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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Spassibo!

Der Jah­res­tag fiel aufs Wochen­en­de. So konn­te zumin­dest in der Haupt­stadt an zwei Tagen gefei­ert und demon­striert wer­den. Bekannt­lich unter­zeich­ne­ten gegen Mit­ter­nacht am 8. Mai in Ber­lin-Karls­horst die ver­blie­be­nen Häupt­lin­ge des Reichs die bedin­gungs­lo­se Kapi­tu­la­ti­on, als in Mos­kau der Kalen­der bereits den 9. Mai 1945 zeig­te. So kommt es, dass an jenem Tag die Rus­sen tra­di­tio­nell den »Tag des Sie­ges« fei­ern, wäh­rend die Deut­schen – sofern sie die Geschich­te nicht ver­drängt oder ver­ges­sen haben – am 8. Mai den »Tag der Befrei­ung« bege­hen. Seit der Ver­schär­fung des neu­en Kal­ten Krie­ges kommt nun auch noch als drit­tes Datum der 7. Mai hin­zu: An jenem Tag streck­te im ame­ri­ka­nisch-bri­ti­schen Haupt­quar­tier im fran­zö­si­schen Reims die Wehr­macht die Waf­fen – was nach west­li­cher Les­art das Ende des Zwei­ten Welt­kriegs in Euro­pa bedeu­te­te. Die Haupt­macht der Anti­hit­ler­ko­ali­ti­on, die Sowjet­uni­on, bestand aller­dings dar­auf, dass in einem zere­mo­ni­el­len Akt in der deut­schen Haupt­stadt die deut­schen Ober­be­fehls­ha­ber kapi­tu­lier­ten. Vor den vier Sie­ger­mäch­ten. Schließ­lich hat­te man Hit­ler­deutsch­land auch gemein­sam niedergerungen.

Russ­land als Rechts­nach­fol­ger der Sowjet­uni­on wur­de suk­zes­si­ve aus die­ser Alli­anz hin­aus­ge­drängt, erst aus Deutsch­land, dann aus der Geschich­te. Erin­nert sei nur an die Errich­tung der Zwei­ten Front, als deren 75. Jah­res­tag 2019 in der Nor­man­die gefei­ert wur­de. Abge­se­hen davon, dass dies hier­zu­lan­de in völ­li­ger Ver­dre­hung der histo­ri­schen Wahr­heit zum Wen­de­punkt des Welt­krie­ges ver­klärt wur­de (der lag nach allen gesi­cher­ten Erkennt­nis­sen in Sta­lin­grad und hat­te sich andert­halb Jah­re zuvor ereig­net). Man hat­te es 2019 noch nicht ein­mal für nötig gehal­ten, Russ­land zum »D-Day« (»Der Tag, der die Wen­de brach­te«, Die Zeit vom 5. Juni 2019) einzuladen.

So über­rasch­te es denn kaum noch, als am Mor­gen des 8. Mai 2021 beim stil­len Geden­ken am sowje­ti­schen Ehren­mal in Ber­lin-Tier­gar­ten die Krän­ze der west­li­chen Bot­schaf­ten bereits aus­la­gen. Sie waren wohl bereits am Vor­tag dort­hin gebracht wor­den. Im Lau­fe des Sams­tags pil­ger­ten vie­le Men­schen auch nach Trep­tow, leg­ten Blu­men und Gebin­de nie­der und hiel­ten Trans­pa­ren­te hoch, auf denen in kyril­li­schen Let­tern zu lesen war: Spassi­bo, Dan­ke. Eine sol­che Auf­schrift schmück­te auch die Kro­ne der Volks­büh­ne am Ber­li­ner Luxem­burg­platz, hin­ge­gen sah man gegen­über an der Zen­tra­le der Links­par­tei, dem Karl-Lieb­knecht-Haus, der­glei­chen nicht.

Am Sonn­tag leg­ten tra­di­tio­nell die Bot­schaf­ter jener Staa­ten, die aus der UdSSR her­vor­ge­gan­gen waren, ihre Krän­ze in Trep­tow und in Tier­gar­ten nie­der. Die bal­ti­schen Staa­ten und auch die Ukrai­ne blie­ben wie gewohnt der Zere­mo­nie fern. Der Kie­wer Abge­sand­te, weni­ger Diplo­mat denn Scharf­ma­cher, erneu­er­te sei­ne For­de­rung an die deut­sche Adres­se, nicht nur sepa­rat der ukrai­ni­schen Opfer zu geden­ken, son­dern ihnen auch eine eigen­stän­di­ge Gedenk­stät­te zu errich­ten. Nun, Hit­lers Erobe­rungs- und Ver­nich­tungs­krieg rich­te­te sich gegen die Sowjet­uni­on als Gan­zes, die Rote Armee war eine Viel­völ­ker­ar­mee. Es wur­de nir­gend­wo Buch geführt, wie hoch der Anteil der ein­zel­nen Völ­ker­schaf­ten an den ver­mut­lich 27 Mil­lio­nen Sowjet­bür­gern war, die in der bei­spiel­lo­sen deut­schen Mord­or­gie ihr Leben verloren.

Bot­schaf­ter Mel­nik droh­te Mit­te April gar, falls die Nato nicht die Ukrai­ne auf­neh­me, müs­se sich Kiew eben sel­ber Atom­waf­fen beschaf­fen. »Ent­we­der sind wir Teil eines Bünd­nis­ses wie der NATO und tra­gen auch dazu bei, dass die­ses Euro­pa stär­ker wird«, so der ideo­lo­gi­sche Brand­stif­ter im Deutsch­land­funk, »oder wir haben eine ein­zi­ge Opti­on, dann selbst auf­zu­rü­sten«. Für den Ver­tre­ter eines Lan­des, das wirt­schaft­lich völ­lig am Boden liegt und am Tropf des Westens hängt, scheint dies reich­lich realitätsfern.

In Trep­tow gab’s an den bei­den Tagen ein Volks­fest mit viel Musik und Reden, mit Gesprä­chen und Begeg­nun­gen. Der Sän­ger einer rus­si­schen Com­bo trug ein sowje­ti­sches Flie­ger­lied von 1939 vor, um dar­auf auf­merk­sam zu machen, dass Till Lin­de­mann eben die­se Bal­la­de auf Rus­sisch mit Inbrunst und Pathos sin­ge. Zwei Video­clips des Ramm­stein-Vor­manns – mal in der Ere­mi­ta­ge, mal im Flie­ger – lau­fen seit Ende April auf You­Tube. »Любимый город« (»Lubi­miy Gorod«) heißt es, und das Lied ist aus einem Film über Michail P. Dewja­ta­jew, einem sowje­ti­schen Kampf­flie­ger. Der kriegs­ge­fan­ge­ne Leut­nant war im Febru­ar 1945 mit einer Hein­kel He 111 aus Pee­ne­mün­de geflo­hen. Seit 1970 ist der hoch­de­ko­rier­te Held Ehren­bür­ger von Wol­gast, und auf dem Gelän­de der ein­sti­gen Hee­res­ver­suchs­an­stalt erin­nert ein Gedenk­stein an ihn.

Die Rote Armee hat­te im Früh­jahr 1945 die rund sieb­zig Kilo­me­ter von der Oder bis nach Ber­lin unter gro­ßen Ver­lu­sten zurück­ge­legt, dort tob­ten die blu­tig­sten Kämp­fe auf deut­schem Boden im gesam­ten Krieg. Links und rechts der heu­ti­gen B 1 fin­den sich unzäh­li­ge Grab­stät­ten und Fried­hö­fe, Denk- und Ehren­ma­le. Wur­de auch dort an die­sem Tag an die Sol­da­ten erin­nert, die Euro­pa von Faschis­mus und Krieg befreit hat­ten und dafür ihr zumeist sehr jun­ges Leben hingaben?

In Mün­che­berg, auf hal­bem Wege, sehe ich sehr vie­le Blu­men und Gebin­de am Fuße des über­le­bens­gro­ßen Sowjet­sol­da­ten aus rotem Gra­nit. Vor einem unweit des Ron­del­ls mit dem Sowjet­stern und den Wap­pen der fünf­zehn Sowjet­re­pu­bli­ken ste­hen­den Grab­stein lie­gen beson­ders vie­le Nel­ken. Der vier­te der dar­in ein­ge­mei­ßel­ten Namen: »Unter­leut­nant Bel­ja­jew 1922 – 16.4.1945«. Kurz vorm Jah­res­tag ist die Per­so­na­lie geklärt wor­den. Sei­ne Ver­wand­ten in Russ­land hat­ten jahr­zehn­te­lang erfolg­los nach der letz­ten Ruhe­stät­te des 22-jäh­ri­gen Niko­lai geforscht, der »im Raum See­low« gefal­len sei, wie man ihnen mit­ge­teilt hat­te. Mit Hil­fe der seit 2005 exi­stie­ren­den deut­schen-rus­si­schen Freund­schafts­ge­sell­schaft »Drush­ba Glo­bal« war jetzt ermit­telt wor­den, dass Bel­ja­jew sich unter den 257 in Mün­che­berg bei­gesetz­ten Sowjet­sol­da­ten befindet.

Auch in See­low, der näch­sten Sta­ti­on, schmücken vie­le Gebin­de und Sträu­ße die Monu­men­tal­pla­stik von Lew Ker­bel – von dem auch der Marx-Kopf in Chem­nitz und das Thäl­mann-Denk­mal in Ber­lin stammt. Die Gedenk­stät­te See­lower Höhen ist an die­sem Tag stark fre­quen­tiert. Der freund­li­che Poli­zist, der die Fahr­zeu­ge ein­weist, sagt dazu nur: »Hof­fent­lich kom­men von euch nicht zu vie­le, denn dann haben wir ein Pro­blem.« Eine Frau hält einen Strauß, zusam­men­ge­hal­ten vom gestreif­ten Georgs­band, und zwei Bil­der in der Hand. Das ist mein Papa, sagt sie, der ande­re sein Kame­rad. Ihr Vater gehör­te zu den etwa eine Mil­li­on Sowjet­sol­da­ten, die hier im April vier Tage lang gegen 120.000 deut­sche Sol­da­ten anrann­ten und schließ­lich den Weg nach Ber­lin freimachten.

Ich ver­ste­he nicht, sagt die Frau, und der Mann an ihrer Sei­te mit der blau­en Kip­pa, die die ost­eu­ro­päi­schen Juden Jar­mul­ke nen­nen, bekräf­tigt mit Kopf­nicken: »Wie­so ver­su­chen jetzt natio­na­li­sti­sche Eife­rer uns nach­träg­lich zu spal­ten?« Es war eine Sowjet­ar­mee, und wenn es eine 1. und 2. Bel­o­rus­si­sche Front und eine 1. Ukrai­ni­sche Front gab, so bezeich­ne­te dies nicht deren eth­ni­sche Zusam­men­set­zung oder Her­kunft. In die­sen Ver­bän­den kämpf­ten Ange­hö­ri­ge aller Völ­ker der Sowjet­uni­on, der Anteil der Ukrai­ner in der 1. Ukrai­ni­schen Front lag nicht über dem Durchschnitt.

Die Frau spricht akzent­frei­es Deutsch, sie scheint schon sehr lan­ge hier zu leben. Ihr Unver­ständ­nis über die Ver­su­che, nach­träg­lich die Sowjet­ar­mee zu zer­le­gen, ist min­de­stens so groß wie der Unmut ihres Man­nes über die deut­sche Regie­rungs­po­li­tik gegen­über Russ­land und die Ver­wei­ge­rung, an den 80. Jah­res­tag des deut­schen Über­falls ange­mes­sen zu erin­nern. Der Mann sagt, das Ver­hält­nis Deutsch­lands zu den Juden und zum Staat der Juden spei­se sich aus der geschicht­li­chen Ver­ant­wor­tung. Das rus­si­sche Volk ver­die­ne in glei­cher Wei­se beach­tet und respek­tiert zu wer­den, egal, wer im Kreml regiert. Viel­leicht sei­en die Span­nun­gen ja doch nicht so poli­tisch moti­viert, wie vor­der­grün­dig behaup­tet, son­dern haben einen ganz ande­ren Ursprung, meint der Mann und legt die Blu­men nieder.

Viel­leicht hat sich Sta­lin ja geirrt. »Der jahr­hun­der­te­lan­ge Kampf der sla­wi­schen Völ­ker um ihre Exi­stenz und Unab­hän­gig­keit hat mit dem Sieg über die deut­schen Okku­pan­ten und die deut­sche Tyran­nei geen­det. Von nun an wird das gro­ße Ban­ner der Völ­ker­frei­heit und des Völ­ker­frie­dens über Euro­pa wehen«, hat­te er in sei­ner Anspra­che am 9. Mai 1945 erklärt. »Die Peri­ode des Krie­ges in Euro­pa ist zu Ende. Die Peri­ode der fried­li­chen Ent­wick­lung hat begonnen.«