Geor­ge Orwell (»1984«) wür­de sich ange­sichts der heu­ti­gen post­de­mo­kra­ti­schen Zustän­de bit­ter bestä­tigt sehen. Sei­ne Visi­on eines tota­li­tä­ren Über­wa­chungs­staa­tes wird noch über­trof­fen durch die aktu­el­len Ver­hält­nis­se, die der ame­ri­ka­ni­sche Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Shel­don Wolin cha­rak­te­ri­siert hat als einen »umge­kehr­ten Tota­li­ta­ris­mus« (inver­ted totalitarianism).

Zu den Bild­schir­men bei Orwell, mit denen »Big Brot­her« alles über­wach­te, also zu den heu­ti­gen TV-Glot­zen, vor denen die Leu­te denk­be­treut auf ihren Sofas sediert wer­den, kom­men heu­te die Smart­phones hin­zu, das Inter­net in jeder Hosen­ta­sche. Es braucht weni­ger einen offe­nen Über­wa­chungs­ter­ror; es läuft auf eine (»inver­ted«) ver­in­ner­lich­te Demo­kra­tur, eine neu­er­dings KI-gestütz­te Selbst­gleich­schal­tung durch Mas­sen­ma­ni­pu­la­ti­on hin­aus. Mei­nungs­um­fra­gen bewir­ken selbst­re­fe­ren­zi­ell die Bestä­ti­gung der Mani­pu­la­ti­on wie in einer gro­ßen Echokammer.

Die EU und die deut­sche Bun­des­re­gie­rung über­schla­gen sich gera­de­zu mit Geset­zen, Ver­ord­nun­gen, Ver­hal­tens­ko­di­zes gegen »Des­in­for­ma­ti­on«, »Fake news«, »Hass­kri­mi­na­li­tät« usw. Selbst­ver­ständ­lich gibt es das alles durch inten­si­ve Akti­vi­tä­ten von Rechts­ra­di­ka­len oder son­sti­gen, auch rus­si­schen, »Trol­len«, die in den unend­li­chen Sphä­ren des Inter­nets und der »sozia­len«(?) Netz­wer­ke unter­wegs sind. Nur sind die chro­nisch hin­ter­her­lau­fen­den staat­li­chen oder staat­lich geför­der­ten Zensur-»Maßnahmen« zwei­schnei­dig und vor allem einseitig.

Was »Gedan­ken­ver­bre­chen« nach Geor­ge Orwell waren, tritt offen und kaum ein­zu­däm­men im Inter­net zuta­ge. Was »wahr« ist oder nicht, wol­len jetzt der Super­staat bestim­men sowie die Mei­nungs­fa­bri­ken der TV-Anstal­ten und Medi­en­kon­zer­ne, die sich »zu einem Kar­tell zusam­men­schlie­ßen und dar­aus ein Wahr­heits­mi­ni­ste­ri­um machen, ohne den Staat zu bemü­hen« (so Micha­el Mey­en im Nach­rich­ten­ma­ga­zin Hin­ter­grund, 1+2, 2024).

Hier glei­chen sich west­lich-pri­vat­ka­pi­ta­li­sti­sche, als »demo­kra­tisch« eti­ket­tier­te For­men der Über­wa­chungs­staa­ten, und staatskapitalistisch-»autokratische« (z. B. Chi­na) offen­bar immer mehr an.

Zahl­rei­che, vom Staat, von Unter­neh­mens­ver­bän­den und Medi­en­kon­zer­nen finan­zier­te Think-tanks, Stif­tun­gen und Insti­tu­te wie die »Stif­tung Wis­sen­schaft und Poli­tik«, »Ber­tels­mann-Stif­tung«, »Neue sozia­le Markt­wirt­schaft«, »Zen­trum libe­ra­le Moder­ne«, »Cor­rek­tiv« bis hin zur »Bil­dungs­stät­te Anne Frank« sowie mono­pol­ar­ti­ge Medi­en ver­brei­ten die gewünsch­ten Narrative.

Bei­spiels­wei­se die Ren­ten­lü­gen mit denen nach der geschei­ter­ten Rie­ster-Hype (»Eigen­vor­sor­ge« auf Kosten der Arbei­ten­den für den Pro­fit der Unter­neh­men) jetzt die schul­den­fi­nan­zier­te »Akti­en­ren­te« pro­pa­giert wird, von der ledig­lich das Finanz­ca­si­no pro­fi­tiert, wäh­rend die Alters­ar­mut steigt und die Pri­vi­le­gi­en der Bes­ser­ver­die­nen­den (z. B. Bei­trags­be­mes­sungs­gren­ze«) und Extra-Pen­sio­nier­ten unan­ge­ta­stet bleiben.

Oder zum Ukrai­ne-Krieg: Mil­li­ar­den über Mil­li­ar­den wer­den in einen illu­so­ri­schen Sieg der Ukrai­ne »inve­stiert«. Statt Russ­land ist die Ukrai­ne im von den USA ange­zet­tel­ten Stell­ver­tre­ter­krieg rui­niert. Deutsch­land soll »kriegs­tüch­tig« wer­den, man will »den Krieg nach Russ­land tra­gen«. Man pre­digt Eska­la­ti­on bis an die Schwel­le des Atom­krie­ges. Ein Bei­spiel für Orwell­schen Neu­sprech (»Krieg ist Frie­den«) sind die »Frie­dens­kund­ge­bun­gen« der Ukrai­ne-Unter­stüt­zer, auf denen für Waf­fen­lie­fe­run­gen und einen »End­sieg« der Ukrai­ne demon­striert sowie Kom­pro­mis­se abge­lehnt wer­den – »mit Putin kann man nicht verhandeln«.

Oder zum Nah-Ost-Kon­flikt: Jede Kri­tik am rechts­na­tio­na­li­sti­schen, ras­si­sti­schen Zio­nis­mus Isra­els, am Ver­nich­tungs­krieg in Gaza, am Sied­ler­ter­ro­ris­mus im West­jor­dan­land wird offi­zi­ell als Anti­se­mi­tis­mus, als »isra­el-bezo­ge­ner Anti­se­mi­tis­mus« denun­ziert. Bei­spie­le ent­spre­chen­der Des­in­for­ma­ti­on fol­gen am Schluss die­ses Artikels.

Wem gehört »unse­re Demo­kra­tie«? Ist es über­haupt noch eine? Es ist – wie oben beleuch­tet – eine Demo­kra­tur des Kapi­tals, der Rei­chen. Die von Cor­rek­tiv aus­ge­lö­ste Mas­sen­be­we­gung zur Ver­tei­di­gung »unse­rer Demo­kra­tie« gegen die AfD kann – so hart es klingt – als spek­ta­ku­lä­res Bei­spiel für »umge­kehr­ten (gewen­de­ten) Tota­li­ta­ris­mus« betrach­tet wer­den. Sicher ist es zu begrü­ßen, wenn Hun­dert­tau­sen­de in vie­len Städ­ten gegen Aus­län­der­het­ze und die AfD, für Soli­da­ri­tät und Zusam­men­halt demon­strie­ren. Sie demon­strie­ren aber aus­ge­rech­net gemein­sam mit, zum gro­ßen Teil unter Initia­ti­ve und Lei­tung der »staats­tra­gen­den« Par­tei­en, die für Rüstungs­wahn, Kriegs­vor­be­rei­tung, Sozi­al­ab­bau und migran­ten­feind­li­che Poli­tik ver­ant­wort­lich sind – also für alles, was man unter »rechts« ver­ste­hen muss. Es braucht gar kei­ne AfD, wenn u. a. Kanz­ler Scholz »Abschie­bun­gen im gro­ßen Stil« for­dert und Mini­ste­rin Faeser ein Geset­zes­pa­ket mit einer Rück­füh­rungs­of­fen­si­ve« vor­legt, was gera­de­zu nach dem ins Deut­sche über­setz­ten Un-Wort »Remi­gra­ti­on« klingt.

Migra­ti­on ist ein unlös­ba­res Pro­blem so lan­ge impe­ria­li­sti­sche Krie­ge, Ver­wü­stun­gen und Umwelt­zer­stö­run­gen per­ma­nent Mil­lio­nen Men­schen in die Flucht trei­ben. Es ist daher ein Dau­er­the­ma, mit dem von nahe­zu allen Par­tei­en popu­li­sti­sche Poli­tik und Pro­pa­gan­da betrie­ben wird und sich das gesam­te Spek­trum wei­ter nach rechts verschiebt.

Bei­spie­le für Des­in­for­ma­ti­on zur israe­li­schen Politik:

1) Aus der »Argu­men­ta­ti­ons­hil­fe zum Anti­se­mi­tis­mus im Netz« der »Bil­dungs­stät­te Anne Frank«, hier zum The­ma »Isra­el ist ein Apart­heid­staat«: »Die Grün­dung des jüdi­schen Staa­tes wird zu einem ras­si­sti­schen und kolo­nia­len Unter­fan­gen ver­klärt, des­sen Ziel die Ver­drän­gung der Palästinenser*innen gewe­sen sei. (…) Der Vor­wurf, Isra­el sei ein ras­si­sti­scher (Siedler-)Kolonialstaat (…) ist (…) ein popu­lä­res Mit­tel des israel­be­zo­ge­nen Anti­se­mi­tis­mus.« Und dann folgt als unver­fro­re­ne Des­in­for­ma­ti­on auf die Fra­ge: »Was kann ich dem ent­geg­nen? – »Anders als in Süd­afri­ka unter dem Apart­heid-Regime sind in Isra­el alle Staatsbürger*innen recht­lich gleichgestellt.«

Dar­aus kann man nur schlie­ßen, dass Palä­sti­nen­ser gar kei­ne Staats­bür­ger sind, schon gar nicht in der West­bank oder in Gaza. Sie sind laut dem israe­li­schen Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster Gallant viel­mehr »mensch­li­che Tie­re«, die man ver­nich­ten muss.

2) Aus einem Inter­view mit dem »Anti­se­mi­tis­mus­be­auf­trag­ten« der Bun­des­re­gie­rung, Felix Klein (Darm­städ­ter Echo vom 01.03.24): »Mit dem Begriff der Apart­heid (…) soll Isra­el, ent­ge­gen den Fak­ten, dämo­ni­siert (…) und dele­gi­ti­miert wer­den. (…) Ein Groß­teil der palä­sti­nen­si­schen Bevöl­ke­rung lebt unter Selbst­ver­wal­tung. Dass zum Bei­spiel sepa­ra­te Stra­ßen für Israe­lis und Palä­sti­nen­ser im West­jor­dan­land bestehen, dazu hat Isra­el völ­ker­recht­lich als Besat­zungs­macht das Recht.« Und, so Klein wei­ter: »So schräg es klingt, aber Anti­se­mi­tis­mus kann auch von Jüdin­nen und Juden ver­brei­tet werden.«

Womit klar sein dürf­te, dass natür­lich jede Kri­tik am rechts­na­tio­na­li­sti­schen Zio­nis­mus und an der aktu­ell geno­zi­dal gestei­ger­ten Poli­tik Isra­els »anti­se­mi­tisch« ist.