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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Dialog über Sinn und Unsinn

Ist der Irr­sinn kapi­ta­li­sti­scher Öko­no­mie in unse­rer Gegen­wart nun erklär­bar – oder aber eher nicht? Ernst­haf­te Aus­ein­an­der­set­zun­gen zwi­schen Theo­re­ti­kern der mar­xi­stisch ori­en­tier­ten Lin­ken sind mitt­ler­wei­le eher sel­ten gewor­den. Immer­hin erschien kürz­lich ein Buch, in dem es unter ande­rem um genau die­ses The­ma ging. Tat­säch­lich han­delt es sich um ein mehr­tei­li­ges Streit­ge­spräch über den Sinn oder Unsinn poli­ti­scher Öko­no­mie ins­ge­samt – ein inter­es­san­tes Buch, zumal die Autoren eine sehr unter­schied­li­che Bio­gra­fie aufweisen.

Klaus Mül­ler (*1944) pro­mo­vier­te in der DDR, hat­te bis 1991 eine Pro­fes­sur für Wirt­schafts­wis­sen­schaft an der Tech­ni­schen Hoch­schu­le Karl-Marx-Stadt und ver­öf­fent­lich­te danach meh­re­re Bücher über mar­xi­sti­sche Öko­no­mie. Sein Kon­tra­hent Knut Hül­ler (*1953) hat hin­ge­gen eine aus­ge­spro­chen west­lin­ke Sozia­li­sa­ti­on: Schul­bil­dung zeit­gleich mit Auf­stieg und Nie­der­gang der 68er-Bewe­gung, Stu­di­um der Phy­sik, wis­sen­schaft­li­che Arbeit in einem Che­mie­in­sti­tut, aus nega­ti­ven Erfah­run­gen mit bun­des­deut­schen Wirt­schafts­un­ter­neh­men resul­tie­ren­des Enga­ge­ment in der wert­kri­ti­schen Bewe­gung. Hül­ler ist Autor meh­re­rer Theo­rie­bei­trä­ge, die in den letz­ten Jah­ren in ver­schie­de­nen Zeit­schrif­ten erschienen.

Die Debat­te zwi­schen bei­den Autoren begann mit einer Rezen­si­on: Mül­ler hat­te 2019 im Papy­Ros­sa Ver­lag ein Buch mit dem Titel »Auf Abwe­gen. Von der Kunst der Öko­no­men sich selbst zu täu­schen« ver­öf­fent­licht. Hül­ler ver­fass­te für die Zeit­schrift Exit! eine sehr kri­ti­sche Bespre­chung des Wer­kes. Mül­ler wider­sprach die­ser Kri­tik und Hül­ler wider­sprach dem Wider­spruch. Das Ergeb­nis war ein län­ge­rer Streit, der nun in Buch­form doku­men­tiert ist. Der Fair­ness hal­ber sei an die­ser Stel­le ange­merkt, dass der Autor die­ser Zei­len zwar eben­falls ost­deutsch sozia­li­siert ist und unter ande­rem ein Stu­di­um der Öko­no­mie absol­vier­te – mei­ne Sicht sich aber hef­tig von der Sicht Klaus Mül­lers unter­schei­det. Wor­in besteht nun der Dis­sens zwi­schen bei­den Autoren? Weit­ge­hend einig sind sie sich offen­bar über den der­zei­ti­gen Ver­fall der klas­si­schen bür­ger­li­chen Wirtschaftswissenschaft.

Wie Hül­ler ganz am Anfang des Ban­des schreibt, sei sein Kon­tra­hent bestrebt, die von ihm durch­aus zu Recht kri­ti­sier­te poli­ti­sche Öko­no­mie des kapi­ta­li­sti­schen Systems durch eine »bes­se­re Öko­no­mie« zu erset­zen – indem man Karl Marx als Kri­ti­ker eben die­ser poli­ti­schen Öko­no­mie in die­se mit ein­baue. Das Ergeb­nis einer sol­chen Ein­bin­dung wür­de aber die Gene­ral­kri­tik des »posi­tiv-wis­sen­schaft­lich gar nicht fass­ba­ren Irrsinn(s)« poli­ti­scher Öko­no­mie auf eines von vie­len »alter­na­ti­ven posi­ti­ven Model­len“ redu­zie­ren. Und die Suche nach einem funk­tio­nie­ren­den Modell las­se dann völ­lig aus dem Blick gera­ten, »wie das zu beschrei­ben­de Ori­gi­nal bereits ächzt und stöhnt«. Eine sol­che »ver­flach­te Kapi­ta­lis­mus­kri­tik« müs­se zudem »frü­her oder spä­ter zurück in bür­ger­li­ches Bewusst­sein« führen.

Mül­ler fühl­te sich offen­sicht­lich belei­digt und per­sön­lich ange­grif­fen und schrieb in sei­ner Replik, es gin­ge ihm dar­um, wie »das kom­ple­xe Gan­ze (bes­ser) erfasst wer­den« kön­ne. Dies schlie­ße »die not­we­ni­ge Kapi­ta­lis­mus­kri­tik ein«. Frei­lich sei die Rea­li­tät der­art kom­plex, dass »man sie mit einem Hieb gar nicht erfas­sen« könne.

Wie aus den wei­te­ren Aus­füh­run­gen der Kon­tra­hen­ten her­vor­geht, defi­niert Mül­ler das System des Kapi­ta­lis­mus im Wesent­li­chen immer noch als Aus­beu­tungs­ver­hält­nis, wel­ches dem Groß­teil der Bevöl­ke­rung ihren Anteil am erwirt­schaf­te­ten Gewinn vor­ent­hal­te. Für Hül­ler ist der auf dem »Basis­prin­zip Wachs­tum« beru­hen­de Kapi­ta­lis­mus hin­ge­gen pri­mär ein repres­si­ves System, wel­ches zwang­haft aus die­sem Wachs­tum resul­tie­ren­de Ver­tei­lungs­kämp­fe pro­du­zie­re. Und ein Wahn­sy­stem las­se sich nun mal nicht ratio­nal model­lie­ren. Wie er an ande­rer Stel­le schreibt, sei frü­hen Hoch­zi­vi­li­sa­tio­nen – die ganz gewiss kei­ne ega­li­tär struk­tu­rier­te Idyl­le waren – das »moder­ne Auf­rech­nen von allem und jedem beim Neh­men und Geben (…) weit­ge­hend fremd« gewe­sen. Logisch sei es dem­zu­fol­ge, das als poli­ti­sche Öko­no­mie bezeich­ne­te unsin­ni­ge gesell­schaft­li­che Leit­bild für immer loszuwerden.

Mül­ler warf sei­nem Kon­tra­hen­ten dar­auf­hin »phy­si­ka­li­sches Schmal­spur­den­ken« vor, nann­te ihn einen »öko­no­mi­schen Auto­di­dak­ten«, mein­te, die Wert­kri­tik wol­le »den Wert abschaf­fen«, da sie »sei­nen Inhalt, sei­ne Funk­ti­on im Kapi­ta­lis­mus« nicht begrei­fe. Das Wort »abschaf­fen« dürf­te sich aller­dings in kei­nen dies­be­züg­li­chen Schrif­ten erst­zu­neh­men­der Wert­kri­ti­ker nach­wei­sen las­sen. Mül­lers Argu­men­ta­ti­on bezeugt unfrei­wil­lig, dass er offen­sicht­lich außer­stan­de ist, über die Kate­go­rien kapi­ta­li­sti­schen Wirt­schaf­tens hinauszudenken.

Kri­tik am Kapi­ta­lis­mus wird als Fol­ge des zuneh­men­den ideo­lo­gi­schen Ver­falls der Lin­ken der­zeit haupt­säch­lich von rech­ter Sei­te geübt. Wobei der poli­ti­schen Rech­ten eine Grund­satz­kri­tik der poli­ti­schen Öko­no­mie des Kapi­ta­lis­mus völ­lig fremd ist – ihre Wunsch­vor­stel­lung ist viel­mehr eine Rück­kehr in die Pha­se des repres­siv-bar­ba­ri­schen Früh­ka­pi­ta­lis­mus, in der die Welt angeb­lich »noch in Ord­nung« war. Dass sich gesell­schaft­li­che Ent­wick­lun­gen nicht ein­fach so zurück­dre­hen las­sen, ent­zieht sich ihrer Vorstellungskraft.

Es stellt sich nun fol­gen­de Fra­ge: Ist die not­wen­di­ge Fol­ge eines sich der­zeit andeu­ten­den Zusam­men­bruchs kapi­ta­li­stisch domi­nier­ten Wirt­schaf­tens ein durch­ge­hen­der Absturz in Hun­ger und Bar­ba­rei? Die Ant­wort lau­tet: Nicht zwangs­läu­fig. Vie­le Erfin­dun­gen und zivi­li­sa­to­ri­sche Errun­gen­schaf­ten in der Geschich­te der Mensch­heit – wie bei­spiels­wei­se Acker­bau, Vieh­zucht, Metall­ur­gie, Male­rei, Musik, Dicht­kunst und die Schrift – datie­ren aus Zei­ten lan­ge vor dem frü­hen Kapi­ta­lis­mus. Und der etwa im 16./17. Jahr­hun­dert ent­stan­de­ne Früh­ka­pi­ta­lis­mus hat damals nicht etwa durch­gän­gig Wohl­stand und Kul­tur her­vor­ge­bracht, son­dern zunächst erst ein­mal eine Wel­le grau­si­ger Ver­ar­mung der euro­päi­schen Bevöl­ke­rungs­mehr­heit. Der Phi­lo­soph Robert Kurz (1942-2012) hat dies in sei­nem 1999 erschie­ne­nem »Schwarz­buch Kapi­ta­lis­mus« wie folgt auf den Punkt gebracht: »In der früh­mo­der­nen Epo­che vor der Indu­stria­li­sie­rung hat­te sich ganz Euro­pa in eine Dante’sche Höl­le der Ver­elen­dung verwandelt.«

Und zu den spä­te­ren »Errun­gen­schaf­ten« des ent­wickel­ten Kapi­ta­lis­mus zähl­ten dann unter ande­rem bewusst erzeug­te Hun­ger­ka­ta­stro­phen, Jah­re wäh­ren­de Stel­lungs­krie­ge unter Bom­ben- und Gra­nat­ha­gel, Mas­sen­mor­de an Wehr­lo­sen mit­tels Gift­ga­ses sowie die Ent­wick­lung und der Abwurf von Atom­bom­ben. Uns ste­hen offen­sicht­lich noch ganz böse Zei­ten bevor.

Klaus Müller/​Knut Hül­ler: Der Dia­log. Ein Gespräch über Sinn und Unsinn der poli­ti­schen Öko­no­mie, Man­gro­ven Ver­lag, Kas­sel 2023, 154 S., 18 €.