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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Der Ring des Nibelungen

Wag­ner nennt sei­nen »Ring des Nibe­lun­gen« das »Kunst­werk der Zukunft«. Vor­aus­schau­end hat er es ent­wor­fen. Nicht nur für ein eini­ges Deutsch­land, son­dern sogar für ein ein­heit­li­ches Euro­pa. In ihrer Insze­nie­rung gehen das Wag­ner-Inter­pre­ten-Duo Ste­fan Her­heim und Alex­an­der Mei­er-Dör­zen­bach genau auf die­se küh­nen Kern­ge­dan­ken zu. Was stel­len sie her­aus? Erstens, das neue Hel­den­tum. In Dres­den beginnt Wag­ner in der 1848er Revo­lu­ti­on mit »Sieg­fried«. In die­se mit­tel­al­ter­li­che Hel­den­ge­stalt pflanzt er eige­ne Maß­stä­be für indi­vi­du­el­le Frei­heit ein. Danach erscheint Sieg­fried als gan­zer Mensch »aus Kno­chen, Blut und Fleisch«, vol­ler Emp­fin­dun­gen, Lie­be und Schmerz. Wie alle ande­ren Prot­ago­ni­sten des Rings ist er immer auf der Flucht. Durch­drun­gen von unlös­ba­ren Wider­sprü­chen ver­kör­pert er nicht ein poli­ti­sches, son­dern ein ewi­ges Heldentum.

In die­ser Dar­stel­lung vari­iert Wag­ner die roman­ti­sche Idee König Lud­wigs I., der Gei­stes­hel­den aus der Natio­nal­ge­schich­te in sei­ner Wal­hal­la erst­mals zu höch­ster Ehre führ­te. Nach sei­ner Flucht in die Schweiz erwei­tert Wag­ner die­ses Kon­zept zum vier­tei­li­gen Musik­dra­ma. Aus dem revo­lu­tio­nä­ren »Völ­ker­früh­ling« woll­te er die gro­ße Oper radi­kal erneu­ern und mit über­mensch­li­chen Anstren­gun­gen »Muster­auf­füh­run­gen« in Bay­reuth schaf­fen, in denen Lite­ra­tur, Pan­to­mi­me, Kostü­me, Tech­nik und Büh­ne illu­sio­ni­stisch höch­ste Sinn­lich­keit aus­rei­zen. Die gan­ze Wirk­lich­keit mit sinn­voll­ster Täu­schung in Kunst zu ver­wan­deln, das war Wag­ners Cre­do. So hat er es bei der Eröff­nung sei­nes Fest­spiel­hau­ses mit dem »Ring des Nibe­lun­gen« 1876 in Bay­reuth vor­ge­tra­gen. Doch die­ser neu­en Kunst­form ent­ge­gen stand ein ent­schei­den­des Hin­der­nis: das alte bour­geoi­se Publi­kum. Es muss­te erst eine neue Gene­ra­ti­on her­an­wach­sen. Wohl auch des­we­gen zog sich die Arbeit an dem Gesamt­kunst­werk über zwan­zig Jah­re bis zur Pre­mie­re in Bay­reuth 1876 hin.

Zwei­tens wird von inne­rer Flucht erzählt, von »tran­szen­den­ta­ler Obdach­lo­sig­keit« (Georg Lukacs), in der wir uns, heu­te nicht min­der, wie­der­fin­den. Fra­gen danach, wohin wir gehen, sind gestellt. Ant­wort ist zuerst visua­li­siert im Büh­nen­bild gege­ben, bevor sie der Mythos mehr­schich­tig aus­dif­fe­ren­ziert. Da sind unüber­schau­bar vie­le Kof­fer. Wag­ner selbst ist gemeint. Die Tetra­lo­gie wur­de nach der Pre­mie­re in Euro­pa 135-mal gespielt. Fast 200 ver­schie­de­ne Städ­te berei­ste der Kom­po­nist, der am lieb­sten sein eige­ner Libret­tist war, sich immer auf der Flucht befand, ent­we­der exi­sten­zi­ell bedroht oder vir­tu­ell von einer Idee zur ande­ren eilend. Unzäh­li­ge Rei­sen­de, Frem­de, Flüch­ten­de, die die­se Kof­fer mit sich auf der Büh­ne her­um­schlep­pen, rücken die Aktua­li­tät die­ser Art Fluch­ten erschreckend nahe an uns her­an. Aus den Kof­fern schich­ten sich alle Kulis­sen auf. Hin­zu kommt der Flü­gel. Ist es der­je­ni­ge von John Cage, aus dem zeit­wei­se gar nichts erklingt? Aus dem Flü­gel stei­gen die mytho­lo­gi­schen Gestal­ten und Zau­ber­kunst­stücke her­aus. Auch die Stof­fe erlau­ben ein Wahr­träu­men von nie Erleb­tem. So erscheint Wal­hal­la als Fehl­stel­le zwi­schen Hoch­ge­birgs­gip­feln aus auf­ge­häng­ten Stoff­zip­feln, kri­stal­lin beleuch­tet, alles viel schö­ner als Neu­schwan­stein von Lud­wig II. Auch als Leben­des Bild erhebt sich der Olymp über Kof­fern in den Wol­ken mit den ver­sam­mel­ten Göt­tern Wotan, Freia, Fricka, Ham­mer, Froh und den Walküren.

Der Glanz, die Macht, das Gold, die Här­te der Mäch­ti­gen und schließ­lich der Abstieg der Göt­ter­herr­schaft wer­den in auf­zeh­ren­der Inten­si­tät vor­ge­führt. Wag­ner klei­det sie in den Mythos. Das Libret­to ver­rät es. Er redet nur über sich und sei­ne Zeit. Dafür nutzt er den Histo­ris­mus als Metho­de. Er durch­zieht seit Beginn des 19. Jahr­hun­derts alle Gat­tun­gen der Kün­ste. So begrei­fen wir nach der tota­len Ver­dam­mung des Schnell­laufs durch die Geschich­te mit Neu­go­tik, Neu­re­nais­sance, Neu­ba­rock und Neu­ro­ma­nik heu­te die­se Wie­der­auf­nah­men von Sti­len, Strö­mun­gen, Erschei­nun­gen ver­schie­den­ster Art aus ver­gan­ge­nen Epo­chen als ein wun­der­ba­res Kunst­mit­tel, mit dem so beweg­lich wie nie zuvor alles dem epi­schen Spiel anver­wan­delt wer­den konn­te, was den Künst­ler Richard Wag­ner bewegt hat. Geschich­ten, Sagen, Mythen wer­den von ihm wie ein Mosa­ik neu zusam­men­ge­setzt. Der schö­ne Held Sieg­fried ver­liert sei­ne Ehre durch Ehe­bruch und mora­li­sches Ver­sa­gen. Und Hagen, aus dem Nibe­lun­gen­lied her­aus­ge­stie­gen, durch­wan­dert die euro­päi­sche Gei­stes­ge­schich­te als cha­rak­ter­lo­ser Mör­der Sieg­frieds und wird von Wag­ner umge­deu­tet zum fast gerech­ten Rächer des gefal­len Göttersohnes.

Der gesam­te Zyklus des »Ring des Nibe­lun­gen« ist noch bis Janu­ar 2022 an der Deut­schen Oper Ber­lin zu sehen.