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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Der vergangene Aufstand

Vor 150 Jah­ren ende­te, was Fried­rich Engels als erste ver­wirk­lich­te Dik­ta­tur des Pro­le­ta­ri­ats bezeich­ne­te: Die Pari­ser Kom­mu­ne. Am 28. Mai wur­den auf dem Pari­ser Fried­hof Père Lachai­se die letz­ten 147 Kom­mu­nar­den erschos­sen, das Ende der »semaine san­glan­te«, einer blu­ti­gen, durch Mas­sen­exe­ku­tio­nen gepräg­ten Woche. An die 8000 Ver­tei­di­ger der Kom­mu­ne star­ben im Kampf oder durch Stand­ge­rich­te, mehr als 43.000 wur­den ver­haf­tet. Vier Jah­re tag­ten 24 Kriegs­ge­rich­te, um über 35.000 Män­ner, 800 Frau­en und 538 Kin­der zu urtei­len. Neben 2500 Frei­sprü­chen und 23.000 Ver­fah­rens­ein­stel­lun­gen gab es 93 Todes­ur­tei­le sowie 250 Ver­ur­tei­lun­gen zu Zwangs­ar­beit. Dazu kom­men 4500 Zucht­haus­stra­fen und 3000 in Abwe­sen­heit Ver­ur­teil­te, denen die Flucht gelun­gen war. 4400 wer­den nach Neu-Kale­do­ni­en ver­bannt, 1000 wer­den dort zusätz­lich zu ver­schärf­ter Festungs­haft ver­ur­teilt. Noch sechs Jah­re spä­ter wird nach den flüch­ti­gen Anfüh­rern der »fédé­rés« gefahndet.

Mit der Gefan­gen­nah­me von Napo­le­on III. bei Sedan im Sep­tem­ber 1870 war das zwei­te Kai­ser­reich been­det, es muss­te schnell eine Repu­blik her. Aber – da waren sich die bür­ger­li­chen Poli­ti­ker einig – es soll­te eine Repu­blik sein, die das Prin­zip »enri­chis­sez-vous«, wie schon unter dem Bür­ger­kö­nig Lou­is-Phil­ip­pe, wei­ter ermög­li­chen soll­te: die hem­mungs­lo­se Berei­che­rung durch Spe­ku­la­ti­on und bru­ta­le Aus­beu­tung der Arbei­ter in den Fabri­ken und Minen. Die am 4. Sep­tem­ber aus­ge­ru­fe­ne Drit­te Repu­blik woll­te zwar den Krieg fort­füh­ren, im Grun­de aber nur die im Kai­ser­reich erwor­be­nen Pfrün­de ret­ten. Im Febru­ar 1871 began­nen die Frie­dens­ver­hand­lun­gen mit Preußen.

Schon am 28. Janu­ar war ein Waf­fen­still­stand ver­ein­bart wor­den, der unter ande­rem vor­sah, dass die in Paris sta­tio­nier­ten fran­zö­si­schen Trup­pen ent­waff­net und deak­ti­viert wer­den. Die Pari­ser Natio­nal­gar­de blieb jedoch wei­ter aktiv, da ein beträcht­li­cher Teil gegen den Waf­fen­still­stand war und zuneh­mend revo­lu­tio­nä­re For­de­run­gen erhob. Die Situa­ti­on ver­schärf­te sich, als 60 bür­ger­li­che Batail­lo­ne der Gar­de die Stadt ver­lie­ßen und nun revo­lu­tio­nä­re Grup­pen das Sagen hat­ten. Wohl­ha­ben­de Bür­ger und Beam­te flüch­te­ten nach Ver­sailles, wo sich am 10. März die bür­ger­li­che Regie­rung unter Adol­phe Thiers nie­der­ge­las­sen hat­te. In Paris hat­ten sich sie­ben Tage zuvor 215 »batail­lons fédé­rés« zum repu­bli­ka­ni­schen Bund der Natio­nal­gar­de zusam­men­ge­schlos­sen, um ein Gegen­ge­wicht zur Regie­rung in Ver­sailles zu bil­den. Am 26. März wur­de in Paris der Gemein­de­rat neu gewählt. Die Kom­mu­ne ver­kün­de­te die all­ge­mei­ne Volks­be­waff­nung sowie den Kampf gegen die deut­schen Trup­pen und die Ver­sailler Regie­rungs­trup­pen. Gleich­zei­tig wur­den neue Geset­ze erlas­sen, die der brei­ten Bevöl­ke­rung zugu­te­kom­men soll­ten. So wur­den fäl­li­ge Mie­ten rück­wir­kend erlas­sen, ver­pfän­de­te Objek­te soll­ten an die Besit­zer zurück­ge­ge­ben wer­den. Unter­sagt wur­de die Nacht­ar­beit für Bäcker­ge­sel­len. All­ge­mein wur­de die Tren­nung von Kir­che und Staat beschlos­sen, Fabri­ken, deren Besit­zer nach Ver­sailles geflo­hen waren, wur­den in Gemein­ei­gen­tum über­führt. Kin­dern von gefal­le­nen Natio­nal­gar­di­sten wur­de eine Pen­si­on zuge­spro­chen. Auch Frau­en enga­gier­ten sich und tra­ten für ihre Rech­te ein. Die berühm­te­ste Kom­mu­nar­din war wohl die Leh­re­rin Loui­se Michel, die sich auch für den Tier­schutz enga­gier­te, damals eine Seltenheit.

Der gei­sti­ge Anfüh­rer der Kom­mu­ne, Lou­is-Augu­ste Blan­qui, war zwar wäh­rend der Ereig­nis­se selbst nicht in Paris, hat­te aber zahl­rei­che Anhän­ger. Der Jour­na­list und Schrift­stel­ler Jules Val­lés, der sogar ein Batail­lon der Kom­mu­ne anführ­te, konn­te kurz vor dem Ende der Kämp­fe ins Lon­do­ner Exil flüchten.

Für das eta­blier­te Bür­ger­tum war die Pari­ser Kom­mu­ne ein exi­stenz­be­dro­hen­der Alb­traum, der lan­ge nach­wirk­te. Das zeig­te sich nicht nur an der lan­ge wäh­ren­den gna­den­lo­sen Repres­si­on und Ver­fol­gung, son­dern auch an dem stein­ge­wor­de­nen Süh­ne­zei­chen, wel­ches in Gestalt eines monu­men­ta­len Sakral­baus im Arbei­ter­vier­tel Mont­mart­re errich­tet wur­de: Sacre Coeur. Die heu­ti­ge Tou­ri­sten­at­trak­ti­on war die reak­tio­nä­re Ant­wort auf den Ver­such der Kom­mu­ne, Kir­che und Staat zu tren­nen, und der erneu­te Treue­schwur Frank­reichs an die katho­li­sche Kir­che, als deren älte­ste Toch­ter, »la fil­le ainée«, man sich als gläu­bi­ger Fran­zo­se auch heu­te noch defi­niert. In der Fol­ge­zeit gab es nur noch sel­ten den Ver­such, eine sozia­li­sti­sche, auf basis­de­mo­kra­ti­schen Prin­zi­pi­en bestehen­de Gesell­schaft zu errich­ten. Dafür bedarf es einer über­schau­ba­ren Gemein­schaft von Bür­gern, die sich ken­nen und deren Lebens­um­stän­de sich ähneln. Auch die äuße­re Bedro­hung för­dert kol­lek­ti­ves Agie­ren. Im Paris des Jah­res 1871 war das gegeben.

In der Sowjet­uni­on benann­te man zwar einen fer­nen Glet­scher am Süd­pol nach der Pari­ser Kom­mu­ne und schick­te auch ein Relikt der Pari­ser Bar­ri­ka­den­kämp­fe ins Welt­all, aber schon in der Geburts­stun­de der bol­sche­wi­sti­schen Herr­schaft wur­den die revo­lu­tio­nä­ren Matro­sen von Kron­stadt eben­so bru­tal wie die Kom­mu­nar­den von Paris liqui­diert. 1936 gab es einen ähn­li­chen Ver­such wäh­rend des spa­ni­schen Bür­ger­krie­ges in Bar­ce­lo­na. Auch die­se Herr­schaft der Werk­tä­ti­gen nahm ein blu­ti­ges Ende, nicht nur durch die Erschie­ßungs­pe­lo­tons der Fran­quisten, auch durch sta­li­ni­sti­sche Liqui­da­to­ren. Emp­feh­lens­wert zu die­sem The­ma ist Hans Magnus Enzens­ber­gers »Der kur­ze Som­mer der Anar­chie« (1972).

Heu­te gibt es zwar das all­ge­mei­ne Wahl­recht, aber Anony­mi­tät und Indi­vi­dua­lis­mus erschwe­ren soli­da­ri­sches Han­deln. Mas­sen­kon­sum degra­diert den Bür­ger zum Kon­su­men­ten und Ver­brau­cher, in man­chen Län­dern gibt es nur noch zwei poli­ti­sche Par­tei­en, wel­che sich zudem kaum unter­schei­den. In Frank­reich ent­stand 2018 eine neue spon­ta­ne Bür­ger­be­we­gung, die sich als soli­da­risch und dezen­tral ver­stand und kei­ner poli­ti­schen Par­tei zuzu­ord­nen war: Les gilets jau­nes – die Gelb­we­sten. Zunächst war es der Pro­test gegen die Ben­zin­preis­er­hö­hung, der vor allem jene traf, die für die Fahrt zum Arbeits­platz auf das Auto ange­wie­sen waren. Spä­ter wur­den auch ande­re For­de­run­gen auf­ge­grif­fen, die Wut rich­te­te sich gegen den »Prä­si­dent der Rei­chen«, Macron, der die Anlie­gen der klei­nen Leu­te zu igno­rie­ren schien. Der Staats­ap­pa­rat reagier­te zuneh­mend repres­siv. Es gab bru­ta­le Poli­zei­ein­sät­ze, bei denen etli­che Gelb­we­sten schwer ver­letzt wur­den oder durch Gum­mi­ge­schos­se das Augen­licht ver­lo­ren. Ein neu­es Gesetz stellt es nun sogar unter Stra­fe, sol­che poli­zei­li­chen Über­grif­fe zu fil­men. Wäh­rend die bür­ger­li­che Pres­se der drit­ten Repu­blik die Kom­mu­nar­den als »Kri­mi­nel­le, Fana­ti­ker und Spitz­bu­ben« bezeich­net hat­ten, die Paris zum »Sam­mel­punkt der Per­ver­si­tä­ten der gan­zen Welt« machen wür­den, dif­fa­mier­te man die Gelb­we­sten als Rechts­ra­di­ka­le und Anti­se­mi­ten. Es ist daher wenig ver­wun­der­lich, dass das bür­ger­li­che Par­tei­en­sy­stem mit sei­nen Funk­tio­nä­ren und rei­chen Spon­so­ren immer häu­fi­ger zur Stimm­ent­hal­tung oder zu Pro­test­wah­len führt. Wenn man die heu­ti­gen medi­en­ge­steu­er­ten Wahl­kam­pa­gnen der bür­ger­li­chen Demo­kra­tien betrach­tet, erscheint der Auf­ruf des Zen­tral­ko­mi­tees der Pari­ser Kom­mu­ne vom 25. März 1871 zur Wahl wie ein fer­ner Traum:

Ver­gesst nicht, dass die­je­ni­gen Men­schen euch am besten die­nen wer­den, die ihr aus eurer eige­nen Mit­te wählt, die das glei­che Leben wie ihr füh­ren, und die die glei­chen Lei­den ertra­gen wie ihr.

Hütet euch vor Leu­ten, die zu viel reden, und ver­mei­det vom Schick­sal Begün­stig­te, denn sel­ten nur will der­je­ni­ge, der ein Ver­mö­gen besitzt, im Arbei­ten­den sei­nen Bru­der sehen.

Wählt eher die­je­ni­gen, die sich um eure Stim­me nicht bewer­ben. Der wah­re Ver­dienst ist beschei­den, und es ist die Sache der Wäh­ler, ihre Kan­di­da­ten zu ken­nen und nicht der Kan­di­da­ten, sich erst vorzustellen.